Europas E-Sports-Hauptstadt: Diese Profi-Gamer sind Berlins Zukunft
Wer für sie antritt, kann Millionen verdienen. Hinter dem Erfolg von E-Sports steht ein Netzwerk, das Berlin verändern will – dem Bürgermeister gefällt das.
Im Foyer von Studio K/L riecht es nach Popcorn. Einige Fans lassen sich vor einem gigantischen Plastikdrachen mit Äxten aus Gummi fotografieren, die meisten drängen aber schnell weiter auf ihre Tribünenplätze. Die Anspannung ist groß, an diesem Freitagabend Ende Januar beginnt die neue Saison. Die Scheinwerfer flammen auf, die Kameraleute beziehen ihre Positionen, eine Frau mit Mikrofon schärft den Zuschauern auf Englisch ein, doch bitte anständig auszuflippen, wenn es losgeht.
Bis vor ein paar Jahren wurde in dem Fernsehstudio in Adlershof die deutsche Version von „Big Brother“ gedreht, jetzt wird hier im Computerspiel League of Legends der europäische Spitzenwettbewerb LEC aufgetragen, vergleichbar mit der Champions League im Fußball. Die Spieler betreten die Bühne – G2 trifft auf die Mad Lions – und stöpseln die fabrikneuen Tastaturen ein, die ihnen gerade erst ausgehändigt wurden. Jede Manipulation soll ausgeschlossen werden, es geht um zu viel.
Ein junger Mann im schwarz-weiß-roten Trikot bahnt sich den Weg durchs Publikum, schüttelt Hände, verspricht, dass später noch Zeit für gemeinsame Selfies sein wird. Dann verschwindet Carlos Rodriguez hinter den Kulissen, jetzt kommt es allein auf seine Spieler an.
Rodriguez, vor 29 Jahren in Madrid geboren, war früher selbst E-Sport-Profi. Mittlerweile verfolgt er größere Ziele: Der Spanier ist Gründer und Vorstandsvorsitzender von G2, einem der weltweit erfolgreichsten E-Sports-Unternehmen, seit vergangenen April mit neuem Hauptquartier in Berlin, direkt am Potsdamer Platz.
Seit seiner Gründung als Start-up im Jahr 2014 ist G2 kontinuierlich gewachsen, hat Millionen Euro an Investitionen eingesammelt, Sponsoren wie Red Bull und Mastercard für sich gewonnen. Insgesamt elf Teams gehen unter dem Samurai-Logo von G2 an den Start, in allen relevanten Spielen. Rodriguez will mehr.
G2 und andere Unternehmen haben Berlin zur europäischen Hauptstadt des E-Sports gemacht – eine Entwicklung, die auch der Politik nicht verborgen geblieben ist. Vor wenigen Tagen hat sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller mit den wichtigsten Köpfen der Branche zu einem Runden Tisch im Roten Rathaus getroffen. Um sich auszutauschen, Vorurteile abzubauen. Und zu überlegen, wie beide Seiten voneinander profitieren zu können. Wie E-Sports die Stadt verändert.
In Adlershof jubelt das Publikum, als die jungen Männer auf der Bühne ihre Spielfiguren auswählen, hinter ihnen leuchten Bilder schwerbewaffneter Amazonen und gepanzerter Muskelprotze. Links sitzt das G2-Team, Rasmus „Caps“ Winther grinst Luka „Perkz“ Perkovic an. Der Däne und der Kroate sind die Stars bei G2, ihr Team gilt gegen die Mad Lions als Favorit, schließlich hat es im vergangenen Jahr Europa dominiert und erst im WM-Finale gegen FunPlus Phoenix aus China verloren. 44 Millionen Menschen sahen dabei zu.
Die Zuschauer werden unruhig, einige rufen „Let’s go, G2!"
Das Spiel beginnt, doch G2 scheint noch nicht in Form zu sein. Den Mad Lions gelingt es, Spielfiguren von G2 fünfmal zu töten, bevor auch den Favoriten der erste „kill“ gelingt. Die rund 200 Zuschauer werden unruhig, einige rufen im Chor „Let’s go, G2!“. Die Dynamik des Spiels ändert sich, Caps und Perkz übernehmen das Kommando, am Ende steht doch ein lockerer Sieg.
Während sich die Spieler auf der Bühne abklatschen und umarmen, drängt sich Rodriguez dazwischen. Er strahlt die gleiche ausgelassene, fast kindliche Freude aus, könnte einer von ihnen sein. Aber er ist ihr Chef.
