Zum Totensonntag in Berlin: Die Toten gehören unter die Lebenden
Verkompostiert im Ruheforst, gestapelt in der Urnenkirche, verstreut im Meer? Bloß nicht! Wir brauchen weiterhin den Friedhof als Begegnungsort. Ein Plädoyer für ein Kulturgut.
Wenn sonntags die Mutter anruft, klingt das meistens so: „Gestern war ich nach dem Einkaufen noch bei Papa. Einmal gießen und rüberharken. Und dann bin ich ewig nicht weggekommen, so viele Leute habe ich getroffen.“ Der Begräbnisplatz als Kontakthof. Was dem Hipster sein Club, ist dem Senior der Friedhof. Zu schön, um wahr zu sein? Auf dem Dorf funktioniert das noch.
Und nicht nur dort, wenn man sich die Berliner Friedhofsaktivitäten der letzten Jahre anschaut. Es existiert parallel zur Debatte um Neunutzungen und Flächenumwidmungen eine Bewegung, die die Totenorte in der Stadt auch für die Lebenden bewahren will.
Dazu gehören die florierenden Friedhofscafés in Kreuzberg und Schöneberg. Die neuerdings durch Lichtkunst von James Turrell veredelte Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs. Die zahlreichen Patenschaften für historische Grabmäler. Oder der Verein Kulturkapellen, der Kapellen und leer stehende Verwalterhäuser mit Konzerten und Kunstausstellungen bespielt.
Da treffen sich Blumengießer, Trauergruppen, Kaffeetrinker und Kulturbesucher in Grußweite der Verblichenen. Im besten Fall eingedenk des schön schrecklichen Epitaphs mittelalterlicher Beinhäuser, das auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof auch als Grabmalinschrift zu lesen ist: „Was ihr seid, das waren wir. Und was wir sind, das werdet ihr.“ In jedem Fall aber in großer Gesellschaft: Nach wie vor lassen sich 95 Prozent der Deutschen auf Friedhöfen bestatten.
Die deutsche Friedhofskultur soll auf die Unesco-Welterbeliste
Und doch: Der abendländische Friedhof hat ein Imageproblem. Seine mehr als 2000 Jahre alte Geschichte erodiert. Und das schon seit den 1980ern, als sich die ersten Verstorbenen dem Gestaltungsdiktat und Kostendruck des Reihengrabs widersetzten und unter grüne Rasenflächen flüchteten. 2001 ging die Wanderbewegung gar hinaus ins Freie: Die von den Kirchen anfangs noch als „neuheidnisch“ abgelehnten Friedwälder kamen in Mode. Von 2008 bis 2013 hat sich die Zahl der Urnenbestattungen am Baum mit 45.000 Beisetzungen deutschlandweit mehr als verdoppelt. Und nun hat als erstes deutsches Bundesland Bremen den „Friedhofszwang“ gelockert. Das Verstreuen der Asche im heimischen Garten ist, mit strengen Auflagen, möglich.
Da kommt eine Initiative zur rechten Zeit, die der Begräbnisstätte wieder mehr Wertschätzung im öffentlichen Bewusstsein verschaffen will. Und zwar nicht nur den kulturhistorisch und künstlerisch bedeutsamen Friedhöfen, die in Berlin längst als Touristenattraktion fungieren und ohnehin unter Denkmalschutz stehen, sondern auch unspektakulären Provinzfriedhöfen. Die in Hamburg sitzende „Initiative Kulturerbe Friedhof“ beantragt gerade, die deutsche Friedhofskultur auf die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes setzen zu lassen.
Sprecher Tobias Pehle fängt in der griechischen Antike an, wenn er den Friedhof preist. „Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht“, zitiert er den Staatsmann Perikles und entwirft das Bild eines blühenden Orts menschlichen Miteinanders, als identitätsstiftende Gedächtnislandschaft und einzigartige Verschmelzung zwischen Gartendenkmal, Skulpturenpark und privatem Schrebergarten der Erinnerung. Pehle sieht die Rückbesinnung auf die Friedhöfe in vollem Gange: „Die große Welle der anonymen Bestattungen ist durch, auch die Zulassungsanträge für Urnenwälder gehen in Deutschland zurück“, sagt er.
