Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Ermittler ringen um Entschlüsselung von Daten
Die Ermittlungen zu den Anschlägen im „Neukölln-Komplex“ kommen nicht voran. Alle Fraktionen fordern Aufklärung.
Mehr als 70 Straftaten und kein Ende in Sicht: Die Anschlagsserie auf Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, trägt mittlerweile den Titel „Neukölln-Komplex“. Geschäfte wurden attackiert, Autos angezündet – für Berlins Sicherheitsbehörden vor eine fortdauernde Herausforderung.
Laut Generalstaatsanwältin Margarete Koppers sind auch mehr als zwei Jahre nach der Durchsuchung bei einem der beiden Hauptbeschuldigten, dem ehemaligen AfD-Kommunalpolitiker Tilo P., nicht alle der damals beschlagnahmten mobilen Endgeräte ausgewertet. Zwar werde mit Unterstützung anderer Sicherheitsbehörden jeder Versuch unternommen, die Verschlüsselung zu überwinden. Das sei bislang aber nicht bei allen Datenträgern gelungen, erklärte Koppers am Mittwoch im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses.
Die Folge: Auf die Ermittler könnten weitere unangenehme Entdeckungen wie der zuletzt geäußerte Verdacht auf Befangenheit zweier bis dahin an den Ermittlungen beteiligter Staatsanwälte zukommen. Koppers hatte beide vor knapp zwei Wochen versetzt und das Verfahren an sich gezogen. Inzwischen erklärte sie, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Befangenheit der beiden.
Innensenator Andreas Geisel (SPD) sprach den Sicherheitsbehörden am Donnerstag im Abgeordnetenhaus ungeachtet der im Zusammenhang mit dem Neukölln-Komplex bekannt gewordenen Ermittlungspannen und der gegen Ermittlungsbeamte erhobenen Vorwürfe sein Vertrauen aus.
„Es gibt keine rechten Netzwerke in der Berliner Polizei“, erklärte Geisel am Ende einer von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zu rechter Gewalt in Berlin. Er fügte hinzu, der „ganz überwiegende Teil der Polizisten“ stehe mit beiden Beinen auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie.
Innensenator appelliert - Linke fordert Untersuchungsausschuss
Mit Blick auf zuletzt veröffentlichte Hinweise auf Verflechtungen einzelner Polizeibeamter mit rechtsextremen Gedankengut oder Teilen der rechten Szene sprach Geisel von „Einzelfällen, die die gesamte Behörde in Misskredit bringen“.
Geisel kündigte erneut an, im Anschluss an die Veröffentlichung des Abschlussberichtes der für den Neukölln-Komplex eingerichteten Sonderermittlungsgruppe der Polizei „Fokus“ eine mit bundesweit anerkannten Experten besetzte Gutachtergruppe vorstellen zu wollen. „Das Thema Neukölln brennt mir auf der Seele“, sagte Geisel.
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Unter dem Applaus der Abgeordneten forderte er: „Wir müssen uns laut zur Demokratie bekennen – für unsere offene Gesellschaft und für unsere Freiheit.“ Zuvor hatte die Vorsitzende der Linke-Fraktion, Anne Helm, die selbst zum Ziel rechtsextremistischer Drohungen wurde, gefordert, jeden Verdacht auf behördliche Blockade von Ermittlungen oder gar die Unterstützung rechtsextremer Akteure auszuräumen. „Es muss zu unser aller politischer Selbstverantwortung gehören, rechtsterroristische Netzwerke aufzuspüren und zu zerschlagen“, sagte Helm.
Sie begrüßte zwar die Pläne Geisels, wiederholte aber die Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchung der Vorgänge rund um den Neukölln-Komplex. Mit Hinweis auf die dafür gesammelten 25 000 Unterschriften sagte Helm: „Lassen sie uns diesen Auftrag annehmen und einen Untersuchungsausschuss einrichten.“
Während die Redner von SPD und Grünen die Forderung nach umfassender Aufklärung zwar unterstützten, in Person von Frank Zimmermann (SPD) den Vorwurf rechtsextremer Netzwerke innerhalb der Berliner Polizei jedoch entschieden zurückwiesen, nutzte CDU-Fraktionschef Burkard Dregger die Aktuelle Stunde für eine Attacke auf die Innenpolitik der Koalition.
„Sie legen den Sicherheitsbehörden immer wieder neue Steine in den Weg“, sagte Dregger mit Blick auf das vor der Sommerpause unter Protest der Polizeigewerkschaften und der Innenminister anderer Länder verabschiedete Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG). „Wenn Sie so weitermachen, beschädigen Sie das Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden“, erklärte Dregger in Richtung der Koalitionsfraktionen von SPD, Linken und Grünen.
Selbst die AfD lobt den Verfassungsschutz
Dregger forderte deren Abgeordnete darüber hinaus zu einem „klaren Bekenntnis zu unseren Sicherheitsbehörden“ auf. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz müssten „endlich wieder spüren, dass dieser Senat ihnen Vertrauen entgegenbringt“, sagte Dregger und tadelte die Linke dafür, den Verfassungsschutz am liebsten abschaffen zu wollen.
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Zuvor hatte auch Zimmermann die „Expertise und das Engagement“ des Verfassungsschutzes für „unverzichtbar“ erklärt. Eine Formulierung, die vom innenpolitischen Sprecher der AfD-Fraktion, Karsten Woldeit, dankbar aufgenommen wurde. „Der Verfassungsschutz ist eine wichtige Säule in der Extremismusbekämpfung“, sagte Woldeit, „jeder Form von politischem Extremismus“ sei „eine ganz klare Absage“ zu erteilen.
Woldeit betonte, die Gefahr gehe nicht allein vom Rechtsextremismus aus. Er wies auf mehrere Brandanschläge auf Autos von Spitzenvertretern seiner Partei hin sowie auf weitere mutmaßlich linksextrem motivierten Straftaten gegen AfD-Vertreter und rief die Abgeordneten zur Solidarität auf. Im Namen seiner Fraktion, die in jüngster Zeit vor allem wegen interner Querelen in die Schlagzeilen geraten ist, forderte Woldeit: „Stärken sie mit uns die Sicherheitsbehörden, das sind sie uns schuldig.“