Geschwisterkurse in Berlin: Großer Bruder mit Zertifikat
Ob man sie mag oder nicht: Keine Beziehung währt so lange wie die von Geschwistern. In Kursen können Kinder auf ihre neue Rolle vorbereitet werden.
Zu Weihnachten hat sie sich einen Bruder gewünscht, zu Ostern auch, aber erst zu ihrem Geburtstag, im Oktober, bekam Isabella einen Brief aus Mamas Bauch. Dass er sich freue, sie im April kennenzulernen, schrieb ihr Ben.
Seitdem übt Isabella, die acht Jahre alt ist, das Große-Schwester-Sein. Deshalb kniet sie an diesem Nachmittag mit weiteren werdenden Brüdern und Schwestern im St. Joseph Krankenhaus Tempelhof auf roten Matten.
Sie haben sich ihre schönsten Kleider und Schleifen angezogen und hören Alexandra Götz zu. Götz ist Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation, zweifache Mutter und Leiterin des Geschwisterkurses. Viele Berliner Krankenhäuser bieten solche speziellen Lehrgänge an: für erste Eltern, zukünftige Großeltern und Kinder wie Isabella, deren Alleinherrschaft daheim in wenigen Wochen zu Ende sein wird.
Das Ende der Alleinherrschaft
Über die Post aus dem Bauch war Isabella noch glücklicher als über das Fahrrad und das Playmobilhaus. Auch Jalina erzählt selig, dass sie ein Mädchen bekommt, und Jakob schwärmt von seiner Schwester, als würde er sie selbst zur Welt bringen. „Wir wollen sie Socke im Ofen nennen“. Jakob kippt vor Lachen rückwärts.
Aber wird das anhalten? Was geschieht, wenn den bisherigen Einzelkindern klar wird, dass die Zeit der uneingeschränkten Aufmerksamkeit vorbei ist? Dass der oder die Neue gekommen ist, um zu bleiben? Dass man das Baby nicht umtauschen kann, wie es sich so viele schockierte Neu-Geschwister wünschen?
Entthronungstrauma
In der Geschwisterforschung spricht man von „Entthronungstrauma“. Manch eine Schwester schnitt sich schon selbst die Haare oder balancierte auf dem Tisch, damit die Mutter den Eindringling schnell zur Seite legt.
Andere fangen an, wieder ins Bett zu machen oder wollen plötzlich getragen werden, obwohl sie schon seit Jahren laufen können. Sie regredieren.
Nicht immer sind die negativen Gefühle Eifersucht oder Rivalität. Oft vermissen die älteren Kinder einfach nur ihre Mutter, die nun weniger Zeit für sie hat, können das aber noch nicht formulieren.
Was könnt ihr, was das Baby nicht kann?
Isabellas Mutter und die anderen warten draußen. Was die Kinder hier lernen, soll bewusst nicht von ihren Eltern kommen. „Was könnt ihr, was das Baby nicht kann?“, fragt Alexandra Götz nun in die Runde auf den roten Matten. „Sprechen!“, ruft Isabella rein. „Das Baby“, erklärt Götz, „schreit nicht, um euch zu ärgern.“ Es kann es nur nicht besser.
So wie es auch nicht durch den Mund atmen kann, weshalb man ihm nie die Nase zuhalten darf. Es kann auch keine Chips essen, weshalb man ihm nichts zwischen die Lippen stecken darf. „Ihr konntet das auch nicht, als ihr klein wart“, sagt Götz. Die Kinder nicken. Das verstehen sie.
Feste Rituale, erklärt Alexandra Götz, könnten helfen, das Trauma zu überwinden. Ein Abend mit dem Vater allein, viel Zeit mit den Großeltern. „Der Kleine wird getragen, du darfst dafür länger wach bleiben“, sei auch ein hilfreicher Satz für das verunsicherte große Kind.
Kurz nach der Geburt empfehlen Experten, dass die Geschwister das Baby nicht zuerst im Arm der Mutter kennenlernen, sondern es vielleicht gemeinsam mit dem Vater von der Neugeborenenstation abholen. Viele Eltern beschenken das ältere Kind auch zur Geburt des jüngeren. Da bringt das Kleine aus dem Bauch einen Sticker mit, „großer Bruder“ oder ein Kuscheltier. Bestechend.