Carlos Rodriguez ist ein Mann vieler Spitznamen. Zu seiner aktiven Zeit war er als „Spanish Rocket“ und „Scarfman“ bekannt, weil er beim Spielen als Markenzeichen einen Schal trug. Gewöhnlich wird er aber „Ocelote“ genannt, selbst seine Mutter spricht ihn manchmal so an, sagt er.
Er war der erste Spieler, der gesperrt wurde
Rodriguez war früher in zwei verschiedenen Spielen erfolgreich, was im E-Sport fast nie vorkommt und in etwa damit gleichzusetzen ist, nach einer erfolgreichen Karriere im Stabhochsprung noch schnell Wasserball-Olympiasieger zu werden. Er war auch der erste Spieler, der von Riot Games wegen „toxischen Verhaltens“ für ein paar Tage gesperrt wurde, weil er Mitspieler beschimpft und beleidigt hatte.
Rodriguez empfängt zum Interview in der G2-Zentrale am Potsdamer Platz. Früher dienten die Räume als Bankfiliale, jetzt arbeiten hier 43 Menschen aus 13 Nationen daran, die E-Sports-Welt aus den Angeln zu heben.
Am Eingang sind Pokale in einer Vitrine ausgestellt, im atriumähnlichen Büro sitzen links das Content-Team und rechts die IT-Experten, eine junge Frau ist nur für das Bespielen der Social-Media-Kanäle in China zuständig. Das Büro soll offen sein, Fans sind willkommen. Sie müssen nur ein Verschwiegenheitsformular ausfüllen, auf dem sie erklären, nichts von dem auszuplaudern, was sie auf den Bildschirmen sehen. Bald soll ein Fanshop dazukommen, bislang gibt es alle Merchandise-Artikel nur online.
"Jedes unserer Teams spielt um die Weltmeisterschaft mit"
In den Anfangstagen von G2 hat Rodriguez viel selbst gemacht, Videos geschnitten, Leute eingestellt, sich um die Buchhaltung gekümmert. „Und glauben sie mir – von Buchhaltung habe ich wirklich keine Ahnung“, sagt er. Inzwischen habe er genug Angestellte, um sich auf Strategisches zu konzentrieren. „Und auf die Frage: Was kommt als Nächstes?“
Im Moment geht es darum, neue Investoren und neue Fans zu gewinnen, zu expandieren, bald eröffnet ein Büro in New York, der Besitzer des NBA-Basketballteams Brooklyn Nets hat vor Kurzem in G2 investiert.
„Jedes unserer Teams spielt um die Weltmeisterschaft mit, wir werden dieses Jahr auf jeden Fall Pokale stemmen“, sagt Rodriguez. „Und wir wollen die Leute zum Lachen bringen. Bei uns gibt es keine schlechten Nachrichten.“
Daran wird in einem stilvoll sanierten Altbau in Berlin-Wilmersdorf gearbeitet. Jeden Tag und oft auch nachts. Hinter der Wohnungstür im ersten Stock tritt man in einen langen Flur, am Ende des Ganges ein großes Zimmer. Hier sitzt drei Tage nach dem Sieg gegen die Mad Lions Rasmus „Caps“ Winther an einem Computer, seine rechte Hand ruckt die Maus hin und her, seine linke Hand tippt rasend schnell auf der Tastatur.
Winthers Augen huschen über den Bildschirm, auf dem Figuren durcheinanderwuseln, Blitze verschießen, Drachen bekämpfen, sterben und auferstehen. In dieser Welt ist Caps – 20 Jahre alt, in Kopenhagen geboren, seit drei Jahren in Berlin – ein Star. Man könnte Winthers kurze braune Haare als modische Out-of-bed-Frisur verstehen, tatsächlich ist er gerade erst aufgestanden.
Jahresverdienst: mehr als eine halbe Million Euro
Das gilt auch für seine vier Teamkollegen, die an den PCs neben ihm sitzen, in Jogginghosen, auf Socken, in Badelatschen. Auf ihren schwarzen T-Shirts und den Rückseiten ihrer ergonomischen Bürostühle prangt das G2-Logo. Die jungen Männer aus Dänemark, Kroatien, Polen und Slowenien sind ein internationales Star-Ensemble, mit Jahresverdiensten von mehr als einer halben Million Euro.
