Siegeszug des Baby-Tragens: Eine tragende Rolle
Tuch oder Gestell – wie soll ich mein Kind herumschleppen? An dieser Frage scheiden sich weltweit die Geister vieler Eltern. Ein kritischer Essay mit Servicetipps.
Unser Erstkontakt war vor knapp vier Jahren beim Geburtsvorbereitungskurs. Wir übten zwei Tage lang Wehen wegatmen und tranken Kümmel-Anis-Fenchel-Tee. Am Ende des Kurses kam eine Frau mit getönten Haaren auf uns zu. Sie stellte eine Playmobil-Indianerin auf den Tisch, zeigte Bilder von Schimpansen-Müttern und führte mit einem Webtuch in Regenbogenfarben eine komplizierte Verknotungsperformance auf, mit der sie ein Plastikbaby vor ihre Brust schnallte.
Meine Frau war entsetzt. Ich muss gestehen: Ich war gerührt. Es wirkte so natürlich. Wenig später hatten wir ein Kind – und ein Tragetuch.
Der heutigen Elterngeneration eilt hartnäckig der Ruf voraus, dass man ihr so ziemlich alles verkaufen könne, wenn nur irgendein Experte meint, es sei dem Wohl des Kindes dienlich – oder dem der Eltern. Was die wachsende Beliebtheit des Tragetuchs hinreichend erklärt: Es verspricht beides. Das Baby bekommt Nähe, Wärme und Geborgenheit, wird es doch direkt am Körper getragen und hört den Herzschlag der Eltern. Getragene Kinder sind zufriedener und schreien weniger als Kinderwagenkinder. Das hat eine Schweizer Studie unlängst wieder bestätigt. Und die Eltern können sich um ihr Kind kümmern und gleichzeitig beide Hände frei haben, etwa um mit Gallseife Kotzflecken aus den Stramplern zu schrubben. So weit die Theorie.
Praktisch startete der Siegeszug des Baby-Tragens in den 60er Jahren. Jedenfalls in der westlichen Welt. Die US-amerikanische Kinderkrankenschwester Ann Moore arbeitete einige Jahre in Togo und war beeindruckt, wie dort die afrikanischen Mütter ihre Babys in Tüchern auf den Rücken gewickelt trugen. Zurück in Amerika bekam sie selbst eine Tochter und nähte einen Rucksack um, mit dem sie das Kind auf den Rücken schnallen konnte wie die Frauen in Togo.
Nach einigen Versuchen ließ sie ihre Konstruktion 1969 patentieren und begann sie unter dem Namen Snugli in Serie zu produzieren. In Amerika herrschte damals ein ganz anderer Umgang mit den Kleinsten der Gesellschaft. Gerade mal 20 Prozent der Babys bekamen Muttermilch. Fläschchen geben galt als moderner als Stillen. Der Kaiserschnitt kam ab 1960 schwer in Mode, der Kinderwagen war längst Standard. Wenn ein Kind schreit, so empfahlen Erziehungsexperten, solle man es plärren lassen, bis es von allein wieder aufhört. Sonst würde es nur verhätschelt.
In Deutschland sah man das kaum anders. Johanna Harrers berüchtigter Bestseller „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, erstmals erschienen 1934 und leicht entschärft bis 1996 verlegt, war nicht zimperlich in den Erziehungstipps. Wenig Körperkontakt und kein Mitleid mit unleidigen Babys, hieß es da.
Bei uns wurde es keine große Liebe mit dem Tuch. Der erste Versuch, es mit unserem Neugeborenen zu binden, mündete in einen handfesten Krach, den Kind und Ehe zwar glücklicherweise überstanden, das Tuch aber nicht: Meine Frau versteigerte es für 30 Euro bei Ebay. Wir hätten das mit dem Knoten wohl vorher mal ordentlich üben sollen.
Ein halbes Jahr später hatten wir etwas Neues: eine Tragehilfe, die aussah wie eine Kurz-Hängematte, die man sich vor die Brust schnallt. Praktisch, weil einfach zu bedienen, nur ein bisschen hässlich und nicht besonders auffällig, fanden wir. Wie falsch wir lagen. Als wir damit auf dem Spielplatz ankamen, erzählten Freunde aufgeregt: Genau die schwarze mit dem Karomuster hat Madonna auch! Madonna, eine Tragehilfe?
Wir googelten das Modell. Und siehe da: Giselle Bündchen, Ethan Hawke, Orlando Bloom und Christie Turlington trugen ebenfalls ihren Nachwuchs mit einem Carrier vor den Linsen der Paparazzi spazieren. Supermodels und Filmstars. Gerade jene, die ein Heer von Nannys beschäftigen, um die Karriere trotz Kind bloß nicht schleifen zu lassen. Galt der Bogaboo-Kinderwagen spätestens seit Sarah Jessica Parker ihn in der zweiten Staffel „Sex and the City“ über die Straßen Manhattans steuerte, als ultimatives Eltern-Statussymbol, scheint ihm nun der Carrier den Rang abzulaufen. Mit ihm kann man sich viel besser als aufopfernd kümmernde Eltern inszenieren.
Wie die Tragetücher stehen die für mehr als nur die Lösung eines Alltagsproblems. In Zeiten verunsicherter Eltern, einer Vielzahl von Expertentipps, Ratgeberbüchern und Erziehungsgurus bedienen sie die Sehnsucht nach einer intuitiven Einfachheit im Umgang mit Babys.
Attachment Parenting nennt man diesen Trend. Die Botschaft: Hör auf dein Kind, nicht auf die Experten. Natürlich stammt diese Idee selbst von einem Experten: William Sears, einem Kinderarzt und achtfachen Vater, der auch ein eigenes Tragesystem in der Produktpalette führt – den Dr. Sears Baby Sling.
