Wahl-Serie: Klima: Die Zukunft wohnt in Reinickendorf
Berlin soll 2050 eine klimaneutrale Stadt sein, hat der Senat beschlossen. Umsetzen muss das Ziel die nächste Landesregierung. Die Anpassung an den Klimawandel ist aber nicht nur eine ökologische, sondern auch eine soziale Frage.
Im „Langen Jammer“ ist die Zukunft schon Gegenwart. Zumindest in ökologischer Hinsicht. Das längste Wohnhaus Deutschlands mit 977 Wohnungen, einst übel beleumundet als Schreckgespenst fehlgeleiteten Sozialwohnungsbaus, ist nun wie alle Gebäude im Märkischen Viertel ein Vorzeigeprojekt, auf das die Gesobau stolz ist.
In den vergangenen acht Jahren hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft alle 13.500 Wohnungen im Märkischen Viertel saniert und zu Deutschlands größter Niedrigenergie-Siedlung gemacht. Was der Senat mit dem im April verabschiedeten Energiewendegesetz anstrebt, die Stadt bis 2050 klimaneutral zu machen, ist hier in Reinickendorf schon fast erreicht. Über eine halbe Milliarde Euro hat es gekostet, die Fassaden und Fenster energetisch zu sanieren und alle Wohnungen der 40 Jahre alten Siedlung mit einer effizienten Versorgungstechnik und schmucken neuen Bäder auszustatten. Ganz nebenbei wurde die Siedlung aufgehübscht, wurden dunkle Ecken beseitigt und unübersichtliche Eingangsbereiche neu gestaltet.
Jetzt präsentiert sich rund um das Einkaufszentrum am Wilhelmsruher Damm eine Vorzeigesiedlung mit Vollvermietung. Vor allem aber wurde der Kohlendioxid-Ausstoß durch die energetische Sanierung um jährlich fast 40 000 Tonnen gesenkt. Besonders stolz aber ist Georg Unger, der technische Leiter der Gesobau, seine Versprechen gegenüber den beunruhigten Mieter erfüllt zu haben. Trotz der immensen Investitionen zahlen die Mieter für ihre Wohnungen heute kaum mehr als beim Sanierungsbeginn vor acht Jahren. Möglich wurde das, weil für die Mieter durch die energetische Sanierung die vorher überdurchschnittlich hohen Heizkosten nahezu halbiert werden konnten. Eine Vertreibung von Mietern durch abrupte Mietsteigerungen, wie sie vielfach in der Innenstadt zu beobachten ist, weil die hohen Kosten einer Modernisierungsmaßnahmen umgelegt werden, hat es im Märkischen Viertel nicht gegeben.
Verdunstung soll gegen die Hitze der Zukunft helfen
Wenn es um die Klimaziele Berlins geht, wird aus der ökologischen Frage nämlich schnell ein soziales Problem. Umweltgerecht und preiswerte Mieten – beides ist schwer in Einklang zu bringen. Den Klimaschützern kann es nicht schnell genug gehen mit der Energiewende und der Anpassung der Gebäude an den Klimawandel. Doch dies ist vor allem eine Kostenfrage. „Man kann viel machen“, warnt Georg Unger, „aber es muss sich rechnen und für die Mieter bezahlbar bleiben“. Und da sind die Grenzen bei Geringverdienern schnell erreicht. Unger befürchtet wiederum, dass sich private Eigentümer eine energetische Sanierung sparen, wenn sie die Kosten nicht mehr wie bisher umlegen können. Hier muss die Politik dringend Lösungen finden, wenn sie den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2050 auf Null bringen möchte. Denn Wohngebäude sind für die Hälfte aller CO2-Emissionen in Berlin verantwortlich.
Eine Alternative aber gibt es nicht. Der Klimawandel ist längst im Gange: häufige Hitzeperioden, dazu vermehrt Starkregen, wie ihn Berlin erst vor zehn Tagen erlebt hat, werden um 2050 zum Alltag gehören. Bis zum Jahr 2100 rechnet man mit einem Anstieg der Durchschnittstemperatur von 2,5 Grad Celsius. Dann wird Berlin das selbe Klima habe wie heute das südfranzösische Toulouse, sagt das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. Die Stadt muss sich anpassen: Begrünte Fassaden und Feucht-Dächer sollen Häuser kühlen, Grünanlagen werden zu unverzichtbaren Frischluftschneisen, dazu kommen im „Schwammstadt“-Konzept große Flächen, wo Regenwasser aufgefangen wird und anschließend bei Hitzeperioden verdunsten kann. Kühlende Arkaden wie im Süden werden ein architektonisches Stilmittel werden. Besonders aufheizen werden sich die eng gebauten Gründerzeitquartiere, in denen fast vier von zehn Berlinern leben. Durch den Hitzestress steigt zudem das Gesundheitsrisiko vor allem älterer Menschen. Berlin hat freilich den Vorteil gegenüber anderen Metropolen, dass mit 44 Prozent Wald, Gewässern, Kleingärten und Parks der Grünanteil an der Gesamtfläche enorm hoch ist. Auch die 450 000 Straßenbäume können die Aufheizung bremsen.
