Pandemie trifft Alte und Kranke stark: Warum gelingt der Schutz vor Corona in Pflegeheimen nicht?
Alte und Kranke sollen besonders gut vor dem Coronavirus geschützt werden. Tatsächlich aber steigen die Zahlen der Infizierten stark. Helfer sind überfordert.
Schon seit Monaten gehört zum Konzept von Bundesregierung und Bundesländern der besondere Schutz der sogenannten vulnerablen Gruppen, also alter Menschen, Pflegebedürftiger und Vorerkrankter. Die Pflegeeinrichtungen erhalten deshalb bereits seit Frühjahr vorrangig Schutzausrüstungen, Masken und seit Oktober auch Schnelltests für Mitarbeiter, Patienten und Besucher.
Nachdem im Frühling Besuche der Heimpatienten zeitweise ganz verboten waren, dürfen sie im Rahmen von Hygiene- und Besuchskonzepten der Einrichtungen inzwischen wieder Besuch empfangen. Trotzdem gibt es gerade in Alten- und Pflegeheimen Hunderte Infizierte und Tote in dieser Bevölkerungsgruppe.
Wie ist die Lage in Berlins Pflegeheimen?
Die Zahlen der Infizierten in Berliner Pflegeheimen steigen stark. Wie die Gesundheitsverwaltung am Dienstagabend mitteilte, haben sich in bislang 3425 Bewohner infiziert, das sind fast 1500 mehr als noch vor zwei Wochen. Insgesamt gab es bereits Ausbrüche in 295 Einrichtungen, in deren Folge 492 Menschen starben. „Inzwischen gibt es keine größere Einrichtung mehr, die nicht betroffen ist“, Gesundheitsstadtrat für Mitte, Ephraim Gothe (SPD).
Die Inzidenz, die angibt, wie viele Menschen sich je 100.000 Einwohner in sieben Tagen mit dem Virus infiziert haben, liegt im Alterssegment der über 90-Jährigen bei 834,3. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in Berlin für alle Altersgruppen liegt über 200. Die Altersgruppe mit dem zweithöchsten Wert sind die 80-bis-89-Jährigen mit 298,2. 586 der 899 Covid-Toten waren über 80 Jahre alt.
In Mitte reagiert das Gesundheitsamt nun auf die Entwicklung. Man werde die „volle Kraft“ auf die Heime legen, sagte Gothe. Um die knappen Kapazitäten zu schonen, sollen beispielsweise Schulen jetzt nicht mehr beraten werden. Gothe fürchtet, dass die Personalengpässe sich über die Feiertage noch verschlimmern werden: „Es geht jetzt darum, irgendwie über die nächsten Wochen zu kommen.“
Welche Fehler wurden bei den großen Ausbrüchen in Heimen in Mitte und Reinickendorf gemacht?
Im Pflegeheim „Goldenherz“ in Berlin- Mitte sind bislang 23 Menschen an oder mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben, insgesamt haben sich dort mehr als 150 Personen infiziert: 108 Bewohner und 45 Pfleger. In der Domicil-Einrichtung in Reinickendorf haben sich mindestens 82 der 170 Bewohner infiziert, bislang starben dort 14 Menschen. Angehörige haben schwere Vorwürfe gegen die Heimleitung erhoben: Im Domicil-Heim soll das Personal ständig zwischen den Etagen gewechselt haben, mit dem Coronavirus infizierte Patienten aus Doppelzimmern wurden nicht isoliert. Das bestätigte der Träger inzwischen.
Ein Insider berichtet zudem, dass Mitarbeiter keine Masken getragen hätten. Ein Domicil-Sprecher legt als Grund für den Ausbruch nahe: „Es muss davon ausgegangen werden, dass der Eintrag durch die bestehenden Besuchskonzepte aufgrund der durch die Senatsverordnungen festgelegten Zutrittsmöglichkeiten in unsere Einrichtung gekommen ist“ – also die Regelung, dass Besuch empfangen werden darf.
Nach Tagesspiegel-Informationen soll es im „Goldenherz“ in Mitte bereits im Mai einen Ausbruch gegeben haben, der damals aber begrenzt werden konnte. Laut Gesundheitsverwaltung erschweren dort Fälle von Demenzkranken und psychisch Erkrankten die Umsetzung der Kontakt-, Abstands- und Hygienevorschriften.
Was macht das Management in der Pandemie so schwierig?
