Charlotte Link im Interview: "Seit Franziskas Tod fühle ich mich amputiert"
Die eine blond, die andere braun, die eine spontan, die andere zweifelnd: Die Schauspielerin Charlotte Link spricht über das symbiotische Leben mit ihrer jüngeren Schwester.
Frau Link, Sie gelten als Spezialistin für Spannung, Ihre Krimis machen viele süchtig. Jetzt haben Sie ein ganz anderes Buch geschrieben. Es handelt vom Tod Ihrer Schwester. Wieder liest es sich wie ein Krimi.
Als ich anfing, es zu schreiben, fragte ich mich: Darf ich das? Meine Arbeitstechniken aus 30 Jahren Berufserfahrung auf die Geschichte meiner Schwester anwenden? Ich habe schnell gemerkt, dass das Handwerkszeug zur Verfügung stand, als ginge es um ein Buch wie die anderen. Ich musste mich allerdings kaum bemühen, Spannung zu erzeugen: Wir waren ja im Kampf mit einem, ja, einem Serienkiller. Dem Krebs. Der dachte sich immer wieder neue Finten aus.
Ihre jüngere Schwester Franziska hatte einen Darmtumor, Lungenmetastasen und Spätfolgen einer früheren Strahlenbehandlung. Im Februar 2012 ist sie nach einer Lungenblutung gestorben. Nach sechs Jahren und mit 46.
Die Ärzte sagten immer: Das geht schlecht aus. Wir aber, ihr Mann, ihre zwei Kinder, meine Eltern und ich, haben uns nie auf die Frage eingelassen, wie viel Zeit wir noch rausholen können. Wir wollten, dass sie gesund wird. Mein Ziel war, dass sie ihre Kinder groß werden sieht und wir beide einmal mit Mitte 80 von dieser Welt gehen.
Von Ihnen selbst ist wenig Privates bekannt, Sie machen nicht einmal Lesungen. Jetzt schildern Sie detailliert Behandlungen, Seelenzustände von sich und Ihrer Schwester. Viel mehr, als die ärztliche Schweigepflicht erlauben würde. Ist das in Ordnung?
Das habe ich mich sehr häufig gefragt. Franziska ist der Mensch, um den es hier geht. Sie kann sich nicht mehr äußern. Aber ich kenne sie so gut, dass ich überzeugt bin: Sie hat es abgesegnet. Es gibt etliche Szenen, die ich ausgelassen habe. Wenn also viele sagen werden, das Buch sei so ungeheuer offen, fühlt sich das für mich nur bedingt so an. Ich weiß ja, was alles nicht drinsteht. Wir haben so viel erlebt in diesen Jahren, und immer gab es Episoden, nach denen Franziska sagte: Irgendwann solltest du darüber ein Buch schreiben.
Sie sagen darin, dass Ihre Schwester der wichtigste Mensch in Ihrem Leben war. Also nicht Ihr Mann und auch nicht Ihre Eltern.
Unseren Eltern war unsere Beziehung immer klar. Wir waren symbiotisch, zwei Hälften eines Ganzen. Ich habe Franziska direkt nach ihrer Geburt, da war ich fast anderthalb, als mein Baby gesehen, meine lebendige, schreiende Puppe. Von ihr gibt es kaum Babybilder, auf denen sie allein zu sehen ist, permanent klebe ich mit dran. Wenn ihr auf langen Autofahrten schlecht wurde, hielt ich die Papiertüten bereit. Sie war Teil von mir.
Nach Franziskas Tod hatten Sie zum ersten Mal eine Schreibblockade. War das Buch eine Therapie?
Ich kannte, dass es mal zäh lief, aber damals hatte ich die Kontrolle über mein Leben verloren. Und damit über meine Arbeit. Ich wurde ständig von so vielen Bildern und Empfindungen bedrängt, ohne mich wehren zu können, das habe ich jetzt wieder im Griff. Das Ordnen hat geholfen.
Sie mussten sich über Ihre Beziehung klar werden.
Dabei ist mir aufgefallen, dass man über Schwestern gar nicht so viel redet. Nicht, weil man sie schamhaft verschweigt. Aber wenn es eine gute Beziehung ist, ist das etwas Selbstverständliches im Leben. Man redet über Probleme mit Partnern, Eltern, Kindern. Schwestern kommen nicht vor. Vermutlich, weil sie so stabile Größen sind. Seit Franziskas Tod fühle ich mich amputiert.