In den kommenden Wochen werden sie jeden Freitag und Samstag gegen die besten Teams Europas antreten. Reisen müssen sie dafür nicht, Spiele-Hersteller Riot Games produziert die LEC in Adlershof, darum wohnen auch die Spieler der anderen neun Mannschaften alle in Berlin.
Jetzt gibt es aber erst einmal Mittagessen, der Privatkoch hat Spaghetti mit Hühnchen und Tomatensoße zubereitet, Rasmus Winther setzt den Kopfhörer ab und schlendert in die Küche. Um halb eins kommt das Content-Team, die Fangemeinde soll mit Videos versorgt werden.
Die Wohnung der fünf jungen Männer, genannt Gaming House, ist WG, Trainingslager, Kloster, Bootcamp, Filmstudio. Ein Paralleluniversum. Drinnen werden Monster bezwungen und Werbefilmchen gedreht, draußen zuckelt der Vormittagsverkehr den Hohenzollerndamm hinunter. Millionen verfolgen weltweit, was Caps und seine Mitspieler tun. Nur in Berlin bekommt davon kaum jemand etwas mit. Bislang.
"Irgendwo zwischen den Los Angeles Lakers und Disney"
Im Fußball werden die Grenzen zwischen Sport und Marketing langsam eingerissen – im E-Sport hat es sie nie gegeben. Carlos Rodriguez sieht sich als Medienunternehmer, seine Firma G2 verortet er „irgendwo zwischen den Los Angeles Lakers und Disney“. In Südkorea sei diese Art der Unterhaltung schon selbstverständlich, in Deutschland und Berlin nicht. „Es wäre für uns aber sehr wertvoll, wenn es diese Anerkennung gibt, auch von offizieller Seite.“
Am Runden Tisch im Roten Rathaus saß Carlos Rodriguez nicht, für G2 war Chief Operating Officer Peter Mucha dabei. In seinem schmal geschnittenen dunklen Anzug wirkt der Manager – ehemals bei Adidas und Universal Music beschäftigt – inmitten der G2-Kapuzenpulliträger wie der einzige Erwachsene.
Im Büro schwärmt Mucha, dass das weltoffene, junge Berlin perfekt zu E-Sports passe. „E-Sports kennt keine Nationalitäten, Grenzen spielen keine Rolle“, sagt er. „Das ganze Flair in Berlin, die ganze Kultur, die Medienlandschaft – es gab keine zweite Stadt, die wir in Erwägung gezogen haben.“
"Wir wachsen wie doof. In allen Bereichen"
Mucha ist sich sicher, dass „in den nächsten zwölf bis 18 Monaten“ viel in der Branche und in Berlin passieren wird. „Wir wachsen wie doof. In allen Bereichen“, sagt er. „Und wir haben nicht vor, damit aufzuhören.“ Goldgräberstimmung.
Die Senatskanzlei spricht vom „boomenden E-Sport-Standort Berlin“, der Regierende Bürgermeister wolle dazu beitragen, diesen auszubauen. Beim Runden Tisch seien dafür Schritte vereinbart worden, zum Beispiel E-Sport-Nachwuchsförderung an Hochschulen, Arbeit mit Jugendlichen sowie die Einbindung der Branche in die Tourismus-Vermarktung. Geld soll es keins geben. Aber man wird sich weiter treffen. Bis zu zweimal im Jahr.
Peter Mucha würde es begrüßen, wenn Berlin eines der ganz großen Finalturniere in die Stadt holte. Nach Angaben von Riot Games hat ein europäisches Finalturnier Gastgeber Rotterdam 2019 in zwei Tagen zwei Millionen Euro Umsatz beschert. Riot hat aufgrund der hohen Nachfrage mittlerweile ein Bewerberverfahren eingeführt, in dem sich Städte um die Turniere bemühen müssen.
Wenn Berlin das WM-Finale haben möchte, müsste die Stadt einige Jahre warten – und sich auf einen Wettstreit mit anderen Metropolen einstellen. Nach Gastgebern wie Peking und Paris soll dieses Jahr Shanghai der Ausrichter sein, danach sind die USA dran.
Auch Franziska Giffey hat keine Berührungsängste
Für Vorhaben wie diese braucht die Branche Hilfe von ganz oben. Als Bittsteller sieht sich Peter Mucha aber nicht. „Ich werde mich keiner Stadt, keinem Bürgermeister anbiedern“, sagt er. „Das haben wir auch gar nicht nötig. Aber wenn Herr Müller das cool findet, wenn er darin einen neuen Aspekt für Berlin sieht – be my guest.“
Auch Franziska Giffey, Müllers baldige Nachfolgerin an der Spitze der Berliner SPD und möglicherweise auch im Rathaus, hat keine Berührungsängste mit der Branche, im Sommer besuchte sie die E-Sports-Akademie von Hertha BSC.