Die Situation der gehäuften Covid-19- Fällen könne man nicht nur den Heimen anlasten, sagte Gabriele Tammen-Parr von der Beratungsstelle „Pflege in Not“. Kein Heim und keine Einrichtung könne derzeit hundertprozentig sicher sein, „dass sich das Virus nicht auch bei ihnen einschleicht“. Die Pflegekräfte würden doch nicht in einem abgeschlossenen Raum leben: „Sie haben selbst Familien, fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, gehen Einkaufen.“ Derzeit stünden überall genügend Masken zur Verfügung, auch Tests gebe es ausreichend. Zwei Millionen wurden bisher an die Einrichtungen verteilt.
„Auch unsere Forderung, wonach Menschen, die in der Pflege arbeiten, bevorzugt getestet werden und besonders schnell ihre Ergebnisse erfahren, wurde erfüllt“, sagte Tammen-Parr. Allerdings würden auch die besten Pläne nichts helfen, wenn Arbeitskräfte fehlen: „Die Personaldecke war schon vorher dünn, jetzt stecken sich Pfleger selbst an oder müssen in Quarantäne. Dann nutzen die ganzen schönen Konzepte nichts, weil die zu betreuenden Menschen ja von irgend jemandem versorgt werden müssen.“
So sehr man Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit ahnden und anzeigen müsse, so wenig sei es angebracht, Einrichtungen an den Pranger zu stellen, in die das Virus eingedrungen sei, sagte Tammen-Parr: „Das jetzt alleine den Pflegeeinrichtungen und den Pflegekräften anzulasten, ist nicht gerecht und nicht solidarisch.“
Warum wird nicht offen kommuniziert?
„Wir wären schön blöd, wenn wir das an die große Glocke hängen würden“, sagte der Sprecher eines Pflegeheims, in dem es bereits im Oktober zu einem großen Corona-Ausbruch mit mehreren Toten gekommen war – auch dieser Fall wurde nur durch Zufall und erst im Dezember bekannt. Meistens wenden sich Angehörige an die Öffentlichkeit. Denn auch Politik und Behörden beantworten nur explizite Nachfragen zu Ausbrüchen in Heimen – zum Schutz der Einrichtungen, wie es heißt. Man befürchte verzerrende Berichte, sagte eine Gesundheitsstadträtin dazu.
Am Dienstag erklärte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) in der Senatspressekonferenz, dass in beiden Pflegeheimen in Mitte und Reinickendorf nun die Heimaufsicht ermittle und eine Absetzung der Heimleitung prüfe: „Da ist irgendetwas schiefgelaufen“, sagte sie.
Sind die Heime mit den Tests überfordert?
Pflegekräfte müssen in Berlin jetzt alle zwei Tage getestet werden. Dafür braucht man ausgebildetes beziehungsweise angelerntes Personal. Da bereits insgesamt zwei Millionen Tests in die Einrichtungen geliefert wurden, hätten sich die Heime inzwischen darauf einstellen können. Auch Bewohner sollen mindestens bei Symptomen getestet werden – nur können das die Pflegekräfte während ihrer täglichen Arbeit nicht zusätzlich leisten: Sie müssten dafür umfangreiche Schutzkleidung tragen.
Ab diesem Mittwoch sollen auch Besucher entweder einen negativen Test vorweisen oder ebenfalls vor Ort geimpft werden. Die Pflegeeinrichtungen wissen nicht, wie sie das realisieren sollen. Kalayci erklärt, dass dafür die Unterstützung der 30 mobilen Testteams angefordert werden könne. Die nächste Schwierigkeit kommt auf die Einrichtungen zu, wenn die Impfungen ihrer Patienten und Mitarbeiter starten.
Wie läuft es in der ambulanten Pflege?
Etwa 78 Prozent der Berliner Pflegebedürftigen werden nicht in Heimen und Kliniken, sondern zu Hause gepflegt, davon mehr als zwei Drittel nur durch eigene Angehörige. Bei einem Drittel kommt ein Pflegedienst ins Haus. In der ambulanten Pflege ist es einfacher, einen positiv getesteten Patienten zu isolieren als in einem Pflegeheim. Aber flächendeckende Tests sind auch hier schwierig: „Wie sollen Patienten und Angehörige in der ambulanten Pflege in Privathaushalten in dem gewünschten Umfang getestet werden?“, fragt Anita Karow, Fachbereichsleiterin Pflege bei der Johanniter-Unfall-Hilfe in Berlin. „Wir müssen eigenes Personal für die Testung von Patienten abstellen, da die Testung nicht während der Pflege erfolgen darf.“ Das Problem seien nicht die Testkapazitäten, sondern die notwendigen Fachkräfte und angelernten Kräfte.