Was fehlt Ihnen?
Sie hatte immer großen Einfluss auf meine Entscheidungen. Sie war die Erste, der ich meinen Mann vorgestellt habe. Oder, auch in banalen Dingen, wenn ich auf ein Event musste und dachte: Oh Gott, ich habe nichts zum Anziehen. Dann sind wir das am Telefon detailliert durchgegangen. Sie hatte meinen Kleiderschrank im Kopf.
Sie beschreiben Franziska als sehr entschieden.
Sie war sehr gerade von Kindheit an. Manchmal hat sie das gegenüber anderen stachlig sein lassen. Ich suche immer erst mal den Gleichklang, möchte gern, dass alles harmonisch geht. Verbiege mich manchmal damit. Dafür bin ich kompromissfähiger. Meine Schwester hat schlechte Beziehungen früh abgebrochen, sie war sehr unabhängig von der Meinung anderer. Ich habe sie dafür bewundert und versucht, mir etwas davon abzuschauen.
Waren Sie so anders?
Ich bin ja eher der Typ Selbstzweifler. Und ein Mensch, der vom Ende her denkt. Das lässt einen zögerlich sein. Manchmal geht das auf Kosten von Spontaneität und Lebendigkeit. Franziska konnte einfach sagen: Ich habe jetzt darauf Lust! Mit Anfang 20 wollte sie plötzlich ein Tattoo. Ich sagte, um Gottes Willen, stell’ dir mal vor, in drei Jahren magst du das nicht mehr! Unser Vater schüttelte sich, als er die Rose mit Dornen um ihren Oberarm sah. Mit 17 hatte sie einen fürchterlichen Reitunfall, Schädelbruch, zwei Tage war unklar, ob sie überlebt. Ich wäre spätestens danach nie wieder in die Nähe eines Pferdes gegangen. Sie kommt aus dem Krankenhaus – und steigt wieder auf. Sie lebte so intensiv. Ich bin blockierter.
Das klingt nach festgelegten Rollen.
Als ältere Schwester bekommt man öfter von den Eltern gesagt: Jetzt sei doch mal vernünftig. Die Kleine kann mehr sie selbst sein, sich unter den Flügeln der Großen ausbreiten. Wenn sich das später ausgleicht, ist die Prägung schon vollzogen. So wurde sie eben die, die sich stärker auslebt. Seit Franziskas Tod ist es mir noch wichtiger, ein bisschen was von ihr rüberzuziehen, aber – ich bin 50.
Familienforscher sagen, dass jedes Kind sich Nischen sucht, in denen es unbehelligt vom anderen glänzen kann. Deshalb seien Geschwister oft unterschiedlicher als wildfremde Menschen. Ihre Rolle, Frau Link, die der Vernünftigen, war schon besetzt.
Franziska hat als Kind darunter gelitten, dass ich immer einen Schritt voraus war. Ein großes Drama war meine Einschulung. Ich ging jeden Morgen weg, sie musste daheim bleiben. Doch meine Klassenlehrerin erlaubte jüngeren Geschwistern, hinten im Raum zu sitzen, in Begleitung eines Erwachsenen. Franziska war also jeden dritten Tag mit unserer Kinderfrau ebenfalls da. Unsere Eltern waren ja berufstätig, der Vater Richter, die Mutter Lehrerin. Meine Schwester war dann aber traurig, weil sie nie aufgerufen wurde.
Und Sie?
Mich hat sie in dieser Zeit glühend bewundert, was ich gnadenlos ausnutzte. Ich lernte Lesen und Schreiben. Und: Ich hatte einen Schulranzen! Den pfefferte ich mittags in den Flur, irgendjemand fiel immer drüber. Irgendwann sagte meine Mutter: Du trägst jetzt jeden Tag deinen Ranzen hoch.
Sie haben doch nicht etwa…?
"Das tut mir heute noch leid"
Ich habe meiner Schwester gesagt, pass’ auf, du wolltest doch immer so gern einen Schulranzen. Es gibt wenige Menschen, denen ich erlaube, ihn überhaupt anzufassen. Ich bin so gnädig, du darfst ihn ab jetzt hoch in mein Zimmer tragen. Sie war ganz glücklich, stand jeden Mittag vor der Tür, hat mir meinen Ranzen abgenommen und die Treppe hochgetragen. Das tut mir heute noch leid!
Waren Sie denn auch manchmal die Kleine?