Die Fans, die in Adlershof nach dem Sieg gegen die Mad Lions auf Fotos mit den G2-Spielern warten, sind allesamt kaum älter als Teenager. Auch die Kommentatoren, Trainer, Schiedsrichter und TV-Experten sind im Schnitt zehn bis 15 Jahre jünger als bei anderen Sportveranstaltungen. 93 Prozent der G2-Fans sind nach Angaben des Unternehmens 34 Jahre alt oder jünger, mehr als die Hälfte ist zwischen 18 und 24.
In Adlershof ist der einzige grauhaarige Mensch weit und breit der Vater von Rasmus Winther, der stolz im G2-Trikot mit der Aufschrift „Caps Dad“ in der Menge steht.
"Man muss jedem, der über 40 ist, wirklich alles erklären"
Der Nachteil des jungen Publikums: Die E-Sports-Gemeinde kommuniziert in Codes, die für Ältere kaum zu verstehen sind. „Man muss jedem, der über 40 ist, wirklich alles erklären“, sagt Mucha. „Es gibt unglaublich viele Vorurteile.“
Nerds, verschrobene und womöglich verpickelte Sonderlinge, die im elterlichen Keller vor sich hinballern und sonst nichts auf die Reihe bekommen: das war lange das Bild von E-Sportlern. Hinzu kam der Verdacht, dass Ego-Shooter zu realen Gewalttaten verleiten können. Auch deshalb blieben Geldgeber und Politiker auf Distanz.
Das ändert sich gerade. Beim Runden Tisch mahnte die Senatskanzlei zwar „eine verstärkte Kommunikation der Branche“ an, um „bestehende Vorurteile ausräumen zu können“. Doch im September hat Michael Müller bereits eine E-Sports-Veranstaltung besucht, das „StarLadder“-Turnier im Shooter-Spiel Counter-Strike in der Mercedes-Benz-Arena. Preisgeld: eine Million US-Dollar.
Müller war der Einladung von Jens Hilgers gefolgt, Mitbegründer und Aufsichtsratsvorsitzender von G2. Hilgers ist die wohl einflussreichste Person der Berliner E-Sport-Szene, er ist ein Pionier – und er hat Visionen.
In seinem Büro in einem schmucklosen Geschäftshaus nahe Spittelmarkt hat der 44-Jährige – Kapuzenpulli, rasierter Schädel, wacher Blick – seine Vergangenheit auf Taste. Mit ein paar Klicks erscheinen auf dem großen Bildschirm an der Wand hinter ihm Fotos von jungen Männern, dicken Kabelsträngen und zahllosen Computern, aufgereiht in riesigen Hallen. 1999 organisiert Hilgers die bis dahin größte Netzwerk-Party Europas in einem stillgelegten Duisburger Umspannwerk.
Da hat er gerade eine Ausbildung als staatlich anerkannter Softwareentwickler absolviert, vorher ist er wegen zu vieler Fehlstunden von der Schule geflogen. „Mangel an Inspiration, Mangel an purpose“, sagt er heute. „Aber ich war der beste Kicker-Spieler der Schule.“
"Ich war damals der größte Geek da draußen"
2000 gründet Hilgers in seiner Heimatstadt Köln das Unternehmen Electronic Sports League (ESL) mit dem Plan, die weltweit größte Liga für Computerspiele aufzubauen. „Ich habe das geliebt – und war überzeugt davon, dass andere das auch so wahrnehmen werden“, sagt er. „Ich war damals der größte Geek da draußen.“
In seinem Büro steht Hilgers jetzt auf, tigert umher, gestikuliert. Er erinnert sich an Veranstaltungen vor 30, 100, 250 irgendwann 500 Zuschauern. Er kauft den Fernsehsender Giga-TV und sendet E-Sports, stößt den Sender wieder ab, als das Konzept nicht funktioniert, „wie bei vielen Sachen, die ich mache, war ich da ein bisschen zu früh dran“. Von 2010 bis 2012 lebt Hilgers in Peking, als er nach Deutschland zurückkehrt, ist für ihn klar, dass er nach Berlin muss.
