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Elias Nerlich, Mannschaftskapitän der E-Sport-Mannschaft von Hertha BSC.
© Foto: Mike Wolff

Virtuelle Bundesliga: Dieser Berliner soll Hertha zum Titel führen

Elias Nerlich ist Kapitän des E-Sport-Teams von Hertha BSC. Sein Fußball kommt ohne Geschrei und Wutgrimassen aus – und sorgt trotzdem für Streit.

Seine Finger bewegen sich so schnell, dass man ihnen kaum folgen kann. Elias Nerlich sitzt scheinbar ganz entspannt in seinem Stuhl, seine Hände aber bearbeiten den Spielkonsolen-Controller ohne Pause, die Figuren auf dem Bildschirm vor ihm gehorchen jedem seiner Befehle.

Es sind Fußballer, die rennen, grätschen, tricksen, sich den Ball zupassen, aufs Tor schießen. Nerlich spielt zurückgelehnt und konzentriert, selten löst sich sein Rücken von der Lehne des Sessels. Dann beugt er sich nach vorne und geht mit den Figuren auf dem Bildschirm mit. „Drei eins“, sagt er leise, dann: „Hier geht es nicht wirklich um was.“

Noch nicht, sollte man sagen. Denn an diesem Nachmittag im Dezember trainiert der 22-Jährige, Kapitän des E-Sport-Teams von Hertha BSC, für die neu gegründete Bundesliga im virtuellen Fußball. Organisiert wird diese von der Deutschen Fußball-Liga und dem Spielehersteller EA Sports. Ab Mitte Januar treten 22 Profivereine mit eigens gegründeten Mannschaften gegeneinander an. Erstmals wird es nicht nur einen deutschen Fußballmeister in der realen Welt geben, sondern auch einen virtuellen.

Für die Vereine geht es ums Prestige, um eine neue, junge Fan-Zielgruppe. Für die E-Sport-Branche darum, als vollwertige Sportart akzeptiert zu werden, auf einer Stufe mit Traditionsdisziplinen wie Handball oder Turnen. Elias Nerlich will die virtuelle Bundesliga dafür nutzen, seine Leidenschaft – das Computerspielen – endgültig zu seinem Beruf zu machen.

Im Raum der E-Sport-Akademie von Hertha ist nur das Surren der Computergebläse zu hören. Nerlich spielt jetzt wieder schweigend, schießt noch ein Tor, sein Gegner stellt die Taktik um, holt auf. Sehen kann Nerlich seinen Widersacher nicht, der Spieler namens „Marshmallow“ sitzt irgendwo anders vor einem Rechner, nur virtuell kreuzen sich heute ihre Wege.

Das Spiel, das beide zusammengeführt hat, heißt „Fifa 19“, die jüngste Ausgabe des erfolgreichsten Sportspiels aller Zeiten. Den Vorgänger „Fifa 18“ hat der Hersteller EA Sports weltweit 24 Millionen Mal verkauft, Elias Nerlich stand am Ende der vergangenen Saison in der Weltrangliste auf dem 49. Platz. Das reichte Hertha BSC, um ihn als Mannschaftskapitän zu rekrutieren, seine drei Teammitglieder mussten sich in einem Auswahlverfahren durchsetzen, gegen mehr als 2100 Konkurrenten im Alter von zwölf bis 18 Jahren. E-Sport-Profi – für viele Jugendliche ist das ein Traumberuf.

Elias Nerlich ist mit 22 Jahren der älteste im vierköpfigen Hertha-Team, ein Berliner Junge wie auch zwei weitere Teamkameraden. Der jüngste heißt Kai, ist 14-jähriger Schüler und lebt bei Stuttgart. Für Trainingslager reist er extra nach Berlin. „Andere Klubs haben sich Mannschaften mit guten Spielern zusammengekauft“, sagt Maurice Sonneveld, Leiter Digital Media bei dem Berliner Fußballverein. Hertha hingegen setze auf behutsame Aufbauarbeit, auf Nachhaltigkeit. Und auf Fußball-Nähe: dass man eine Mannschaft für ein Ballerspiel wie „Counterstrike“ aufstelle, sei ausgeschlossen, sagt Sonneveld.

