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Zur Orientierung. Die Stadtführer Samer Serawan (2. v. r.) und seine Frau Arij (r.) zeigen auf Karten, wie sie nach Deutschland kamen.
© Georg Moritz

Die neuen Stadtführer: Geflüchtete zeigen ihr Berlin

Meine Lieblingsspeise, meine Route, mein Kiez: Geflüchtete präsentieren ihre neue Heimat – auf Stadttouren.

„Zuerst möchte ich euch fragen: Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort ‚Geflüchteter‘ hört?“, sagt Samer Serawan. „Kein Zuhause“, sagt eine Teilnehmerin. „Schutzbedürftig“, sagt ein anderer. „Ich möchte euch sagen: Geflüchteter heißt nicht Obdachloser per se“, sagt Samer Serawan und lächelt in die Runde.

Er kam zwar vor sechs Monaten ohne Gepäck aus Syrien in Deutschland an, aber mit dem Willen, aus diesem Nichts so schnell wie möglich etwas zu machen. Und so steht er nun an einem warmen Frühsommertag mit seiner Frau Arij vor der Woolworth-Filiale in der Karl-Marx-Straße in Neukölln – und vor ihnen eine Gruppe junger Menschen. 13 sind es, gekommen, um bei einem einzigartigen Stadtrundgang die Lebenswelt von Flüchtlingen kennenzulernen.

Geflüchtete helfen bei der Integration

Arij und Samer Serawan sind seit einigen Wochen Stadtführer: Bereits zum dritten Mal führt das Paar zwei Stunden lang durch die Stadt und zeigt Interessierten sein persönliches Berlin. Acht Stationen hat die Tour, und an denen entlang lernen die Teilnehmer nicht nur etwas über das Leben als Neu-Ankommer in Berlin, sondern auch ein bisschen von Arij und Samer Serawan kennen. Die beiden helfen inzwischen selbst mit bei der Integration von Flüchtlingen in der neuen Heimat. Und den Alteingesessenen helfen sie dabei, ihr Zuhause aus einer neuen Perspektive zu sehen.

Die Stadttouren organisiert der Berliner Verein Querstadtein, der seit 2013 vor allem Obdachlose als Stadtführer beschäftigt. Im vergangenen Jahr kam dann die Idee zu Touren mit Geflüchteten auf, seit April diesen Jahres ziehen nun Arij und Samer Serawan durch die Stadt und präsentieren für sie wichtige Dreh- und Angelpunkte Berlins. Gefördert wird die Tour von der Bundeszentrale für politische Bildung.

"Irgendwann ging es einfach nicht mehr"

Zum Tourstart treffen sich alle vor dem Restaurant „Shaam“ in der Karl-Marx-Straße 177. Für das Ehepaar ist das Restaurant ein wichtiger Ort: „Viele Syrer essen hier“, sagt Arij Serawan. Das Schawarma sei im „Shaam“ besonders gut, außerdem könne man in einem Hinterraum Shisha rauchen. Die 29-Jährige hat in Damaskus Jura studiert und bereits jahrelang als Anwältin gearbeitet. Dann kam der Krieg. „Wir haben fünf Jahre lang versucht zu bleiben“, sagt ihr Mann Samer Serawan und schaut Verständnis suchend in die Teilnehmerrunde. „Irgendwann ging es einfach nicht mehr, es wurde zu gefährlich.“

Die Fluchtroute auf Karten eingezeichnet

Der 36-Jährige hat, wie er erzählt, ebenfalls Jura studiert, entschied sich dann jedoch für eine Karriere in Business Administration, betrieb lange eine Fabrik in Damaskus. Zu der Flucht nach Deutschland entschlossen sich die Eheleute dann im vergangenen Jahr. „Wir möchten hier neu anfangen“, sagt Serawan. Angekommen in Berlin, ging es für die beiden erst einmal in die Notunterkunft in Tempelhof – keine leichte Zeit. Das merkt man den beiden an, wenn sie darüber berichten. Das gilt auch für ihre Flucht. Ihre Fluchtroute durch die Türkei und Griechenland und über die Balkanroute nach Berlin haben sie auf einer Karte eingezeichnet, die sie unter den Tourteilnehmern herumgehen lassen.

"Fairuz muss man doch tagsüber hören!"

