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Neue Worte für die Alice-Salomon-Hochschule: das Gedicht von Barbara Köhler.
© Alice Salomon Hochschule
Update

Streit um Gomringers "avenidas"-Text: Das neue Gedicht für die Alice Salomon Hochschule

Über "avenidas" von Eugen Gomringer an der Berliner Alice Salomon Hochschule wurde erbittert gestritten. Jetzt ist ein neues Gedicht für die Fassade gefunden.

Was kommt auf die Fassade, wenn die Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) bald das heftig umstrittene Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer überstreichen lässt? Dass es ein Gedicht der Schriftstellerin Barbara Köhler sein würde, steht schon seit einem Beschluss des Akademischen Senats der ASH vom Januar fest. Jetzt macht die Hochschule bekannt, welches Gedicht Köhler auf die Fassade auftragen lassen will, nämlich einen eigens für die ASH geschriebenen Text. Er lautet: SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK

"Das Aktuelle löscht das Vorherige nicht aus"

Was hat das zu bedeuten? Köhler rekurriert formal und inhaltlich offenkundig auf Gomringers „avenidas“ und die Debatte darüber. Und wer die Fotomontage der ASH genau betrachtet, sieht hinter der blassen Schrift von Köhlers Gedicht Wörter aus Gomringers „avenidas“ durchschimmern. Köhler selbst erklärt in einer Mitteilung der ASH, sie verstehe ihr Gedicht als Teil der Debatte um Gomringers Gedicht, es sei in dieser Geschichte „nur eine weitere Schicht: aus dem Gedicht davor ist ein Gedicht dahinter geworden. Durch die Schrift lässt sich in die Zeit sehen: das Aktuelle erinnert das Vorherige, nimmt es auf, löscht es nicht aus“. Das Gedicht sage, dass es an einem Ort „mehr als eines geben“ könne und vieles möglich sei. Dabei solle es Fragen aufwerfen wie „Wohin erinnern Sie sich? Wofür und wem geben Sie Raum? Und wer, sagen Sie, hätte nichts zu sagen?“. Das Gedicht, schreibt Köhler, wende sich „an die Vielen, die den Ort täglich passieren: es begrüßt sie ausdrücklich, es gäbe ihnen gern Verschiedenes zu denken“. Köhler weist auch darauf hin, dass der Gruß „BON DIA“ nicht aus dem Spanischen, sondern aus dem Katalanischen kommt.

Kulturstaatsministerin Grütters sprach von einem "Akt der Kulturbarbarei"

Der Akademische Senat hatte sich im Sommer 2016 für eine Neugestaltung der Fassade ausgesprochen, nachdem Hochschulangehörige und schließlich auch der Asta Gomringers Gedicht an diesem Platz in Frage gestellt hatten. Es reproduziere „nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind“, hatte der Asta erklärt. Das Gedicht, das der bolivianisch-schweizerische Schriftsteller im Jahr 1951 veröffentlichte, war stilbildend für die von ihm damit ins Leben gerufene Konkrete Poesie. Der spanische Text lautet übersetzt: alleen/alleen und blumen/blumen/blumen und frauen/alleen/alleen und frauen/alleen und blumen und frauen und/ein bewunderer

Dass die ASH sich von dem Gedicht auf ihrer Fassade aus Unbehagen daran trennen will, hatte in der Öffentlichkeit zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Unter anderem hatte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) von einem „erschreckenden Akt der Kulturbarbarei“ gesprochen, Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte den Vorwurf, das Gedicht sei sexistisch, „absurd“ genannt.

Gomringer beschriftet eine Tafel

Auch der inzwischen 93-jährige Künstler hatte den Sexismus-Vorwurf gegen das Gedicht vehement zurückgewiesen und dessen bevorstehende Entfernung von der Fassade der ASH als „Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie“ bezeichnet. Er behalte sich rechtliche Schritte vor, hatte Gomringer noch im Januar erklärt.

Dass Gomringer tatsächlich juristisch gegen die Hochschule vorgeht, ist der ASH bisher nicht bekannt. Sie kündigte jetzt aber an, eine von Gomringer selbst gestaltete Edelstahl-Tafel im Sockelbereich der Fassade anzubringen. Darauf wird nicht nur das Gedicht „avenidas“ weiterhin zu sehen sein, sondern auch Gomringers Darstellung des Verfahrens, die er für sich sprechen lassen will:Gomringer zitiert darin die Kritik von Hochschulangehörigen, sein Gedicht sei „eine erinnerung daran, dass objektivierende und potenziell übergriffige und sexualisierende blicke überall sein können“. Eigentlich hatte Gomringer von der Hochschule verlangt, sie solle ihre Begründung für die Entfernung seines Gedichts an der Fassade neben der Tafel mit "avenidas" anbringen. Die Hochschule will dort nun aber auf ihre Dokumentation der Debatte auf ihrer Website hinweisen.

"avenidas" bleibt. An der Südfassade der Alice Salomon Hochschule wird auf Wunsch des Künstlers im Sockelbereich eine von ihm gestaltete Tafel angebracht. Die Hochschule will daneben auf ihre Dokumentation der Debatte auf ihrer Website hinweisen.
"avenidas" bleibt. An der Südfassade der Alice Salomon Hochschule wird auf Wunsch des Künstlers im Sockelbereich eine von ihm gestaltete Tafel angebracht. Die Hochschule will daneben auf ihre Dokumentation der Debatte auf ihrer Website hinweisen.
© promo

Die Sanierung der Fassade, im Zuge derer Gomringers Gedicht durch Köhlers überschrieben wird, soll ab Mitte September beginnen. Möglicherweise wird der Vorgang des Überstreichens dabei nicht sichtbar sein. Wegen herunterfallender Fassadenteile könnten Abdeckungen angebracht werden müssen, die die Sicht versperren.

Barbara Köhler, die im Jahr 2017 mit dem Alice Salomon Preis ausgezeichnet worden war, hatte sich im vergangenen November bei einer Podiumsdiskussion an der ASH selbst als mögliche Nachfolgerin Gomringers auf der Fassade ins Spiel gebracht. Die ASH ging auch auf ihren Vorschlag ein, das Fassadengedicht regelmäßig zu wechseln. Alle fünf Jahre soll ein anderes Werk eines Salomon-Preisträgers zu sehen sein. Die bisherigen Juroren waren aus Protest über den Umgang mit Gomringers Gedicht zurückgetreten. Allerdings war schon vor dem Streit beschlossen worden, dass die Jury in Zukunft alle zwei Jahre neu gewählt werden soll. Unter den Juroren, die im September den Preis erneut verleihen, sind unter anderem der Autor Tom Bresemann und die ASH-Professorinnen Johanna Kaiser und Susanne A. Benner.

Die Schriftstellerin Köhler hat die ASH verteidigt

Barbara Köhler wurde 1959 im sächsischen Burgstädt geboren, besuchte in Plauen die Oberschule und arbeitete in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, als Altenpflegerin und als Beleuchterin am Theater. Sie studierte am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig und veröffentlichte erste Gedichte in Zeitschriften. Zuletzt erschienen ihre Gedichtbände "36 Ansichten des Berges Gorwetsch" und "Istanbul, zusehends" sowie die Prosasammlung "42 Ansichten zu Warten auf den Fluss".

Während der Gomringer-Debatte hatte sie in einem Beitrag in der "FAZ" darauf hingewiesen, dass ein Gedicht eine neue Bedeutung erlange, wenn es im Straßenbild auftaucht. Ein Text "mit ziemlich riesigen Lettern auf einer vierstöckigen Fassade" sei "womöglich ein anderer sei als in einem Buch". Die Diskussion über das Gedicht, so die Lyrikerin, sei "ganz zivilisiert und demokratisch" geführt worden. "Niemand hat mit Farbbeuteln geschmissen, niemand hat nachts an die letzten beiden Wörter ein a geklebt oder etwa eine Überschrift wie ,Blumen für die Trümmerfrauen' dazugesprayt, niemand hat diesem Text an der Wand etwas angetan." Den "Untergang des Abendlandes" mochte sie in der Entfernung von Gomringers Zeilen nicht erkennen, auch keinen "Angriff auf die Kunstfreiheit, keine Zensur und keine Barbarei". Das Gedicht sei ein Geschenk gewesen - "und mit Geschenken dürfen Beschenkte schon verfahren, zumal nach knapp sieben Jahren, die der Text nun an dieser Wand verbracht hat".

"Der Poetik-Preis ist denunziert"

Thomas Wohlfahrt vom Haus der Poesie, das den Poetik–Preis der ASH bislang mitveranstaltet hatte, sich aber aus Protest zurückgezogen hat, wollte die Qualität von Köhlers Gedicht am Donnerstag nicht öffentlich kommentieren: „Der Kern der Debatte ist der unhaltbare Sexismus-Vorwurf und die Tatsache, dass er die Hochschulleitung dahin gebracht hat, das Gedicht runterzunehmen“, sagte er auf Anfrage. „Der Poetik-Preis ist denunziert. Wer auch immer das Preisgeld annimmt, wird sich mit der Debatte um das Gomringer-Gedicht und wofür sie steht, auseinandersetzen müssen.“

ASH-Prorektorin Bettina Völter, die im Oktober an die Spitze der Hochschule vorrückt, erklärte hingegen, Köhlers Gedicht zeige, „dass nur das Zusammenspiel von Freiheit der Kunst und Autonomie der Hochschule wegweisend ist“.

Gomringer-Gedicht auch auf Fassade des neuen PEN-Zentrums?

Gomringers Verse könnten indes künftig auch die Fassade des neuen PEN-Zentrums in Darmstadt zieren. Dieser Plan bedürfe allerdings noch der Zustimmung des Präsidiums und des Künstlers, sagte der Lyriker Heinrich Peuckmann, Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung, am Donnerstag.

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