Im Trainingsraum: das Beste vom Besten

Strategiespiele mit Killer- und Baller-Aspekten wie „League of Legends“ oder „Overwatch“ sollen – das wollen jedenfalls die E-Sport-Funktionäre und Lobbyisten – ebenfalls als Sportveranstaltungen anerkannt werden. Junge Profis spielen diese Spiele in Turnierserien vor tausenden Zuschauern. Politiker, Sportfunktionäre, Lobbyisten der Spieleindustrie und Wissenschaftler streiten darüber, ob die Betätigung an einer Spielkonsole und einem Bildschirm als „Sport“ angesehen werden kann. Es geht um die Vorteile der Gemeinnützigkeit. Und darum, was es für Eltern bedeutet, wenn ihre Kinder virtuellen Fußball spielen und sagen: Was willst du – ich mache doch Sport?!

Im Trainingsraum auf dem Vereinsgelände von Hertha BSC steht das Beste vom Besten, spezielle superschnelle Gamer-Computer, vor Nerlich sind drei Monitore aufgereiht. Die Sessel mit den hohen Rücklehnen und der raffinierten Polsterung wirken wie für Aufsichtsratsvorsitzende gebaut. Um einen der Tische herum sind LED-Leuchten installiert, damit die Spieler im besten Licht erscheinen. Denn beim E-Sport geht es nicht nur um Sieg oder Niederlage, sondern immer auch darum, sich im Internet zu präsentieren. Der Trainingsraum ist zugleich Studio.

Elias Nerlich stellt in seinen Videos, die er bei Youtube hochlädt, seine Mannschaft neu zusammen und lässt sich dabei von echten Hertha-Fußballprofis beraten. Mal ist Angreifer Pascal Köpke dabei, dessen Fähigkeiten als Fifa-Figur mit viel Lachen kommentiert werden, mal Verteidiger Jordan Torunarigha, der angeblich selbst gern zum Fifa-Zocken vorbeikommt. Die Videos sollen Nähe schaffen: zwischen Nerlich und seinen 11.000 Abonnenten, die vermutlich Fifa spielen. Aber auch zwischen der Gamer-Szene und Hertha.

Ein paar Mineralwasserkästen stehen in einer Ecke. Ein Sitzwürfel der AOK zeugt von der Zusammenarbeit zwischen E-Sport-Akademie und Krankenkasse. Die Hertha-Zocker sollen nicht bloß erfolgreich spielen. Sie sollen auch auf ihre körperliche Fitness achten und darauf, wie man sich während eines Turniers gesund ernährt, sagt Sonneveld. Man sei auch mit Eltern und Lehrern in Kontakt.

Elias Nerlich verbringt jede Woche viele Stunden hier – er habe in dem Raum sogar schon mal geschlafen, sagt er. Er ist fertig mit der Schule und will in nächster Zukunft vom und für den E-Sport leben. Wie seine Teamkollegen bekommt er von Hertha ein Honorar. Über dessen Höhe will Digital-Chef Maurice Sonneveld nichts sagen. Nerlich wohnt bei seinem Vater und hätte, wäre er nicht zum E-Sport gekommen, wohl studiert. Sport auf Lehramt schwebte ihm vor, er wirkt sportlich, geht regelmäßig in ein Fitnessstudio.

Ein E-Sport-Turnier in der Potsdamer Schinkelhalle.
Ein E-Sport-Turnier in der Potsdamer Schinkelhalle.
© Andreas Klaer

Im Alter von vier Jahren hat er angefangen Fußball zu spielen, damit ist jetzt aber erst einmal Schluss. Beim Gehen zieht Nerlich ein Bein ganz leicht nach. Beim Analog-Fußball hat er sich das Wadenbein gebrochen und ein Kreuzband gerissen. Seit anderthalb Jahren lebt er mit den Folgen der Verletzung. Deswegen hatte er viel Zeit, um Fifa zu spielen – und dabei gesehen, dass er in der Weltrangliste weit vorne rangierte.

