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Der Wahlschein als Privileg. Viele Bewohner Berlins dürfen mangels deutscher Staatsbürgerschaft nicht abstimmen.
© AFP

Bundestagswahl 2017: So tickt die türkisch-deutsche Wählerschaft

Wie haben Berliner Türken gewählt? Wer sich in Neukölln umhört, trifft auf Sympathie für Rot-Grün. Noch öfter aber ist Unmut zu spüren.

Ein verregneter Sonntagmorgen in Neukölln. Um zehn Uhr ist die Karl-Marx- Straße an diesem Wahltag wie leergefegt. Geschäfte und Dönerbuden sind geschlossen, ab und an huscht ein Passant über die nassen Straßen. Im „Café Mutfak“ sitzen zwei Frauen in den Endzwanzigern an einem Tisch und frühstücken. Auf die Frage, ob und wen sie heute wählen werden entgegen sie resolut: „Wir haben keinen deutschen Pass und wir haben es jetzt auch sehr eilig.“

Ruhiger Start in den Wahltag

Es herrscht eine Art Katerstimmung in Neukölln. Wenn man herumfragt, ob und wer hier gewählt wird, kommt eine von zwei Antworten: Entweder, dass man keinen deutschen Pass hat, oder dass man generell nicht über die Wahl sprechen möchte. So auch im „Café Deniz“ am U-Bahnhof Leinestraße, hier werden bereits die ersten Dönerteller angerichtet.

Ein Mann um die Fünfzig steht am Spieß, trägt die langen grauen Haare im Zopf. Auf die Frage, ob er heute wählt entgegnet er nur knapp: „Nein“. Er dreht sich wieder zum Fleischspieß, von da an antwortet er nicht mehr. Oder an der evangelischen Schule in Neukölln: Hier wird gerade gewählt aber Fragen zum Thema ausgewichen. Ein Mann in den Fünfzigern mit Dreitagebart kommt aus dem Wahllokal, grüßt erst freundlich und winkt dann ab, als es um die Wahl geht.

Auch im Café „Elit Simit“ an der Karl-Marx-Straße ist das Thema ungern gesehen. Zwei Frauen, um die Dreißig trinken hier gerade schwarzen Tee. Wie sie heißen, möchten sie nicht sagen. Für wen sie heute ihre Stimme abgeben, schon gar nicht: „Allein die Frage ist eine Frechheit“, sagt eine von beiden. „Das würden Sie einen Deutschen bestimmt nicht fragen.“

Die Zeichen stehen auf Grün

Kemal Yildirim, 43, und seine Frau Semra, 48, sehen das anders. Sie sitzen im Außenbereich des Cafés beim Frühstück. Beide haben nur die türkische Staatsangehörigkeit, konnten daher nicht wählen. „Leider“, wie der Musiker sagt. „Aber wenn ich dürfte, hätte ich die Grünen oder die Linke gewählt.“ Er lebt seit vier Jahren in Kreuzberg und hofft, bald den deutschen Pass zu bekommen.

Kemal Yildirim, 43, und seine Frau Semra, 48 beim Frühstück am Wahltag.
Kemal Yildirim, 43, und seine Frau Semra, 48 beim Frühstück am Wahltag.
© Tsp

Kurz darauf kommt Kadir Sahin, Lehrer für Ethik, Politik und Geschichte am Albert-Einstein-Gymnasium, zusammen mit seiner Frau Gülistan ins Café „Elit Simit“. Beide haben soeben in der evangelischen Schule nahe der Schillerpromenade gewählt. Der 30-Jährige hat kein Problem, zu sagen, wen er gewählt hat: „Meine beiden Stimmen gingen an die Grünen.“

Sahin bezeichnet sich als „urgrünen Wähler“, stimmt seit Jahren für die Partei. Zum einen, da er deren Bildungspolitik befürwortet, außerdem seien die Grünen progressiv, was die Einwanderungspolitik angeht. „Vielleicht ja auch, weil ich Alevite bin“, so der Berliner. „Wir haben eine starke Affinität zur Umwelt.“

Seine Frau Gülistan will lieber nicht sagen, wen sie gewählt hat: „Die AfD war es aber schonmal nicht“, sagt die 31-jährige Grundschullehrerin. Bekannte und Freunde des Ehepaares wählten tendenziell eher grün und links. Sahin hat dafür gestimmt, Tegel schließen zu lassen, da es an Wohnungen in Berlin mangelt. Seine Frau möchte, dass der Flughafen offen bleibt: „Wir leben in einer Hauptstadt und die wird immer attraktiver. Da sollte man den Flugverkehr auf mindestens zwei Flughäfen verteilen.“

„Nur die AfD kommt gar nicht in Frage.“

Das sieht auch Sinem V. so. Die Informatikerin sitzt gerade im Friseursalon „Suphi“ in der Karl-Marx-Straße und schaut ihrer Freundin dabei zu, wie die Locken ins Haar gedreht bekommt. Auch Sinem will ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen, ebenso wenig will sie sagen, wen sie gewählt hat. Aber sie war dafür, Tegel offen zu halten.

„Ich komme aus Alt-Mariendorf“, sagt die 26-Jährige „und aus meinem Umfeld haben alle mit Ja gestimmt.: „Schönefeld ist für Menschen, die im Norden von Berlin wohnen, einfach zu weit weg.“ Die Abstimmung über den Flughafen war für sie der Grund überhaupt zur Wahl zu gehen: „Ich wusste absolut nicht wen ich wählen soll, fand alle Wahlprogramme schlecht“, sagt sie und dreht sich leicht im Lederstuhl hin und her. „Nur die AfD kommt gar nicht in Frage.“

Im Außenbereich der „Pizzeria Alte Forno“ an der Leinestraße sitzen zwei Männer Anfang Dreißig. Einer trägt eine Baseball-Cap, der andere eine blaue Daunenjacke. Sie trinken schwarzen Tee, wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, verraten aber gerne, wen sie gewählt haben: SPD und Linke. Beide haben dafür gestimmt, dass Tegel geschlossen wird.

Göksu Baysal, Fotograf und Künstler, hat an diesem Sonntag in der Hunsrück-Grundschule in Kreuzberg seine Stimmen den Grünen gegeben. Für ihn ist es das zweite Mal, dass er wählen durfte: „Ich lebe seit 2002 in Berlin“, sagt der 42-Jährige, „seit 2012 habe ich einen deutschen Pass“. Die Grünen hat er aufgrund ihrer Bildungs- und Umweltpolitik gewählt. Vor allem erneuerbare Energien sind für ihn „die Zukunft“.

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