Nach Tod einer Elfjährigen: Die Wutreden des Anti-Mobbing-Trainers
Der Tod eines Mädchens hat eine Debatte über Mobbing an Schulen ausgelöst. Carsten Stahl hat daher Eltern und Politiker eingeladen. Zu Wort kommen sie kaum.
Noch bevor die Veranstaltung beginnt, geht das Schauspiel los. Im Saal des Seniorenheims Domicil in der Reinickendorfer Herbststraße steht am Freitagabend kurz vor 19 Uhr Anti-Mobbing-Coach Carsten Stahl und gibt ein Interview. Rollkragenpullover unter Jackett, Jeans über Schnürschuhen, die Haare trägt er an den Seiten kurz. Der Journalist stellt kaum zwei Fragen, da hat sich Stahl bereits derart in Rage geredet, dass sein Gesicht rot anläuft und an seinem tätowierten Hals eine dicke Ader pulsiert.
Als der Saal schon gefüllt ist, dreht Stahl sich zum Publikum um und brüllt: „Ich vermisse Frau Scheeres – ich vermisse Herrn Müller – ich vermisse die, die etwas tun könnten.“ Es ist der letzte Satz des Interviews und die Menge applaudiert.
Es ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was in den kommenden zwei Stunden folgen soll. Mehr als hundert Eltern der Hausotter-Grundschule haben sich versammelt, und ihr Anliegen ist ernst. Kaum mehr als eine Woche ist es her, dass eine elfjährige Schülerin sich das Leben genommen hat. Die Eltern sind da, weil sie wütend sind, weil sie sich alleine gelassen fühlen und weil sie wissen: So geht es nicht weiter. Nicht erst seit dem Suizid der Schülerin gebe es Probleme, sagen die Eltern, Mobbing und Gewalt seien seit Jahren an der Schule präsent.
Burkard Dregger, Oppositionsführer der CDU im Abgeordnetenhaus, und Norbert Raeder, Bezirksverordneter für die CDU in Reinickendorf, sind am Freitagabend auch da, doch sie kommen kaum zu Wort. Genau wie die Eltern. Wer zu Wort kommt, ist Carsten Stahl.
Er glaubt, die Verantwortliche für die Misere zu kennen: Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD. Es sei ihr egal, was mit den Schülern passiere. „Sie war hier an der Schule, aber mit dem Pöbel hat sie nicht gesprochen.“ Stahl ist einer, der sagt, was er denkt, sagt er. Einer auch, der weiß, wovon er spricht, und er erzählt noch mal die Geschichte, wie er als Kind fast gestorben wäre, weil ihn Jugendliche verprügelten. Wie er dann selbst zum Täter wurde und wie sein eigener Sohn nicht mehr zur Schule gehen wollte, als dieser gehänselt wurde.
Warum das Mädchen sich so schwer verletzte, dass es später im Krankenhaus verstarb, meint Stahl genau zu wissen. Wer daran zweifelt, dem sagt er: „Und immer wieder dieser Spruch: Es war ja vielleicht gar kein Mobbing. Ich frage mich, wie lange braucht ihr für 'ne Autopsie? Es gibt doch nur drei Optionen: Unfall, Mord und Selbstmord, mehr geht ja nicht.“ Nicken im Publikum.
Die Leiterin der Schule, Daniela Walter, widersprach dieser Lesart bei der Mahnwache vor einer Woche. Ja, es gebe Mobbing, sagte sie. Darum kümmerten sich aber Sozialarbeiter und Konfliktlotsen an der Schule. Es werde alles getan, um solche Vorfälle zu verhindern. "Jeder kann sich auch an mich wenden. Ich habe offene Ohren", sagte sie.
Carsten Stahl hat auch eine Petition mitgebracht
Dass es an diesem Abend nicht um ihn geht, ruft er der Elternschaft immer wieder zu: "Wir. Haben hier. Eine Bewegung geschaffen." oder "Ganz Deutschland redet über Mobbing, weil ihr zusammenhaltet." Und er hat den Eltern auch eine Petition mitgebracht, adressiert an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) und an die Bildungssenatorin Scheeres, über dem Text prangt das Logo seiner Anti-Mobbing-Initiative "Stoppt Mobbing". "Die Zustände, und der Umgang der Verantwortlichen der Schule mit dem Problem Mobbing" sei "unverantwortlich und im höchsten Maße befremdlich und schockierend", steht da. Und: "Unser Vertrauen in die Lehrerschaft und die Schulleitung ist sehr belastet."
Es dauert nicht lange, bis die Stimmung angeheizt ist und Stahl der Saal zu entgleiten droht. Die Eltern wollen Fassbares, echte Lösungen und zwar bald. "Wie lange sollen wir denn noch warten?", ruft eine Mutter. "Da muss man doch die ganze Schule austauschen! Da muss man ganz oben anfangen!", ruft ein Vater. Eine Mutter fragt, wie das gehen solle, ohne Lehrer. Andere wissen die Antworten: "Das ist doch nicht unser Problem, das ist doch Frau Scheeres Problem. Sonst passiert doch nie etwas."
Denn nicht nur die Gewalt unter den Kindern, vor allem Gewalt, die von den Lehrern ausgehe, sei das Problem, so der Tenor. Entsprechende Vorwürfe gibt es bereits seit 2013. Gegen eine Lehrerin laufen deswegen zwei Strafverfahren.
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