Wie kann der Schutz der ältesten und für einen schweren Verlauf von Covid-19 anfälligsten Menschen besser werden?
Neben der laufenden bundesweiten Versorgung aller 33.168 Pflegeeinrichtungen in Deutschland mit FFP2-Masken sollen überall noch mehr Antigen-Schnelltests zum Einsatz kommen. Die Kosten von 30 bis 40 Euro je Test übernimmt die Bundesregierung. Das könnte im nächsten Jahr zu höheren Zusatzbeiträgen bei den Krankenkassen führen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die 16 Länder-Regierungschefs hatten am Sonntag beschlossen, dass das Testen des Pflegepersonals ausgeweitet werden soll: „Die Länder werden eine verpflichtende Testung mehrmals pro Woche für das Personal in den Alten- und Pflegeeinrichtungen anordnen“, heißt es in dem Beschluss. Eine Testpflicht ist ein weitgehender Schritt. Umgesetzt wurde sie noch nicht überall.
Es stellt sich die Frage, warum diese Pflicht erst jetzt im Dezember angeordnet wird – während für die Fleischindustrie schon im August, gleich nach dem Corona-Ausbruch in der Schlachtfabrik Tönnies in Nordrhein-Westfalen, eine Corona-Testpflicht eingeführt wurde. Gerade mit regelmäßigen Schnelltests hätten Infektionen in Heimen früher erkannt und wohl auch viele Leben gerettet werden können.
Solche regelmäßigen Tests soll es jetzt auch für das Personal in mobilen Pflegediensten geben: „In Regionen mit erhöhter Inzidenz soll der Nachweis eines aktuellen negativen Coronatests für die Besucherinnen und Besucher verbindlich werden“, haben die Regierungschefs beschlossen. Das wirft die Frage auf, ob nicht gerade Besucher von Heimen zu Schnelltests am Eingang sogar verpflichtet werden könnten und sollten – gerade auch an den bevorstehenden Weihnachtstagen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verweist dazu auf die Zuständigkeit der Länder.
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Mit der Corona-Testverordnung des Gesundheitsministeriums wurde Ende November festgelegt, welche Schnelltest-Anbieter empfohlen werden. Pflegeheime und -dienste, Krankenhäuser, Arztpraxen, Reha-Einrichtungen oder Tageskliniken können nach dieser Verordnung Antigen-Tests selbst beschaffen und mit den Kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen, betont das Ministerium. Für kleinere Heime kaufen oft die Träger oder Verbände die Tests zentral ein, betonte Spahn am Dienstag.
„Die Verfügbarkeit der Tests, das ist die Rückmeldung, die wir haben, wird immer weniger ein Problem. Das Problem ist das Personal, der Aufwand“, bestätigte auch Spahn. Er wisse, dass das Testen besonders auch für das Personal eine riesige Belastung sei. Die Pflege sei daher der einzige Bereich, wo es für das Testen des Personals zusätzliche Vergütungen gebe. Aber es brauche natürlich insgesamt mehr Personal für die Testungen: Einige Einrichtungen ließen sich von Hilfs- und Rettungsdiensten helfen, sagte Spahn – aber auch Medizinstudenten könnten verstärkt mithelfen.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, erklärte zu den aktuellen Äußerungen der Bundeskanzlerin, des Bundesgesundheitsministers und den Verordnungen der Bundesländer im Bereich Altenpflege, diese seien „verheerend für Millionen pflegebedürftiger und schwerstkranker Menschen. Jedes Bundesland erlässt jetzt eine eigene Verordnung. Dabei sind die Regelungen für die Betroffenen, die Angehörigen, die Pflegeheime und mobilen Dienste vollkommen unterschiedlich. Es gibt für die Altenpflege in Deutschland kein einheitliches Corona-Schutzkonzept.“
Charité-Virologe Christian Drosten warnt dagegen: „Bei hoher Gesamtinzidenz ist es kaum irgendwo gelungen, die Pflegeheime zu schützen. Deswegen muss prioritär die Gesamtinzidenz reduziert werden, wenn man Leben schützen will.“