Noch ein Vorteil könnte die wachsende Stadt sein. Die möglicherweise vier Millionen Einwohner, die Berlin schon 2020 haben könnte, bedeuten zwar steigenden Ressourcenverbrauch und zunehmende Umweltbelastung. Wo aber viel gebaut wird, fallen Anpassungsmaßnahmen leichter.
Um den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid zu senken, muss sich die Energieerzeugung radikal ändern hin zu nachwachsenden Rohstoffen, Wind und Solarenergie. Da ist noch viel zu tun. Bundesweit produzieren Sonne und Wind schon 30 Prozent des Stroms, in Berlin sind es magere zwei Prozent. In Reinickendorf ist man auch hier schon weiter.
20 Lastwagen voller Holzschnitzel täglich
Rohre, Rohre , Rohre – die energetische Zukunft liegt in einem labyrinthischen Geschlängel stählerner Leitungen. Hans-Joachim Steglich kennt sie alle und weiß genau, wofür welcher rote Absperrhahn gebraucht wird. Er ist Betriebsleiter des Vattenfall-Biomassekraftwerks, das die Erfolgsgeschichte Märkisches Viertel erst komplett macht.
Der Betriebsleiter hat noch erlebt, wie das in den 60er Jahren für die Fernwärmeversorgung des Märkischen Viertels gebaute Kraftwerk eine Steinkohle-befeuerte Dreckschleuder war. Heute ist die Anlage Berlins einziges klimaneutrales Kraftwerk – betrieben mit kleingehäckseltem Holz. Gegenüber früher werden jährlich 26 000 Tonnen Kohlendioxid eingespart. Den hohen Schornstein gibt es nur noch, weil er unter Denkmalschutz steht.
Mit einem 75 Kilometer langen unterirdischen Rohrnetz werden heute nicht nur das Märkische Viertel, sondern insgesamt mehr als 30 000 Wohnungen geheizt und mit Warmwasser versorgt. Daneben gehören im Norden Berlins viele Betriebe, Kitas, Schulen, die Karl-Bonhoeffer-Klinik oder das Paracelsus-Bad zu den Abnehmern der Fernwärme. Anders als früher wird im Kraftwerk auch Strom erzeugt; die Turbine auf tausende Umdrehungen gebracht durch den heißen Dampf. 1600 Grad heiß wird die Luft in der Brennkammer; ein Höllenfeuer lodert, dass einem der Schweiß schon beim Blick durch die dicke Scheibe des Kontrollluke auf der Stirn steht.
In der Leitstelle wird rund um die Uhr die Anlage gesteuert und die vom Feinstaub gereinigte Abluft permanent auf die Abgabe von Schadstoffen überwacht. Gegenüber früher hat sich die Fernwärme-Lieferung ins Märkische Viertel in den vergangenen Jahren freilich nahezu halbiert. Für das Berliner Klima ist das eine gute Nachricht.
Jeden Tag wird der nachwachsende Brennstoff von bis zu 20 Lastwagen angeliefert; 27 000 Tonnen sind es im Jahr. In drei riesigen Bunkern wird das kleingehäckselte Holz gelagert; eine automatisch arbeitende Krananlage schichtet die bis zu 16 Meter hoch aufgetürmten Holzschnitzel auf das Laufband vor der Brenneranlage. Das Holz für die grüne Wärme kommt unter anderem aus Brandenburg, wo Vattenfall auf eigenen Flächen schnellwachsende Pappeln, Robinien oder Birken pflanzt und erntet.
Wie die Stadt wachsen und sich an geänderte Klimaverhältnisse anpassen kann, ohne an Lebensqualität einzubüßen, wird den nächsten Senat beschäftigen müssen. Noch stehen Entscheidungen aus. Bislang ist etwa nur ein Prozent der öffentlichen Gebäude energetisch saniert. Wie es gehen kann, ist im Märkischen Viertel zu lernen.
Dieser Text ist Teil unserer Serie zur Berlin-Wahl 2016. In der dritten Folge ging es die Gesundheitspolitik. Wir stellten fest, dass die Senatsressorts in der Seniorenpolitik künftig besser zusammenarbeiten müssen. Den Text finden Sie hier. Und dass die Verteilung der Ärzte in der Stadt bald besser werden könnte: hier. Und es gab ein Gespräch mit Ärztekammerpräsident Jonitz: hier.
Die nächsten Folgen: Verkehr, 9.8., Sicherheit, 11.8., Integration, 13.8., Wirtschaft, 15.8., Ämter, 17.8., Demokratie, 19.8.