15 Jahre lang ausgelacht - und dann diese Bestätigung!
2013 füllt die ESL erstmals die Kölner Lanxess-Arena, 15.000 Menschen beim E-Sport. In Deutschland! Von seinem Schreibtisch blickt Hilgers auf ein großes Foto von diesem Abend – kein digitales zum Wegklicken, ein gerahmtes. „Wenn du 15 Jahre lang ausgelacht wirst und niemand daran glaubt, was du da machst – diese Bestätigung war großartig.“ Gleichzeitig, sagt Hilgers, habe er an diesem Abend auch gemerkt: „Wir haben noch so viel Potential. It’s still fucking small.“
2015 verkauft er seine Firma, die mit mehr als 100 Millionen Euro bewertet wurde, und investiert in E-Sports-Start-ups, vor allem in Berlin. Er lässt sich nicht davon abschrecken, dass es nur wenige deutsche Geldgeber gibt, die an E-Sports glauben: „Deutschland hat Entertainment nicht verinnerlicht, das ist nicht unsere DNA.“
Hilgers will auch ein eigenes Team aufbauen, ist aber überzeugt, einen ehemaligen Profispieler als Partner zu brauchen. Auf einer Konferenz in Barcelona lernt er Carlos Rodriguez kennen und denkt beim Kaffee plötzlich: „Moment mal, das ist der Typ!“
Madrid? "Du musst in eine richtige Stadt gehen!"
Als sie sich einig sind, G2 ins Leben zu rufen, sagt er Rodriguez: „Das kannst du aber nicht in Madrid machen. Du musst in eine richtige Stadt gehen.“ Jens Hilgers schätzt, dass es heute in Berlin 50 bis 60 E-Sports-Unternehmen gibt, „ich kann mit Stolz sagen, dass ich einen großen Teil dazu beigetragen habe“.
Hilgers sagt, wenn man ein Unternehmen aufbaue, brauche man Zugang zu zwei Dingen: Talent und Kapital. Beim Talent sei Berlin in Europa bereits an erster Stelle, es gebe viele Programmierer, Kreative, junges Management. In Sachen Kapital stehe London noch knapp vorne, „aber London schießt sich ja gerade selber ab“. Eine Dritte Voraussetzung, „und das ist subtiler“, gebe es allerdings noch: „Dass man sich erwünscht fühlt und in eine Kultur hineinpasst.“
Am Checkpoint Charlie entsteht eine Arena
Die Infrastruktur, die Locations – all das sei bereits vorhanden. „Was die Stadt ultimativ noch machen kann, ist ein Zeichen zu geben, dass Computerspiele und E-Sports ein Teil von Berlin sind“, sagt Jens Hilgers. San Francisco bekenne sich schon dazu, eine Technologiestadt zu sein. „Aber ich habe das Gefühl, Berlin will das jetzt“, sagt Hilgers. „Und wir müssen schauen, was gesunde und passende Maßnahmen sind.“
Am Checkpoint Charlie entsteht gerade eine Art Arena, Europas größte Gaming-Erlebniswelt auf 2000 Quadratmetern. Auch G2 wird vertreten sein, die Eröffnung ist für März geplant. Die Arena könnte das Thema E-Sports in der Stadt sichtbarer machen. Denn wer fährt schon an einem Freitagabend nach Adlershof, wenn sich die Spiele der LEC auch zu Hause am Stream verfolgen lassen? Die 200 Zuschauer sind eine nette Kulisse, sie sind aber weder der echte Adressat der Veranstaltung noch ein Wirtschaftsfaktor für einen Giganten wie Riot Games, der 24 Niederlassungen auf der ganzen Welt hat.
Und doch gibt es Berliner, deren Leben E-Sports bereits verändert hat. In Adlershof kann sich Patrick Wittke vor Gesprächspartnern kaum retten, ständig möchte irgendjemand mit dem kräftigen Mann mit der Brille und dem grünen Baseballcap reden. Von den zehn Teams, die hier pro Tag antreten, sind acht seine Kunden.