Es ist mittlerweile kaum mehr möglich, alle Hersteller zu zählen. Neben ein paar großen, weltweit bekannten Anbietern gibt es unzählige kleine, oft von Müttern gegründete Firmen, die sich auf ein Fabrikat spezialisieren und es regional vertreiben, erklärt Paula Pülz. Sie betreibt in Pankow den Laden Pikapé, der auf Tragetücher und -hilfen spezialisiert ist. Es gibt hier eine Trageschule und zwei Mal im Monat eine Tragegruppe, wo sich Eltern austauschen können. Pülz selbst ist ausgebildete Trageberaterin.
Wozu das alles? „Das ist wie mit Hosen, die muss man anprobieren“, sagt die 32-Jährige, die selbst zwei Kinder hat, aber keinen Kinderwagen. Es gibt nicht nur viele Fabrikate, sondern auch viele Varianten, wie man die Kinder damit trägt: vor dem Bauch, auf den Hüften, auf dem Rücken, mit Gesicht nach vorne. Da ist guter Rat entscheidend. Und den suchen immer mehr Eltern. In den letzten fünf Jahren sei das Interesse in Deutschland explodiert, sagt Pülz.
Das erste europäische Tragetuch wurde in der schwäbischen Provinz entwickelt. Von Erika Hoffmann, Mutter von vier Kindern. Mit ihrem Tuch wurde sie 1972 noch schief angeschaut, wenn sie in ihrem Heimatdorf zum Bäcker ging. Lange haftete Eltern, die ihre Babys am Körper trugen statt sie mit dem Kinderwagen zu schieben, das Image an, komische Hippies zu sein. Und überhaupt: Erstickt das Kind nicht, wenn es so eng an den Mutterbauch geschnallt ist? Heute arbeiten 19 Frauen in Erika Hoffmanns Firma Didymos. Der Familienbetrieb stellt mittlerweile in der zweiten Generation Tragetücher und -systeme her.
Nur weil sich mittlerweile viele Eltern aufs Tragen einigen können, herrscht noch lange keine Einigkeit darüber, wie man das genau tun soll. Da wäre einmal der tiefe Graben zwischen Tuch- und Tragehilfe-Nutzern. Die Idealisten stehen gegen die Pragmatiker. Beide Gruppen misstrauen sich latent, etwa wie Veganer und Vegetarier einander nicht ganz grün sind.
Tiefer ist aber der Graben zwischen den Kontinenten. In Amerika tragen viele Eltern ihre Babys mit Gesicht nach vorne. Das Baby hat dadurch die gleiche Perspektive wie die Erwachsenen, was die Intelligenz anregen und schon früh die Selbstständigkeit stimulieren soll. Diese Meinung vertritt etwa der Harvard-Anthropologe Jared Diamond, der über Kindererziehung in traditionellen Gesellschaften auf der ganzen Welt geforscht hat. In Papua-Neuguinea etwa tragen Eltern ihre Babys immer senkrecht und nach vorne gerichtet. Er selbst habe das mit seinen Kindern auch gemacht, sagte Diamond in einem Interview. Für europäische Augen sieht diese Position sonderbar aus. Wie ein Känguru, das eine Etage zu hoch gerutscht ist. Etwas ratlos blickt der Junior in die Welt, die er da kennenlernen soll, die Beine baumeln in der Luft, als würden sie sich wundern, wie viel Platz da noch bis zum Boden ist.
Vergangenes Frühjahr kam unser zweiter Sohn zur Welt. Wir gingen das Thema Tragen bald an, weil wir in den Urlaub fahren, den sperrigen Kinderwagen aber daheimlassen wollten. Also probierten wir so ziemlich alle Trägersysteme, die es auf dem Markt gab. Diesmal war es das Baby, das schrie.
Mittlerweile schaffen wir es immerhin in den Supermarkt. Dabei ist uns aufgefallen: Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob eine Frau oder ein Mann das Kind trägt. Meiner Frau wird meist mit beiläufiger Normalität begegnet, hat doch mittlerweile jeder so was mal gesehen. Stehe ich mit umgeschnalltem Baby vor dem Käseregal, gehen die Reaktionen viel weiter auseinander. Gar nicht so selten lächeln mich wildfremde Frauen an oder zwinkern mir im Vorbeigehen zu. Meine Frau versichert mir dann immer, dass ich das nicht allzu persönlich nehmen solle. Es gehe gar nicht um mich, sondern um das Bild des fürsorglichen Vaters. Mum-Porn nennt man dieses Phänomen.
Die Väter von heute haben es gleichzeitig leicht und schwer. Leicht, weil sie sich ein wenig wie Pioniere fühlen dürfen. Wer heute sein Kind trägt, wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von seinem eigenen Vater getragen (die Einwohner Papua-Neuguineas ausgenommen). Sicher hat der Vater eines heutigen Vaters auch keine Elternzeit genommen, die gab es ja noch nicht, er war vermutlich nicht bei der Geburt dabei und hat vielleicht keine einzige Windel gewechselt. Nicht, dass das alles schlechte Väter waren, nur: Heute ist das Anforderungsprofil ein anderes. Auf jeden Fall sieht es anders aus – man muss mit umgeknotetem Kind in Anhock-Spreiz-Haltung die Einkäufe erledigen können.
Schwer haben es Väter, weil viele Mütter ihnen genau das nicht zutrauen. Wenn ich durch die Regale laufe, habe ich manchmal den Eindruck, dass hier eine Mutti-Polizei auf Streife ist und Verwarnungen ausspricht: „Ihr Kind friert!“ Oder: „Es sieht nichts“ – „Aber es schläft.“ – „Weil es nichts sieht!“
Meiner Frau passiert das nie.
Felix Denk
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