Ja natürlich, später gab es Momente, in denen ich die Trost- und Hilfesuchende war. Mein Beruf bringt mich an die Öffentlichkeit – da steckt man viel ein. Damit hatte ich eine Zeitlang allergrößte Probleme. Ich habe jede Kritik persönlich und bis ins tiefste Mark empfunden. Franziska hat mich dann mit ihrer sachlichen Art geerdet. Ich kenne keinen Menschen, der mich so beruhigen konnte.
Mit 16 hat Ihre Schwester einen Sommer lang gejobbt und dann das ganze Geld mit Ihnen geteilt.
Das war irre. Und so typisch. Sie hat im Krankenhaus geschuftet, die ekelhaftesten Arbeiten machen müssen. Ich saß elitär im Garten und schrieb an meinem ersten Buch. Für das mir damals kein Mensch einen Pfennig gab. Dann war der Sommer vorbei, und sie hatte, für unsere Verhältnisse, eine Menge Geld. Sie sagte, wir gehen jetzt einkaufen – und hat alles ganz genau geteilt.
Später haben Sie ihr Konto öfter ausgeglichen.
Das war selbstverständlich. Sie hatte eine etwas großzügige Art, mit Geld umzugehen, war eine wahnsinnig liebende Mutter, die über ihre Kinder viel ausgeschüttet hat. Manchmal geriet sie in eine leichte Schieflage. Du, sagte sie dann, ich war heute am Automaten, und da kam nichts mehr raus.
Erstgeborene, zeigen Studien, sind oft erfolgreicher. Auch finanziell. Sie haben öffentliche Berufe und…
…das liegt wahrscheinlich an den Erwartungen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern, als ich auf die Welt kam, dachten: Mein Gott, dieses kleine Genie, das hier vor uns liegt! Ich krähte irgendwas, und sie meinten, eine hohe Musikalität zu entdecken. Dabei treffe ich keinen Ton. Alles, was von mir kam, wurde toll gefunden.
Ob bei Geschwistern dann eine lebenslange Rivalität ausbricht, soll davon abhängen, wie die Eltern sich verhalten. Ob sie die Unterschiede sehen und fördern oder ständig vergleichen.
Meine Eltern haben immer gesagt: Macht, wie ihr denkt, ihr werdet schon wissen, was richtig ist. Meine Mutter ist nie in die Schule gedackelt, um zu hören, wie ihre Kinder stehen. In 13 Jahren war sie auf keinem einzigen Elternabend. Solange sie keine Katastrophennachricht bekam, war alles okay.
Sie beide haben nach der Schule ein paar Jahre in München zusammengewohnt. Da galten Sie schon als „Deutschlands jüngste Bestsellerautorin“. Wie ist Franziska, die da noch nicht wusste, was sie machen wollte, mit Ihrem Erfolg umgegangen?
Nur positiv. Wenn andere etwas gegen meine Bücher sagten, wurde sie grantiger als ich. Wir waren untereinander total neidlos. Ich hatte ja auch Lebensphasen, in denen es mir schlecht ging und ihr gut. Als sie ihren Mann kennenlernte. Und als ich eine Beziehung beendete, total allein war, bekam sie gerade ein Kind. Wir konnten uns füreinander freuen, weil wir uns als Einheit fühlten.
Waren Sie nie getrennt?
Wir lebten 500 Kilometer voneinander entfernt, ich in Wiesbaden, sie am Ammersee, aber kommunizierten jeden Tag. Einmal machte sie einen Segelkurs in Schweden, da war zehn Tage Funkstille.
Die Kehrseite dieser Nähe ist, dass man voneinander alle wunden Punkte kennt.
Anders als in Liebesbeziehungen ging es bei uns nie um Macht. Man konnte sich schwach zeigen, heulend, am Boden zerstört. Ich wusste, das wird sie nie gegen mich verwenden. Klar, nach manchen Telefonaten knallten wir den Hörer auf. Doch ich kann mich nicht einmal mehr an konkrete Themen erinnern, über die wir stritten.
"Dies ist das erste Buch mit einer Botschaft"
Sie haben sich sogar ausgemalt, im Alter wieder eine WG aufzumachen.
Ja, mit zwei Wohnungen in einem Haus. Wegen der Ordnung. Sie hatte so eine Art, dass über ihr der Haushalt zusammenbrach. Sie war großzügiger, ich räume die Spülmaschine sofort ein. Als wir in München zusammenlebten, hat sie mir das mit dem Schulranzen ein bisschen heimgezahlt. Sie hat ihre Handtasche immer in den Flur geschmissen, ich stolperte darüber, wenn ich nach Hause kam.