Alexandra Götz gibt den Kindern lieber Aufgaben. Verantwortung. Wenn es draußen kalt oder sehr sonnig ist, müsste das Baby eine Kopfbedeckung tragen. Mit Handschlag ernennt sie Isabella zur Mützenbeauftragten der Familie. „Du musst deine Mama erinnern!“
Das Baby kann manchmal ziemlich nerven
In der Forschung gilt das Geschwisterverhältnis als „die in der Regel am längsten währende, unaufkündbare, annährend egalitäre menschliche Beziehung“. Inzwischen weiß man, dass der Einfluss dieser Beziehung stärker sein kann als der der Eltern. Besonders negative Erfahrungen können einen ein Leben lang bedrücken. Auch deshalb ist Isabella hier.
Susann Sitzler schreibt in ihrem Buch „Geschwister: Die längste Beziehung des Lebens“: „Über Geschwister bestimmen Vater und Mutter, Kinder haben sich damit abzufinden.“ Viele Eltern bitten Alexandra Götz, die Nachteile des neuen Familienmitglieds anzusprechen. „Das Baby kann manchmal ziemlich nerven“, sagt sie dann. Oder: „Ganz schön gemein, dass es immer bei Mama schlafen darf.“
Forschungslabor für Liebe und Hass
Bei aller liebevollen Vorbereitung bleibt Streit unter Geschwistern unvermeidbar. Ungefragt verbringt man Jahre auf engstem Raum. Liebe und Hass, Verrat und Solidarität liegen nah beieinander. Der Familienforscher und Geschwisterexperte Hartmut Kasten nennt das Aufwachsen mit Brüdern und Schwestern eine „Spielwiese“, auf der sich soziale Kompetenzen ausprobieren lassen. Ein Forschungslabor, ein Testumfeld, ein Trainingslager. Man lernt sich zu vergleichen, zu messen, sich zu versöhnen. Und weil einen niemand so gut kennt wie die kleine Schwester, kann einen auch niemand so hart treffen. Sie verpetzt die erste Verliebtheit und klaut einem die Lieblingshaargummis. Schließlich ist die Beziehung noch lange nicht vorbei, nur weil man sich mal daneben benommen hat.
Streit, sagen die Psychologen, sei auch immer ein Test, um zu erfahren, auf wessen Seite die Eltern stehen. Die müssten dabei einsehen, dass sie ihre Kinder niemals gleich behandeln können.
Drei Jahre Altersunterschied gelten als optimal: Die größeren haben sich schon von der Mutter gelöst, beide interessieren sich noch genug füreinander, können gemeinsam spielen, aber auch eine Nische für sich allein entdecken.
Leon will nicht wickeln
Im Lauf des Lebens ändert sich das Geschwisterverhältnis. In der Pubertät empfindet man den anderen als störend oder peinlich, später konzentriert man sich auf die eigene Ausbildung, die eigene Familienplanung. Die meisten Geschwisterbeziehungen werden inniger, wenn die Sorge um die alternden Eltern wächst.
Alexandra Götz legt nun Puppen in ungeduldige Kinderarme. „Die sind so schwer wie echte Babys.“ Die Vier- bis Neunjährigen sollen üben, ihre Geschwister richtig zu halten, den Kopf zu stützen, die Fontanelle zu beachten.
Dann zeigt Götz, wie man richtig wickelt. Der fünfjährige Leon zieht geschickt die Klettverschlüsse über den Puppenhüften zusammen. Wie seine Schwester heißen wird? Hat er gerade vergessen. Collien vielleicht? Leon ist sich nicht sicher. Nur, dass er sie niemals wickeln wird, weiß er schon. „Das ist doch ekelig!“, ruft er.
Nach anderthalb Stunden Wickeln und Tragen und einem Besuch bei einem echten Neugeborenen überreicht Alexandra Götz Isabella und Leon eine Urkunde.
Sie sind jetzt zertifizierte große Schwestern und Brüder. Dass sie gute sind, müssen sie erst noch beweisen.
In vielen Berliner Krankenhäusern und Hebammenpraxen können die Kleinen heute lernen, die Großen zu sein:
St. Joseph: Wüsthoffstraße 15, dienstags, 15.30 bis 17 Uhr, nach Anmeldung unter: Tel. 78822738 (10 Euro),
DRK-Kliniken: diverse Termine online unter: www.drk-kliniken-berlin.de/westend/krankenhaus-westend/elternschule (17 Euro)
Mutter-Kind-Zentrum von Vivantes in Neukölln: nach Anmeldung unter: Tel. 130 14 38 41
Angebote von Hebammen unter: