Eugen Gomringer und "Avenidas": Was kann und darf Kunst?
Der Dichter Eugen Gomringer diskutiert im Liebermann-Haus über sein Gedicht "Avenidas". Nach zwei quälenden Stunden stellt man fest: Thema verfehlt!
Nach den Maßstäben des Aufsatzwesens kann man es kurz machen. „Was kann und darf Kunst?“, lautete die Frage der Stiftung Brandenburger Tor im Liebermann-Haus. Nach zwei quälenden Stunden lässt sich nur konstatieren: Thema verfehlt! Auf dem Podium der unfreiwillige Anstifter der Debatte, der 93-jährige Dichter Eugen Gomringer, Poetikpreisträger der Berliner Alice Salomon Hochschule, dessen an der dortigen Südfassade angebrachtes spanischsprachiges Gedicht „Avenidas“ im Herbst einem Werk der Poetikpreisträgerin Barbara Köhler weichen muss. Ihm gebühren immerhin ein paar Trostpunkte, nachdem er mit störrischer Beharrlichkeit zu fragen versuchte: „Was darf Kunst nicht?“ Oder auch: „Wie antiseptisch muss Kunst sein, damit sie sein darf?“
Dabei bekam er vom Moderator des Abends, dem Kunst- und Medienanwalt Pascal Decker, allerdings wenig Hilfestellung. Die Diskussion kreiste ausschließlich um den öffentlichen Umgang mit diesem einen, eines sexistischen Blicks auf Frauen verdächtigten Gedichts. Und dazu sind inzwischen wirklich alle Argumente ausgetauscht. Dazu die Abgesandte des Asta, eine vornamenlose Frau Roth, von der gleich zu Beginn erklärt wurde, sie trage ein Pseudonym. Hassmails in den vergangenen Monaten hätten sie gezwungen, inkognito aufzutreten. Das klingt wie ein schlechter Witz.
Niemand wird gezwungen, auf Panels seinen Kopf hinzuhalten, aber wer es ohne Namen tut und zugleich volles Rederecht beansprucht, hat die Struktur demokratischer Prozesse von Grund auf missverstanden. Frau Roth, die Gedichte „aus sozialarbeiterischer Perspektive“ auf „emanzipatorische“ Inhalte hin liest, investierte immerhin mutige Meinungen. Sie entdeckte in Gomringers Gedicht objekthafte Blumen-und-Frauen-Akkusative, wo es tatsächlich nur Nominative gibt. Und sie berichtete, wie es ihr „den Magen zusammengezogen“ habe, als ihr das Smartphone verriet, das letzte Wort des Gedichts – „admirador“ – bedeute so viel wie Bewunderer.
Die Frau, die sich hinter Verfahrensfragen verschanzte und ohne jede persönliche Meinung auskam, war dagegen Bettina Völter, die Prorektorin der Hochschule und Beauftragte für Gendermainstreaming. „Es ist nichts Schlimmes passiert, außer dass sich Kunst und Wissenschaft reiben“, erklärte sie. Ganz im Sinn von Joseph Beuys sei durch den Streit eine soziale Skulptur entstanden. Die vielen künstlerischen Reaktionen seien sogar ein Gewinn. Der sichtlich mitgenommene Eugen Gomringer traute seinen Ohren nicht. In einem Punkt allerdings hatte Frau Roth Recht: Political Correctness sei ein Kampfbegriff der Rechten. Es ist höchste Zeit, dass ihn sich eine liberale, feministische und postkoloniale Linke zurückerobert.