Bis vor fünfeinhalb Jahren hat Wittke – 44 Jahre alt, Wilmersdorfer, Waldorf-Schüler, abgebrochenes Jura-Studium, Immobilienfachwirt – mit E-Sports überhaupt nichts zu. Der Berliner berät damals Bauträger und Immobilienfirmen. Eine Freundin bittet ihn um Hilfe bei der Wohnungssuche für einen Kunden, Wittke findet ein Objekt nahe Kurfürstendamm, der Kunde stellt sich als E-Sports-Manager heraus, der gerade von Köln nach Berlin umsiedelt. „Das war im August 2014 – in Bezug auf E-Sports ist das verdammt lange her“, sagt Wittke. „In Bezug auf mein Leben nicht.“
250 Meter Glasfaserkabel
Riot zieht damals nach Berlin, der Manager empfiehlt Wittke weiter – plötzlich wird er zum Ansprechpartner für jeden in der Szene. Er sucht Wohnungen, Büros, die er für die Teams um gestaltet. Erklärt den Chefs, wie Berlin funktioniert. Einmal lässt er Straßen in Halensee aufreißen, um 250 Meter Glasfaserkabel zu verlegen.
„Ich bin Unternehmensberater, Projektmanager – und manchmal großer Bruder“, sagt Wittke. Es kommt vor, dass ihn ein Spieler anruft und fragt, was dieser seltsame gelbe Brief und das deutsche Wort „Vollstreckungsbescheid“ zu bedeuten haben. Er hilft dann, die verschlampte Rechnung wiederzufinden und zu begleichen.+
Eine drei Wochen alte Pizza sollte man wegschmeißen
Einen Spieler mit gebrochener Hand – er hatte nach einer Niederlage mit der Faust auf den Tisch gehämmert – begleitete er zu einem Spezialisten. Er sieht in den Gaming Houses nach dem Rechten und bringt den Spielern bei, „dass man eine drei Wochen alte Pizza wegschmeißen sollte“, besonders wenn Videodrehs anstehen. „So was sehen die nicht“, sagt Wittke. „Sind halt Kids.“
Manche der Spieler, sagt Patrick Wittke, seien pfiffig. „Andere sind in Berlin im Grunde verloren.“ Dass die meisten Teams in Wilmersdorf und Charlottenburg untergebracht sind, hat viel damit zu tun, dass Patrick Wittke hier aufgewachsen ist. Und damit, dass die Verlockungen in diesem Teil der Stadt kleiner sind als in anderen Bezirken. „Wir reden hier von 18-Jährigen mit einem sehr guten Gehalt“, sagt Wittke. „Die könnten durchaus Gefallen am Nachtleben finden.“
Um Rasmus Winther müssen sich Patrick Wittke und sein Auftraggeber Carlos Rodriguez keine Sorgen machen. Das erste Wochenende der Saison ist gut gelaufen, doch Siege allein reichen nicht, die knapp 200 000 Twitter-Follower von Caps sollen auch zwischen den Spieltagen unterhalten werden. Während das Content-Team im Computerzimmer Kameras aufbaut und Lampen installiert, bekommt Winther in der Küche Make-up verpasst, an der Frisur zupft die Visagistin nur kurz herum und nickt dann anerkennend.
In anderen WGs junger Männer in Berlin hängen Poster von Fußballteams, Popstars oder Topmodels, hier hängt ein Bild der fünf G2-Profis, Winther steht in der Mitte und schaut so grimmig, wie es ihm möglich ist. Die Putzfrau ist heute nicht gekommen, der Teammanager saugt Staub und füllt den Kühlschrank mit Energy-Drinks auf.
Zehn Stunden pro Tag am PC
„Diese Content-Tage können schon manchmal langweilig werden“, sagt Winther. „Ansonsten läuft alles aber sehr gut.“ Den meisten Spaß machen ihm die echten Wettkämpfe auf der Bühne, die Entwicklung, die er mit seinen vier Mitstreitern als Team macht. „Es ist wie in einer Familie, wir sind den ganzen Tag zusammen, wir müssen uns vertragen – auch um erfolgreich zu sein.“ Als Motivation hat er das chinesische Team, gegen das sie im WM-Finale verloren haben, als Hintergrundbild seines Computers gewählt.
Um 19 Uhr hat er offiziell Feierabend, Caps spielt aber weiter, in die Nacht hinein, im Schnitt sitzt er zehn Stunden pro Tag am PC. Um 23 Uhr ist er immer noch auf Monsterjagd, auf der Streaming-Plattform twitch kann man verfolgen, wie er sich schlägt. Am unteren Bildrand steht die Zahl der Menschen, die ihm gerade zugucken: 11.684.
Manchmal, erzählt Caps, wenn er mit seinen Mitspielern ein Restaurant besucht oder ins Kino geht, wird er von Fans erkannt und um Selfies gebeten. Wie oft das genau passiert? „Schwer zu sagen“, sagt Caps. „Um ehrlich zu sein: Wir gehen nicht viel nach draußen.“