In den Jahren der Krankheit haben Sie Ihre Rolle perfektioniert: die große Schwester mit Überblick.
Ich habe nach neuen Therapiemethoden und Ärzten gesucht. Ich habe auch Franziskas Krankenakte auf einer Seite zusammengefasst. Was für eine dicke Akte! Schaut da ein Arzt richtig rein? Wenn nicht, übersieht er vielleicht wichtige Details.
Sie schreiben einen Bestseller nach dem anderen. Was wollen Sie mit dem neuen Buch erreichen?
Ich merke bereits, dass die Menschen sofort mit ihren Geschichten kommen. Ich beschreibe zwar unsere individuelle Geschichte, aber es ist auch, leider, die von ganz vielen Leuten, weil Krebs so weit verbreitet ist. Dies ist das erste Buch mit einer Botschaft. Man kann kämpfen und siegen.
Wogegen kämpft man denn genau?
Zunächst gegen die Krankheit. Aber dann auch gegen die wenig empathische Art, mit der manche Ärzte schwerstkranke Patienten behandeln. Manchmal so, als seien sie keine vollwertigen Menschen mehr, weil sie eben todgeweiht sind.
Grundsätzlich ist jeder Mensch todgeweiht.
Aber zunächst ist aus jedem eine Menge herauszuholen. Jemand auf den letzten Metern vor dem Tod scheint für manche keinen Gewinn mehr zu bringen. Der Patient erhofft sich vom Arzt Rettung, das gibt dem viel Macht. Ich fürchte, es gibt nicht wahnsinnig viele, die damit verantwortungsbewusst umgehen können. Franziska bekam einmal in der Notaufnahme die Diagnose tödlicher Bauchfellkrebs. Stimmte am Ende gar nicht. Sie fragte den Arzt: „Was kann ich denn jetzt machen?“ „Ihr Testament“, sagte er und verließ das Zimmer.
Hätten Sie im Nachhinein etwas anders gemacht?
Franziska hat in den sechs Jahren mehrfach versucht, mit mir über ihren Tod zu sprechen. Ich habe das verweigert. Ich war nicht in der Lage. Vielleicht würde es mir heute etwas bringen, wenn es dieses Gespräch gegeben hätte. Vielleicht hätte es ihr auch damals etwas gebracht.
Haben Sie sich je für Ihr Glück, Ihren Erfolg, Ihr Überleben geschämt?
Wir alle in der Familie wollten uns keine Freude erlauben. Sie war auch wirklich nicht da, weil man in Angst und Schrecken lebte. Meine Schwester liegt unterm Messer und kriegt ihre Lungenmetastasen operiert, und ich fliege ans Meer in die Ferien – das ist eine krasse Distanz. Obwohl ich zu Hause in Wiesbaden sitzend nichts hätte tun können, hatte ich ein extremes Schuldgefühl.
Sie haben in diesen sechs Jahren Ihre Produktivität gesteigert und vier Bücher geschrieben. Darin beschreiben Sie auch Todesfälle, das ist Ihr Genre. Währenddessen stirbt Ihre Schwester tatsächlich.
In den Krimis ging es um Verbrechen, Franziska hatte eine Krankheit. Ich hätte in der Zeit nicht schreiben können, wie jemand an Krebs stirbt oder schwer erkrankt. Nicht einmal in einer Nebenhandlung. Das Schreiben war meine Rettungsinsel. Wenn man rund um die Uhr über Lungenfibrose, Ärzte, Krankenhäuser nachdenkt, braucht man etwas außerhalb davon. Das Schreiben hat so viel Konzentration erfordert, dass es mir gelungen ist, über Stunden dieser Thematik zu entrinnen.
Jetzt haben Sie Ihrer Schwester ein Denkmal gesetzt. Vom Cover blickt eine strahlende Franziska.
Die Krankheit hat ihren Körper vernichtet, aber nicht ihre Persönlichkeit. Sie hätte heulen und jammern können, hätte mit Fug und Recht sagen können: „Du kannst doch jetzt nicht allen Ernstes mit mir über die Verfilmung deines neuen Buches reden.“ Hat sie aber nicht. Sie war ungeheuer stark.
Deike Diening, Julia Prosinger
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