Unterstützt wird die Initiative von Gelehrten wie dem Archäologen, Kunsthistoriker und Theologen Reiner Sörries. Der langjährige Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel hat die Kulturgeschichte von Trauerritualen und Begräbnisstätten in zahlreichen Büchern ausgelotet. Sein Schnelldurchlauf der Friedhofsgeschichte macht sich an den Knackpunkten Reformation, Kommunalisierung und Feuerbestattung fest. Deren Wiedereinführung 1876 hat alle freieren Bestattungssitten erst möglich gemacht. Im säkularen Berlin ist der Siegeszug der Verbrennung eindrucksvoll: 80 Prozent wählen hier heute die Einäscherung.
Warum an Gräbern festhalten, wenn im Netz üppige Trauerseiten locken
Sörries macht die Einzigartigkeit der deutschen Friedhofskultur an der Friedhofsreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest. Aus ihr gingen stimmungsvolle, um Einbettung der Gräber in die Natur bemühte Wald- und Parkfriedhöfe hervor, wie der in Hamburg-Ohlsdorf oder der Südwestkirchhof Stahnsdorf vor den Toren Berlins. „Seitdem verstehen wir den Friedhof als Einrichtung, in der alle Menschen gleichberechtigt sind.“ Das meint die Abkehr von der protzigen Monumentenkultur der Gründerzeit, hin zu einer demokratischen, bescheideneren Friedhofskultur.
Deren striktes Reglement legte allerdings den Grund für den in den 1970ern aufkommenden stereotypen Einheitsbrei von immer gleichen Gräbern mit auf Hochglanz polierten Industriesteinen. In dieser ästhetischen Öde sieht Reiner Sörries denn – neben der Säkularisierung, den unverbindlicheren Familienstrukturen, den Finanzen – einen der Gründe für die Sehnsucht der Menschen nach freieren Bestattungsformen. „Wir haben die Grabmale immer billiger gemacht. Und mit dem Senken des materiellen Werts, haben wir auch den kulturellen und spirituellen heruntergerechnet.“ Schließlich war das Grab nur noch ungeliebte Konvention. Wozu daran festhalten? Zumal die digitalisierte Welt mit visuell üppigen Trauerseiten lockt.
Trotzdem: „Der Friedhof ist der einzige Ort, der uns mit unserer Endlichkeit konfrontiert“, sagt Sörries und empfiehlt als Vorbild die Schweiz. Dort begegnet man der Friedhofsflucht mit Beerdigungen aus Steuermitteln. Bei den Sozialbestattungen sei ein Erdbegräbnis Standard und nicht wie in Berlin die Feuerbestattung. Und – oh du selige Schweiz! – in Zürich etwa würden die Trauernden sogar mit dem Taxi zum Friedhof und zurückgefahren, lobt Sörries, der ansonsten nichts dagegen hat, Überhangflächen von Friedhöfen als Bauland zu verkaufen. Allerdings nur, wenn der Erlös in eine Stiftung zur Erhaltung der Friedhöfe fließt und nicht im Etat von Kommunen oder Kirchen versickert.
