Pflegeheime wurden Hotspots: Für die vielen Corona-Toten in Berlin gibt es Verantwortliche
Jeder zweite Corona-Tote in Berlin steckte sich in Pflegeheimen an. Schuld sind ein krankes Gesundheitssystem und eine zögerliche Politik. Ein Kommentar.
Die Realität ist verstörend und schmerzhaft: Mehr als jeder zweite Corona-Tote in Berlin hat sich zuvor in einem Pflegeheim angesteckt. Das sind 492 von 899 Verstorbenen. Infiziert haben sich in Berliner Pflegeheimen seit Pandemiebeginn insgesamt 3425 Menschen. Vor einem Monat waren es noch 1021 gewesen. Hinter jeder Zahl steckt ein Schicksal, ein Menschenleben. Und dies sind Fälle, die vermeidbar waren.
Für die Pandemie ist niemand verantwortlich, für die hohe Zahl von Toten in den Pflegeheimen schon. Seit Monaten ist bekannt, dass alte Menschen besonders gefährdet sind. Seit Monaten warnen Mediziner und Virologen, dass die Heime und ihre Bewohner besonders geschützt werden müssen. Heute liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei den über 90-Jährigen in Berlin bei schier unfassbaren 834,3. Wie konnte das passieren?
Es sei jetzt nicht die Zeit, die Schuldfrage zu stellen, sagte der Gesundheitsstadtrat aus Mitte, nachdem in dieser Woche in seinem Bezirk ein Corona-Ausbruch in einem Heim mit mindestens 23 Toten bekannt wurde. Andere Gesundheitsstadträte wollen die Öffentlichkeit am liebsten gar nicht mehr informieren. Sie fürchten verzerrende Berichte, dass Einrichtungen an den Pranger gestellt würden und das Personal weiter demoralisiert werde.
Für Angehörige muss das wie Hohn klingen. Während Krankenhäuser halbwegs geschützt wurden, sind Pflegeheime ins Zentrum des Sterbens an und mit dem Virus gerückt. Mütter, Väter, Omas, Opas, Schwiegereltern sind kurz vor Weihnachten gestorben. Meist innerhalb von Tagen, fast immer ohne Abschied. Einfach weg. Selbst an den Beerdigungen kann nur der engste Familienkreis teilnehmen. Und daran wird sich vorerst nichts ändern, in Berlins Pflegeheimen liegt die Todesquote bei 15 Prozent der Infizierten, Tendenz steigend. Wer sich jetzt infiziert, erlebt vielleicht kein Weihnachtsfest mehr.
Für diese Toten gibt es Verantwortliche. Amtsärzte sprechen im Vertrauen von Heimleitungen, die ihren Angestellten erlaubten, ohne Maske zu arbeiten. Heimleitungen gestehen, dass sie Infizierte aus Doppelzimmern nicht isolieren konnten – wegen Platzmangels. Pflegekräfte berichten, dass sie angewiesen wurden, auch krank zum Dienst zu erscheinen - und Schutzausrüstung fehlt. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) erzählt von Leiharbeits-Pflegern, die beim ersten Corona-Befund den Dienst abbrechen, und von mobilen Testteams, die „Däumchen drehen“, weil niemand ihre Hilfe anfordert.
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Doch es wäre falsch, pauschal den Pflegekräften die Schuld zuzuschieben. Wenn einige Heimleitungen jetzt versagt haben, dann weil sie gefangen sind in einem Gesundheitssystem, das schon lange krank ist. In dem nicht Gesundheit und bestmögliche Pflege im Mittelpunkt stehen, sondern Personaloptimierungen und Gewinne.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Berliner Pflegeheimen bezahlen selbst einen hohen Preis: 1619 von ihnen haben sich in ihrem Beruf infiziert. Seit Monaten stehen sie in der ersten Reihe an der Corona-Front. Schlecht bezahlt, schlecht ausgebildet, kaum gewürdigt. Der Applaus aus dem Frühjahr ist längst verklungen, zurück bleibt Erschöpfung und keine Aussicht auf Besserung.
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Vielmehr ist dies ein Versagen der Politik. Dort kannte man die Entwicklung der Zahlen – und tat lange nichts. Hoffte weiter auf das Weihnachtswunder, während in immer mehr Heimen der Notstand ausbrach. Die Öffentlichkeit wurde nur auf Nachfrage und auch dann nur zäh informiert.
Jetzt, viel zu spät, reagiert der Senat und verschärft die Regeln. Das Personal muss sich jeden zweiten Tag testen lassen. Bewohner dürfen pro Tag nur noch einen Gast für eine Stunde empfangen. Besucher müssen ein negatives Testergebnis vorlegen. Für die fast 300 Pflegeeinrichtungen in der Stadt, in denen es inzwischen Corona-Ausbrüche gibt, kommen diese Regeln zu spät. Das Sterben wird weitergehen.
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