"avenidas" zurück in Berlin: Gomringer-Gedicht jetzt doppelt an Hellersdorfer Fassade
Die Alice-Salomon-Hochschule wollte es nicht mehr sehen. Jetzt bringt eine Genossenschaft das Gomringer-Gedicht an ihrer Fassade an – und rechnet mit Berlin ab.
Das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer hat eine neue Heimat in Hellersdorf gefunden – jenem Berliner Stadtteil also, der über Monate in der Diskussion war, weil die Alice-Salomon-Hochschule (ASH) das Werk ihres Poetikpreisträgers des Jahres 2011 nicht mehr an ihrer Fassade sehen wollte. Jetzt ist es ganz in der Nähe wieder zu sehen.
Die Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte hat das Werk in dieser Woche an der Fassade eines Mietshauses an der Gothaer Straße, Ecke Kyritzer Straße angebracht. Und das gleich doppelt: Neben dem spanischsprachigen Original steht auch die deutsche Übertragung "alleen" an der Wand. Zuerst hatte das lokale Online-Magazin „LichtenbergMarzahnPlus“ darüber berichtet.
Gomringers Gedicht solle dadurch einen „würdigen Rahmen“ erhalten und „untrennbar“ mit Hellersdorf verbunden bleiben, erklärt Vorstand Andrej Eckhardt die Motivation der Genossenschaft. Untrennbar gehört die neue Installation auch zu ihrer Nachbarschaft: Nach Angaben der Grüne Mitte ist das Werk „an sieben Tagen die Woche 24 Stunden lang“ lesbar, weil die Buchstaben nachts von hinten beleuchtet werden. „Wir finden, dass das Gedicht [...] auch in Deutsch und Spanisch eine Leichtigkeit widerspiegelt und ein Gefühl der Lebensfreude vermittelt“, schreibt Eckhardt.
Der Akademische Senat hatte sich im Sommer 2016 für eine Neugestaltung der ASH-Fassade ausgesprochen, nachdem Hochschulangehörige und schließlich auch der Asta das Gedicht an diesem Platz in Frage gestellt hatten. Gomringers Verse – avenidas / avenidas y flores / flores / flores y mujeres / avenidas / avenidas y mujeres / avenidas y flores y mujeres y / un admirador – reproduzierten eine patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich schöne Musen seien, urteilten ASH-Angehörige. Durch die Figur des Bewunderers könne es zudem bei Leserinnen, die es an der Fassade erblicken, Erinnerungen an Sexismus-Erfahrungen wachrufen.
Schon ein Ideenwettbewerb für die Neugestaltung der ASH-Fassade im Sommer 2017 hatte eine heftige Debatte um Kunstfreiheit und Political Correctness ausgelöst – im deutschen Feuilleton und weit darüber hinaus. Bei der endgültigen Entscheidung im Januar 2018 war sie erneut aufgeflammt.
Gomringer selbst sprach von Zensur. Die Schriftstellervereinigung PEN nannte die Entscheidung „barbarischen Schwachsinn“. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sah in der geplanten Übermalung sogar „Kulturbarbarei“. Marzahn-Hellersdorf ist auch der Bundestagswahlkreis der CDU-Politikerin.
Der Streit wurde in der Sache scharf und im Ton bisweilen verletzend ausgetragen. Bisweilen nahm die Diskussion gar bizarre Züge an. Viele solidarisierten sich mit Gomringer, indem sie das Gedicht aus dem Jahr 1953, das als ein Schlüsseltext der Konkreten Poesie gilt, in sozialen Medien verbreiteten. Der Springer-Verlag ließ die ruhigen Verse über das Leuchtband auf dem Dach seines Hochhauses in Kreuzberg laufen. Selbst Jens Spahn twitterte „avenidas“.