Doch eine gute Weltranglistenplatzierung hilft auch nichts, wenn sich ein Gegner so hartnäckig zeigt wie dieser Marshmallow. „Der gibt sich noch nicht geschlagen“, sagt Maurice Sonneveld, der Nerlich jetzt über die Schulter schaut. Nerlich gewinnt am Ende doch, die Fehlersuche beginnt. Gemeinsam mit Sonneveld sieht er sich die Tore an, die Marshmallow gemacht hat. Sonneveld fragt, ob Nerlichs Viererkette zu weit vorn gewesen sei. Die ruhige Antwort: „Das ist mein Spielstil – ich spiel’ immer Pressing.“ Dann widmet er sich der nächsten Aufgabe, der Herstellung eines Videos. Für einen Zehn-Minuten-Film brauche er etwa vier Stunden, sagt er.

Der Fußball, den Elias Nerlich lebt, kommt ohne Geschrei, Wutgrimassen und Männerumarmungen aus, das bleibt den virtuellen Spielergestalten auf den Bildschirmen überlassen. Ohne Bier und Würstchen, ohne Ströme von Aggressivität und Empörung, ohne Schweißgeruch oder Regenschauer.

Bei Turnieren haben die Spieler einen Puls von 180

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat ein Problem damit, Spieler wie Elias Nerlich als Sportler anzuerkennen. DFB-Präsident Reinhard Grindel schimpfte im März, die Befassung „mit digitalen Endgeräten“ sei für ihn kein Sport und führe für Kinder und Jugendliche zu einer „absoluten Verarmung“. Der Deutsche Olympische Sportbund ist offenbar zwiegespalten. Er will, wie es in einer Erklärung heißt, „elektronische Sportartensimulation von E-Gaming unterscheiden“. Virtuelle Sportarten böten für Vereine und Verbände „Potenzial für eine Weiterentwicklung“ – E-Gaming aber passe nicht zum gemeinwohlorientierten Sport.

Für Hans Jagnow, Präsident des E-Sport-Bundes Deutschland, ist E-Sport hingegen „der unmittelbare Wettkampf von Menschen“. Jagnow ist Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. E-Sport erfordere schnelle Reaktion, motorische Fähigkeiten und das Vermögen, ein Spiel zu begreifen. Damit seien die gängigen Kriterien für „Sport“ erfüllt.

Herthas Digitalchef Maurice Sonneveld sagt, bei Turnieren hätten die Spieler einen Puls von 180 – wie ein Formel-1-Fahrer. Die Spiele bei „Fifa 19“ sind kurz, eine Halbzeit dauert vier oder fünf Minuten. In dieser Frist werden die 45 Minuten einer analogen Halbzeit auf einer rasant laufenden Uhr abgezählt: beschleunigte Wirklichkeit. Nerlich erzählt, an Turniertagen trinke er drei oder vier Liter Wasser. „Nach einem Wettkampf ist man echt am Ende. Ein Wettkampf ist intensiv, weil auch immer dieser Druck da ist, die ganze Zeit.“ In der Weltrangliste geht es schnell nach oben, aber auch schnell wieder nach unten.

Der Streit über den E-Sport dauert schon einige Jahre. 2016 forderten die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus den Senat auf, eine Initiative zur Anerkennung von E-Sport auf Bundesebene zu unternehmen. In der Debatte sagte die Linkspartei-Abgeordnete Gabriele Hiller, ihr tue es um jede Minute leid, „die wir hier vergeuden, statt Sport zu treiben“. Der Antrag wurde abgelehnt. Zwei Jahre später findet sich in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD das Bekenntnis zur „wachsenden Bedeutung der E-Sport-Landschaft“. Und weil der E-Sport „wichtige Fähigkeiten schult“, soll er als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anerkannt werden und eine olympische Perspektive bekommen.

Nerlich wirkt bei aller Professionalisierung noch immer so. als habe er einfach Spaß am Spielen. Darauf komme es an bei Fifa, sagt er: „Spaß zu haben. Wenn man Spaß an der Sache hat, dann spielt man auch gut.“ An einigen Wochenenden vor dem Liga-Beginn trifft sich die Mannschaft von Hertha BSC im Trainingsraum zum „Bootcamp“. Trainer Daniel Brandt – 26 Jahre alt, kräftige Statur, Undercut – erläutert ein paar Finessen von „Fifa19“. Das Spiel wird von Jahr zu Jahr in wichtigen Details verändert. Gleich bleibt: Um erfolgreich zu sein, muss man viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, gegen unbekannte Gegner antreten, Spielzüge und Taktiken testen, Einstellungen verändern, neue Spieler ausprobieren. Man ist Spieler, Trainer, Manager und Analytiker in einem, wer oft gewinnt, kann die eigene Mannschaft mit Topfußballern aufrüsten.