Dabei bleibt die Frage, von welchen Tendenzen die Friedhöfe der Zukunft ästhetisch, sozial und organisatorisch geprägt werden. Die Antwort für Reiner Sörries und viele andere Kenner der Materie: Menschen wollen verstärkt die individuellen Bezugspunkte ihres Lebens ins Jenseits transferieren. Fußballfans, Lesben, Schwule und viele andere Gruppierungen möchten ihre Gemeinschaft auch im Tod pflegen. Genauso wie Migranten, die ihre Identität auf die Friedhöfe bringen. So wie die Gräber der Sinti aus Ex-Jugoslawien auf den Friedhöfen an der Neuköllner Hermannstraße. Dort prangen opulente lasergravierte Konterfeis der Verblichenen auf poliertem Granit, leuchten goldene Gravuren, lockt ein Picknicktisch neben der Grablege. Auch anderswo wird das Grab wieder verstärkt zum Statement: In Hamburg-Ohlsdorf stehen seit zehn Jahren wieder neu erbaute Mausoleen auf dem Friedhof. Das Stück für 100 000 oder 150 000 Euro.
Der Tod ist die Prüfung, die wir alle bestehen
Von solcher Kundschaft kann der Berliner Steinbildhauermeister Nikolaus Seubert nur träumen. Er ist einer derjenigen, die gerufen werden, wenn es in Berlin um ein Grabmal mit künstlerischem Anspruch geht. Seine Werkstatt liegt in Prenzlauer Berg am Neuen St. Marien- und St. Nikolai- Friedhof. Man sieht Stelen, in die Erinnerungsstücke der Toten eingearbeitet sind. Auf denen Weingläser, Reben, Spielkarten oder Gedichte der Verstorbenen prangen. Er bediene die Nische der Individualisten, sagt Seubert. Der Menschen, die sich Gedanken über ihre verstorbenen Lieben machen. Und durchaus akzeptable vierstellige Beträge zahlen. Sein Anspruch ist eine Formensprache, die über den Namen des Toten hinausgeht. Jenseits von programmierbaren digitalen Grabsteinen und in Stein gemeißelten QR-Codes. „Wenn die Angehörigen durch das Grabzeichen etwas von dem Verstorbenen spüren, ist es eine gute Arbeit.“ Und obwohl ihm dabei persönlich kein Reglement groß zu schaffen macht, sagt er wie Reiner Sörries: „Die Friedhöfe müssen liberaler, flexibler werden.“ Den veränderten Bedürfnissen in Bestattungs- und Gestaltungsformen Rechnung tragen. Auch mal Trauerfeiern am Sonnabend möglich machen, für Auswärtige und Berufstätige.
Der Kulturphilosoph Thomas Macho lehrt an der Humboldt-Universität. Er erforscht Todesmetaphern und Trauerkulte in Wechselwirkung zur Gesellschaft und kann erklären, woher eigentlich die seltsame Idee des postmodernen Menschen rührt, die Spuren eigener Existenz durch eine anonyme oder kaum mehr sichtbare Bestattung auszulöschen. Ist es die fehlende Jenseitshoffnung, der Mangel an Selbstbewusstsein oder doch die Hybris vollständiger Kontrolle über Leben und Tod? All das, sagt Macho, und etwas ganz anderes: „In einer vollständig dokumentierten digitalen Welt kann die Vorstellung, zu verschwinden, etwas Erlösendes haben.“
Die Vorstellung, im Grab zu verwesen, werde in einer Zeit, die das Ideal des schönen Körpers pflege, dagegen als intensive Kränkung empfunden. Dann lieber in die Komposturne unterm Baum und Schluss. Daher auch die neue Vorliebe für den plötzlichen Tod. Angesichts wachsender Lebenserwartung, Apparatemedizin und möglicher Altersarmut erscheine der inzwischen vielen als Freund. „Die Leute quält die Vorstellung, nicht mehr zum Ende zu kommen.“
Auf eine ethisch-philosophische Beurteilung von Bestattungsorten oder Gedächtnisformen lässt Philosoph Macho sich aber nicht ein. Beim Tod gebe es kein Richtig oder Falsch. „Er ist die Prüfung, die wir noch alle bestehen.“ Aber ein Bewusstsein für einen würdigen, das Leben auch vom Ende her verstehenden Abgang kann gewiss nicht schaden. Friedhöfe sind selten seelenvolle Orte dafür. Sie gehören erhalten.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.