Mehr Gomringer war nie in Deutschland
Das Werk war plötzlich präsenter als je zuvor: Vorübergehend war es gleich neben dem Brandenburger Tor zu sehen. Gomringer kam aus diesem Anlass – 93-jährig – zum Podiumsgespräch ins Liebermann-Haus. In seiner fränkischen Heimat Rehau beschloss die Kommunalpolitik, es an der Fassade des städtischen Museums anzubringen. Ein Bielefelder Ehepaar ließ es auf seine Hauswand aufmalen.
Bereits im März 2018 kündigte auch die Genossenschaft Grüne Mitte an, „avenidas“ in Hellersdorf wieder prominent präsentieren zu wollen. Damit griff sie den Wunsch vieler Menschen aus dem Bezirk auf. Das Unternehmen verwaltet rund 2600 Wohnungen in Hellersdorf und engagiert sich auch im kulturellen Bereich – etwa durch den Bau eines eigenen Kieztheaters.
Seiner Mitteilung fügte es den Brief eines Genossenschaftsmitgliedes bei, der beispielhaft die Schärfe der gesamten Diskussion illustrierte. „Steuern wir wieder auf eine ‚Entartete Kunst’ zu, diesmal unter Sexismus-Verdacht?“, fragte der Mieter und schlug vor, eine „gut sichtbare Wand“ für das Gedicht zu finden. „Vielleicht fällt es den hysterischen Studentinnen hier jeden Morgen auf dem Weg zu ihrer Hochschule ins Auge.“
Auch ein Jahr später macht die Genossenschaft daran keine Abstriche. In einem offenen Brief an die Hochschulleitung spricht Grüne-Mitte-Chef Eckhardt von „absurden sexistischen Vorwürfen von Studentinnen“, denen das Gedicht „geopfert“ worden sei. „Wie werden sich die wahren Sexismus-Opfer (Gewalt, Missbrauch) dabei gefühlt haben, angesichts dieser Debatte?“
Eckhardt nutzt die Anbringung des Gedichts an der Hellersdorfer Hauswand für eine Generalabrechnung mit Berlin. „In dieser Stadt gibt es die Diktatur der Schreihälse, Politik und Bildung haben Angst vor diesen“, schreibt er. Unternehmen, die Wohnungen bauen, würden als gierig bezeichnet, wer Arbeitsplätze schaffe, werde vertrieben. „Nicht die Aktiven, die diese Stadt gestalten wollen, werden unterstützt, sondern die, die gegen alles sind“, meint Eckhardt. „Dass es solche Menschen gibt, ist normal. Aber schlimm ist, dass wir nicht die Argumente austauschen und ihnen die Grenzen aufzeigen.“
„avenidas“ gibt's auch noch an der Alice-Salomon-Hochschule
Auch an der ASH ist Gomringers Werk übrigens nicht vollständig von der Fassade verschwunden. Ende 2018 brachte die Hochschule an ihrer Südfassade ein neues Gedicht an. Es stammt von der Trägerin des Alice-Salomon-Poetikpreises 2017, Barbara Köhler.
Sie hatte die Verse eigens für diesen Zweck verfasst: SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN/IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK. Der Kniff: Bruchstücke von „avenidas“ scheinen in den neuen Zeilen durch. Eine von Gomringer gestaltete Metalltafel gibt außerdem das gesamte Werk wieder und enthält den Standpunkt des Dichters zum Fassadenstreit.
Die Hochschule nahm die Nachricht vom „avenidas“-Comeback in der Nachbarschaft gelassen auf. „Wir freuen uns sehr, dass nun schon zwei Fassaden im Bezirk die Vielfalt der Werke von Preisträger_innen des Alice-Salomon-Poetikpreises im öffentlichen Raum sichtbar machen“, teilte ASH-Sprecherin Christiane Schwausch auf Anfrage mit. Bei der Wohnungsgenossenschaft bedanke man sich „herzlich“.
Bilanz einer gescheiterten Debatte: Der Autor dieses Artikels hat den Fassadenstreit im Leute-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf kontinuierlich begleitet. Lesen Sie hier einen Newsletter-Auszug aus dem Januar 2018 mit einer Zwischenbilanz, die bis heute Bestand hat.
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