Deutschtürken bei Bundestagswahl: Erdogans Boykott-Aufruf blieb unerhört
Die Berliner mit türkischem Migrationshintergrund haben den Aufruf von Präsident Erdogan, weder SPD, CDU noch Grüne zu wählen, wohl überwiegend ignoriert. Genaue Zahlen dazu gibt es aber nicht.
„Wenn Erdogan auch nur die geringsten Hinweise darauf haben würde, dass ein paar von uns seinem Aufruf gefolgt wären, hätte er das längst in die Welt hinaus posaunt“, sagt Kadir L. aus Neukölln. Er ist einer von zigtausenden Berlinern mit türkischen Wurzeln, die am Sonntag ihre Stimme für den deutschen Bundestag abgegeben haben. Und einer von jenen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aufgerufen hatte, dabei nicht für SPD, CDU oder Grüne zu stimmen, weil sie „Türkeifeinde“ seien.
„Wenn Erdogan auch nur die geringsten Hinweise darauf haben würde, dass ein paar von uns seinem Aufruf gefolgt wären, hätte er das längst in die Welt hinaus posaunt“, sagt Kadir L. aus Neukölln. Er ist einer von zigtausenden Berlinern mit türkischen Wurzeln, die am Sonntag ihre Stimme für den deutschen Bundestag abgegeben haben. Und einer von jenen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aufgerufen hatte, dabei nicht für SPD, CDU oder Grüne zu stimmen, weil sie „Türkeifeinde“ seien.
"Hier geht es um Deutschland, oder?"
Sowohl die Kanzlerin Angela Merkel als auch der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatten sich daraufhin jede Einmischung der Türkei in den Bundestagswahlkampf verbeten. Kadir L. fand das richtig: „Die meisten meiner türkischstämmigen Freunde haben sich nicht in ihre Wahlentscheidung hineinreden lassen. Hier geht es um Deutschland, oder?“
Er habe sich wie stets in den letzten 20 Jahren für die SPD entschieden, sagt Kadir L. und ist damit nicht allein. „Die Deutschtürken haben eigentlich immer eher Mitte-Links–Parteien gewählt: SPD, Grüne und Linke“, sagt Joachim Schulte von Data 4U, einem Institut, das sich auf Meinungsforschung in ethnischen Zielgruppen spezialisiert hat.
Die meisten seien ja einst als Arbeiter gekommen, hätten sich gewerkschaftlich organisiert und dann wie ihre deutschen Kollegen die SPD gewählt. Später auch Grüne und Linke. In jüngster Zeit hätten sich auch die Unionsparteien stärker um Deutschtürken bemüht, inzwischen sogar eigene Kandidaten aufgestellt, sagt Schulte.
Bei der Wahl werden keine Ethnien erfasst
Ob der Aufruf von Erdogan erfolgreich war, lasse sich nicht so einfach, möglicherweise sogar überhaupt nicht, nachweisen. „Wir haben noch keinen Auftraggeber für eine entsprechende Analyse gefunden“, sagt Joachim Schulte. Und bei den Wahlen selbst, aber auch bei den großen Umfragen vor der Wahl würden Ethnien nicht erfasst. Außerdem sei nicht einmal sicher, wie viele türkischstämmige Wahlberechtigte es in Berlin gibt.
„Für Deutschland wird ihre Zahl manchmal mit 720.000, dann wieder mit bis zu 1,25 Millionen angegeben“, sagt Cihan Sinanoglu. Der Referent für Presse – und Öffentlichkeitsarbeit der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) rechnet deshalb am liebsten mit einem Mittelwert von rund 900.000 wahlberechtigten Bundesbürgern mit türkischen Wurzeln. Diese Wurzeln werden für die Statistik nur bis zur zweiten Generation erfasst: also die Eingewanderten sowie ihre Kinder und Enkel.
"Das geht den türkischen Präsidenten nichts an."
900.000 sind schon eine Größe, findet Kadir L., ist aber sicher, dass die meisten Erdogans Wahlboykott nicht gefolgt sind. „Seitdem eine Mehrheit der Deutschtürken beim Referendum über die Verfassungsänderung mit Ja gestimmt hat, denken viele, wir seien alle für Erdogan. Aber das kann man nicht vergleichen. Da ging es um die Türkei, jetzt geht es um unser Leben hier: um sichere Rente, bezahlbare Wohnungen, gute Schulen. Das ist unsere Sache, das geht den türkischen Präsidenten nichts an.“
Das Wahlverhalten der Deutschtürken bei der Bundestagswahl 2013 bestätigt diese Annahme. Damals nahmen nach einer Befragung des Meinungsforschungsinstitut Data4U rund 70 Prozent von ihnen an der Wahl teil. Davon wählten 64 Prozent die SPD, zwölf Prozent die Grünen, ebenso viele die Linke und sieben Prozent die Union.
Viele Deutschtürken lesen vor allem türkische Medien
Natürlich könne man nicht davon ausgehen, dass es bei dieser Wahl noch genauso gewesen sei, sagt Joachim Schulte von Data4U. Seit der auch auf Initiative von Cem Özdemir im Bundestag verabschiedeten Armenien-Resolution habe sich die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei verschlechtert. Und viele Deutschtürken würden nur die türkischen Medien lesen, die Erdogans Politik meist sehr unkritisch darstellten. Hinzu komme, dass sie oft gefragt würden, wie sie zum türkischen Präsidenten stünden. „Vor meinen Berliner Freunden muss ich mich jetzt ständig rechtfertigen“, erzählt Kadir L.: „Das nervt. Und manche Türkischstämmige haben tatsächlich Angst, sich öffentlich zu äußern. Viele haben ja Verwandte in der Türkei und Erdogans AKP hat ihre Netzwerke überall, auch hier in Neukölln.“
AKP-Ableger schnitt sehr schlecht ab
Der Türkische Bund in Berlin und Brandenburg hatte genau wie seine Dachorganisation, die Türkische Gemeinde in Deutschland, zur Teilnahme an der Bundestagswahl aufgerufen. „Alle, die ich kenne, sind dieser Empfehlung gefolgt“, sagt der Psychologe Kazim Erdogan vom Verein „Aufbruch Neukölln“. Sein Namensvetter in Ankara habe sich verkalkuliert. „Meine Landsleute haben sich nicht einspannen lassen, das sieht man schon am schlechten Abschneiden der Allianz Deutscher Demokraten, die der türkischen Regierungspartei AKP nahesteht und nur in Nordrhein-Westfalen angetreten ist. Sie hat aber dort nur 0,4 Prozent der Stimmen erhalten.“ Dass der türkische Präsident nun am Dienstag verkündete, die Verluste der bisherigen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl seien auch auf deren Türkei-Kritik im Wahlkampf zurückzuführen, sei bestenfalls der Versuch, sein Scheitern bei der Einmischung in den deutschen Wahlkampf zu kaschieren, findet Kazim Erdogan.
14 türkischstämmige Politiker im Bundestag
Er ist sicher, dass sich die Menschen in Deutschland nicht auseinanderdividieren lassen. „Wir haben so viel gemeinsam erreicht“, sagt er: „Man muss sich nur mal anschauen, wie viele türkischstämmige Kandidaten jetzt gewählt wurden.“ Und zählt auf: Sechs für die SPD, fünf für die Grünen, drei für die Linken.