Weihnachten bei Exilberlinern: Driving home for Christmas
An Weihnachten verlassen alle fluchtartig Berlin. Alle? Nein, drei Urberliner erzählen, wie es ist, Weihnachten nach Berlin zu fahren.
Annika Nitschmann, 25, lebt in Zinnowitz auf Usedom
Dass sie Weihnachten nach Berlin fährt, ist für die 25-jährige Usedomerin selbstverständlich. „Meine ganze Familie kommt aus Berlin, auch ich bin Urberlinerin“, sagt sie. Alljährlich packt sie ihr Auto voller Geschenke, dreht die Anlage mit Weihnachtsliedern auf und fährt mit einem „Driving home for Christmas“ auf den Lippen von der Insel im Nordosten Deutschlands nach Berlin.
Wenn sie die Stadtgrenze überquert und den Fernsehturm erblickt, kommen bei ihr Heimatgefühle auf. „Ich liebe den Fernsehturm“, sagt sie. Im vergangenen Jahr sei sie in Pankow an einem Schild vorbeigefahren, auf dem stand: „Die Stadt Berlin wünscht Ihnen frohe Weihnachten“ – „Da ist mir glatt eine Träne herunter gekullert“, sagt sie.
Bei dem Besuch in Berlin freut sie sich am meisten auf Freunde und Familie. Aber auch der Gedanke an Berlin selbst, kann bei der 25-Jährigen schon mal für Vorfreude sorgen. „Wo ich gerade wohne ist es schon eher dörflich, da ist es schön, mal wieder in die Großstadt zu kommen, man hat einfach ganz andere Möglichkeiten“, sagt sie. Die nutzt sie zum Beispiel, um die letzten Geschenke zu besorgen. „Ich bin so ein Last-Minute-Käufer“, gesteht sie. Die langen Schlangen vor den Kassen könnten aber auch schon mal anstrengend werden.
Weihnachten selbst ist bei ihr dann volles Familien-Programm angesagt. Am 24. trifft sie sich mit der Großfamilie im Haus von Tante und Onkel in Tempelhof. „Da sind wir dann so 20 Leute“, sagt sie. Der Raum mit dem Weihnachtsbaum dürfe erstmal noch nicht betreten werden. „Erst zur Bescherung darf man hinein“, erzählt sie. Dort soll in diesem Jahr eine neue Tradition eingeführt werden. „Wir wollen Schrottwichteln machen“, erzählt Nitschmann. Geschenkt wird, was man selbst längst loswerden möchte, Entrümpeln als freundliche Geste getarnt. Es solle dabei eben nicht um die Geschenke gehen, sondern darum, gemeinsam auszupacken und Spaß zu haben. „Wir wollen uns einfach amüsieren“, sagt sie. Umtausch ausgeschlossen.
Richtig ist es nur in Berlin
Am 1. Weihnachtstag wird dann der Opa in Brandenburg besucht, ebenfalls wieder mit viel Verwandtschaft. Der Ablauf sei jedes Jahr der Gleiche. Es gebe Gänsebraten, einen Spaziergang und Kaffeetrinken. Dabei sei eines wichtig: „Es geht um 12 Uhr los, das darf auch nicht gebrochen werden“, erzählt Nitschmann. Nach einem langen Weihnachtsabend falle das pünktliche Erscheinen schwer, trotzdem hielten sich alle daran.
Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hat Annika Nitschmann Weihnachten außerhalb Berlins verbracht. „Ich war ein Jahr in London. Da haben mich meine Eltern und meine Schwester ausnahmsweise dort besucht.“ Einmalig schön sei das gewesen, aber auch ein bisschen traurig. Mit Heimweh nach dem richtigen Weihnachten – in Berlin.
Ein Onkel ohne Alpen
Albrecht Mücke, 32, lebt in München
Albrecht Mücke kann sich Besseres vorstellen, als Weihnachten in der alten Heimat zu verbringen. Die Alpen fehlen ihm. „In München kann man in die Berge fahren und Snowboarden, das geht in Berlin nicht“, sagt er. Und weggehen könne man auch schlecht. „Die Stadt ist ja wie ausgestorben“, sagt er. Freunde aus Friedrichshain hätten mal ein Foto ihrer Straße gemacht – „wo sonst die Parkplatzsuche aussichtslos ist, stand weit und breit kein Auto.“
Aber für den gebürtigen Köpenicker gibt es doch gute Gründe, zu den Festtagen in die entvölkerte Hauptstadt zurückzukehren. „Ich freue mich vor allem auf meine Freunde und meine Familie, aber auch darauf, dass ich mir noch nicht so viel vorgenommen habe, das hat ein bisschen was von Urlaubsgefühl.“ Für den 24. ist schon einiges geplant: Heiligabend mit den Großeltern, Eltern, Geschwistern und deren Partnern, insgesamt 15 Leute – und neuerdings auch einem Baby. „Meine Schwester hat vor drei Monaten ein Kind bekommen.“ Mücke kehrt als Onkel heim.