Trotz aller vergangenen Nöte und Querelen sind Arij und Samer Serawan aber vor allem zum Scherzen aufgelegt, die Stadttour soll schließlich auch Spaß machen. Und so lockern sie die Berichte von ihrer Flucht mit kleinen Anekdoten immer wieder auf. Zum Beispiel die vom Zusammensein mit deutschen Freunden, die zwar arabische Musik hören – aber ganz anders, als man das in arabischen Ländern machen würde. „Ich habe meiner deutschen Freundin gesagt: ‚Nein! Was tust du? Die libanesische Sängerin Fairuz muss man doch tagsüber hören, und die weibliche Musik-Ikone aus Ägypten, Umm Kulthum, ist für den Abend gedacht!‘ “, sagt Samer Serawan – und muss schon wieder lachen.

"Wir wollen nicht die Mitleidsschiene bedienen"

Der selbstbestimmte Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte ist den Tour-Veranstaltern von Querstadtein e.V. wichtig: „Wir wollen nicht die Mitleidsschiene bedienen, sondern die Leute selbst ermächtigen“, sagt Tilman Höffken von der Projektleitung und Geschäftsentwicklung des Vereins. Der Kontakt zu Arij und Samer Serawan kam durch eine Ehrenamtliche aus dem Team, weitere Touren mit anderen Guides sind bereits in Planung: „Wir haben momentan zwei weitere Geflüchtete, mit denen wir gern die Stadtführung machen wollen“, sagt Höffken. Für ihn ist es, wie er sagt, ein besonderes Anliegen, auch Unternehmen anzusprechen, die überlegen, Geflüchtete einzustellen: „Dafür sind die Touren auch gedacht, dass wir Vorbehalten abbauen und einen Dialog entstehen lassen“, sagt Höffken. Dieser Dialog soll mit der Stadtführung beginnen.

Die Sonnenallee heißt "Arab Street"

„Wie heißt diese Straße für euch?“, fragt Samer Serawan und zeigt auf die Straße an der vierten Station der Tour. „Sonnenallee“, sagt ein Teilnehmer. Serawan lacht: „Seht ihr, für uns Ankommer heißt die Straße nur ‚Arab Street‘, weil hier so viele arabische Geschäfte sind.“ Die Schilder an den Läden sind zweisprachig, da gibt es Bäckereien, Friseure, Lebensmittelgeschäfte, für die Geflüchteten ein Stück Heimat in der Ferne: „Diese Straße ist für mich immer ein bisschen Zuhause, man hört an jeder Ecke einen Brocken Arabisch“, sagt Arij Serawan.

Die beiden syrischen Stadtführer lernen aktuell Deutsch und hoffen, die Touren bald auch in deutscher Sprache anbieten zu können – bislang geht das nur auf Englisch.

Für die Führungen bekommen die beiden zwar einen kleinen Obolus vom Verein, noch besser wäre für sie natürlich die Rückkehr in die alten Berufe: „Wir Syrer lieben es, zu arbeiten“, lautet Samer Serawans Überzeugung. Für jetzt sind es aber erst mal die Touren. Angekommen an der letzten Tourstation, haben die Teilnehmer bei Kaffee und Kuchen Gelegenheit, sich mit den beiden Tourguides noch mal intensiver auszutauschen, was gern genutzt wird. Gesprochen wird über Persönliches und Politisches.

"Wir Syrer sind wie jedes andere Volk der Welt"

Samer Serawan warnt davor, die Distanz zwischen den Ankommern und den Einheimischen größer werden zu lassen, so viel hat er schon mitbekommen von seiner neuen Heimat: „Man hat gesehen, dass das in den 1960er und 1970er Jahren mit den türkischen Bürgern schon einmal nicht gut gelaufen ist. Lasst uns diesen Fehler alle gemeinsam verhindern“, appelliert Serawan. Für die beiden gäbe es ohnehin nicht viele kulturelle Unterschiede zwischen den Nationen: „Wir Syrer sind wie jedes andere Volk der Welt. Lasst uns in einen Dialog treten und gemeinsam eine Welt erschaffen“, wünscht sich Samer Serawan. Und wenn es zunächst die erste gemeinsame kleine Welt im Neuköllner Kiez ist.

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