Das ist die virtuelle Fifa-Wirklichkeit: Fußball ohne Grenzen, die die Zeit oder das Geld setzen. Die virtuellen Mannschaften sind alterslos, hier kann der Niederländer Johan Cruyff, 2016 im Alter von 68 Jahren gestorben, aktuell auflaufen. Und es kann sein, dass der Brasilianer Pelé, heute immerhin 77 Jahre alt, auf beiden Seiten mitspielt. Nerlich stellt im Angriff gerne seinen analogen Lieblingsspieler Cristiano Ronaldo neben Eusebio auf, der 2014 gestorben ist.

Sport - eine letzte Möglichkeit der Körpererfahrung?

Dann will Trainer Brandt sehen, wie Elias gegen Kai spielt, der Älteste gegen den Jüngsten. Wobei der Jüngste als das Supertalent der Mannschaft gilt. Kai ist ein schlanker blonder Junge mit einem freundlichen Lächeln. Beim Zweikampf gegen Nerlich ist ihm keine Regung anzumerken. Die gleiche konzentrierte Entspanntheit, eher langsam kaut er einen Kaugummi. Beim drei zu drei kommt es zum Elfmeterschießen, und Elias ruft Kai zu: „Ich bin in Deinem Kopf drin!“ Der Trainer sagt: „Speicher’ mal bitte ab.“ So kann er sich das Spiel auf dem Rechner zuhause noch mal ansehen und Stärken und Schwächen der beiden E-Sportler analysieren.

Der Sportausschuss des Bundestags will sich demnächst mit dem Thema E-Sport befassen. Die Regierungsfraktionen wollen den E-Sport fördern, die Grünen ebenfalls. Deren Obfrau im Sportausschuss Monika Lazar sagt, dazu gehöre allerdings auch ein Anti-Doping-Regelwerk – „und wir brauchen präventive Maßnahmen zum Beispiel gegen Computerspielsucht“. Elias Nerlich sagt, Doping sei bei Fifa kein Thema. „Bei anderen Games sollen Leute etwas für die Konzentrationsfähigkeit nehmen. Ich selbst habe es noch nicht mitbekommen.“ Und die Suchtgefahr? „Manche vernachlässigen ihr Umfeld. Das kenne ich von Mitschülern aus der Schulzeit. Dafür muss man der Typ sein.“

Sportwissenschaftler warnen vor anderen gesundheitlichen Schäden. Vor einer Jugend, die nur noch daddelt und über Kopfhörer und Mikrofone kommuniziert, die vom Sitzen Rückenschmerzen bekommt, bevor sie eine Arbeitswelt betritt, die aus Bildschirmen und Tastaturen besteht. Für Carmen Borggrefe sind die Nebenwirkungen des Gamings der stärkste Grund, der Entwicklung entgegenzutreten und dem E-Sport die Anerkennung zu verweigern. Carmen Borggrefe ist Sportwissenschaftlerin an der Universität Stuttgart.

In Vorträgen und Artikeln wirbt sie für den Sport als „analoges Refugium“ in Anbetracht der fortschreitenden Digitalisierung. Sport ist – zumindest für alle, die nicht körperlich arbeiten – eine der letzten Möglichkeiten der Körpererfahrung. Es sei auch nicht die Frage, ob die Entwicklung zum Dauer-Gamen bei vielen Jugendlichen noch aufzuhalten sei. „Die Frage ist: Will man es beschleunigen?“, sagt Borggrefe, die auf eine Sportlerinnenlaufbahn im Handball und Tennis zurückblickt. Computerspielsucht werde zum Beispiel in Kalifornien mit Therapien behandelt, in denen Jugendliche mit körperlichen Tätigkeiten wie Gartenarbeit beschäftigt werden – oder eben mit Sport.

Als Elias Nerlich beschloss, professioneller Fifa-Spieler zu werden, wurde er viel kritisiert. Sein Vater sei skeptisch gewesen, Freunde ebenfalls. „Einige haben es nicht verstanden, da es ein neuartiges Gebiet ist“, sagt er. „Dann haben sie die Chance gesehen und gesagt: Wenn Du einer der besten bist, solltest Du die Chance auch nutzen.“

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