Der Tag verlaufe meist etwas chaotisch. „Wenn wir es schaffen, gehen wir um 17 Uhr in die Kirche“, sagt Mücke. Er sei zwar nicht gläubig, aber für ihn gehöre der Kirchgang einfach zum Weihnachtsgefühl dazu. Danach gibt es bei Mückes Würstchen mit Kartoffelsalat, und auch sonst läuft alles wie bei vielen anderen Familien: haufenweise Geschenke, „obwohl wir immer sagen, wir schenken nichts“, sagt Mücke.
Baum und Schnaps
Das Auspacken sei eine richtige Zeremonie. „Einer packt aus, und alle schauen zu. Der Jüngste darf immer anfangen.“ Am späteren Abend kämen dann Freunde zum „Baumloben“ vorbei. Eine ziemlich feucht-fröhliche Tradition. „Wenn jemand einen Kommentar über den Weihnachtsbaum macht, dann muss man einen Schnaps trinken“, sagt Mücke. Um die Nerven der Familie zu schonen, verlagere sich das gesellige Treffen irgendwann zu Freunden.
Und auch die traditionelle Weihnachtsgans hat ihren Platz in Mückes Festtagskalender: Am 1. Feiertag bei der Schwester. „Danach ist dann Entspannung angesagt.“ Nach Weihnachten möchte er auf jeden Fall noch ein paar Tage in Berlin bleiben, wie lange genau, weiß er noch nicht. „Ich arbeite für die Lufthansa und kann mir deshalb aussuchen, wann ich zurückfliege“, sagt er. Nur Silvester will er auf jeden Fall zurück in München sein.
Grünkohl und Plätzchen in Kaulsdorf
Birger Schütz, 37, lebt in Moskau
Wenn Birger Schütz an diesem Freitag am Flughafen Tegel landet, muss er sich erst wieder an die ungewohnte Langsamkeit in Berlin gewöhnen. Warten auf öffentliche Verkehrsmittel zum Beispiel, das kennt er aus Moskau nicht. „Wenn die nächste Metro erst in über einer Minute kommt, dann ist das schon ungewöhnlich“, sagt er. In Moskau gebe es auch in jedem Wagon der Metro W-Lan, „selbst wenn der Zug noch aus Sowjetzeiten ist“, sagt er.
Berlin, das fühle sich im Vergleich mit der russischen Metropole in mancherlei Hinsicht wie ein Dorf an. Auch, weil die Läden hier nicht rund um die Uhr geöffnet haben. Dem blickt Birger Schütz allerdings auch positiv entgegen. „In Moskau ist man wirklich immer unter Menschen, das ist interessant, macht aber auch müde“, sagt er. In Berlin gehe es deutlich ruhiger zu, insbesondere in Kaulsdorf, wo seine Eltern leben.
Mindestens bis Mitte Januar will er bleiben, sich entspannen. „Mal nach Brandenburg rausfahren und einsam im Wald rumlatschen“, das hat er sich vorgenommen. Etwas Weihnachtsbetriebsamkeit darf aber auch sein. „Sollte am Wochenende noch gebacken werden, sage ich nicht nein.“ Für ihn ist die vorweihnachtliche Plätzchenproduktion mit der Familie nicht nur eine schöne Gemeinschaftsaufgabe – auch das Ergebnis sei in der Regel ein Genuss: „Die Vanillehörnchen, die schmecken.“
Die Spitze ist meist schief
Zum alljährlichen Weihnachtsritus bei Familie Schütz zählt auch das gemeinsame Baumdekorieren am 24. Dezember. „Der Schmuck meiner Eltern ist noch aus DDR-Zeiten“, erzählt er. Zum Inventar gehören unter anderem ein im Erzgebirge geschnitzter Brummkreisel, eine Lokomotive und eine silberne Spitze, die natürlich nicht aus echtem Silber, sondern aus „Ostsilber“ sei, wie Birger Schütz erklärt. „Die Spitze sitzt meist schief auf dem Baum, denn bis zur Decke ist eigentlich nie genug Platz“, sagt er und lacht. Trotzdem werde die Spitze jedes Jahr angebracht, und eine kleinere Tanne anzuschaffen, das kommt auch nicht in Frage.
Als traditionelle Weihnachtsmahlzeit werden schlesische Knacker mit Grünkohl, Sauerkraut, Kartoffeln aufgetischt, dazu wird Bier getrunken. Im Hintergrund laufe dabei gerne eine Weihnachts-CD von Herman van Veen, bei der man sich stets über den holländischen Akzent amüsiere, oder eine Platte von Peter Schreier mit „Oh, du fröhliche“. In der Familie sei zwar niemand in der Kirche, aber die christlichen Weihnachtslieder gehörten trotzdem dazu. Ebenfalls Tradition hat das gemeinsame Familienjoggen am 1. oder 2. Weihnachtstag. „Nach dem vielen Essen muss ich mich auch mal wieder bewegen.“
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