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Der Städtische Friedhof Stubenrauchstraße grenzt direkt an die Ruppin-Grundschule.
© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Höfe (9): Friedhof Stubenrauchstraße und Ruppin-Schule: Pausenbrot mit der Diva

Kinderlärm und Totenstille: Auf zwei Höfen in Friedenau liegen beide Welten ganz dicht beieinander, nur durch einen Zaun getrennt. Ein Kreislauf von Werden und Vergehen.

Als Marlene Dietrich im Dezember 1901 gar nicht weit von hier, auf der Schöneberger „Roten Insel“ geboren wurde, müssen die Linden noch ganz klein gewesen sein. Bei ihrer Beerdigung 1992 aber bereiteten sie schützend ihr weites Dach aus herzförmigen Blättern über die Trauergemeinde. Schlanke Birken gibt es auch, aber die sind noch nicht so alt. Die ehrwürdigen Linden prägen die Atmosphäre auf dem „Künstlerfriedhof Friedenau“ an der Stubenrauchstraße. Die Malerin Jeanne Mammen liegt hier begraben, der Fotograf Helmut Newton, ebenso der Schriftsteller Oskar Pastior. Für den Komponisten Ferruccio Busoni gibt ein elegantes Denkmal, von Rosen umrankt, und an der Mauer, hinter denen die Wohnhäuser der Offenbacher Straße stehen, hat Heinz Ohff seine letzte Ruhestätte gefunden. Zwischen wilhelminischen Prachtgräbern mit allerlei Marmorsäulen und Statuen erinnert eine schlichte Sandsteinplatte an den Kunstkritiker und legendären Feuilleton-Chef des Tagesspiegels.

Als die erst zehn Jahre zuvor gegründete Villenkolonie Friedenau 1881 beschloss, einen Friedhof anzulegen, wählte sie einen Standort am Südwestkorso. Ein Provisorium nur sollte es sein, denn der Stadtplaner Johann von Carstenn hatte hier einen Schmuckplatz vorgesehen. Dann aber wurde doch ein dauerhafter Gottesacker daraus, dem rasanten Wachstum des neuen Ortes folgend, bis 1912 mehrfach erweitert bis zu seiner heutigen Größe von gut 21 000 Quadratmetern.

Die Namen von 50 Künstlerinnen und Künstlern nennt die Schautafel am Eingang, doch zumeist waren es einfache Bürger, die hier bestattet wurden, Beamte und Handwerker, die seit der Anbindung Friedenaus an die Wannsee-Bahn in den Berliner Vorort gekommen waren, um in Licht, Luft und Sonne zu leben. Zwischen einem Egon Lemke und einer Eleonore Schulze findet man Marlene Dietrichs schmales Grab. Die Worte, die auf ihrem Stein eingraviert sind, erschließen sich nur im Zusammenhang des Gedichtes von Theodor Körner: „Die Wunde brennt, die bleichen Lippen beben / ich fühl’s an meines Herzens matterm Schlage, / hier steh ich an den Marken meiner Tage / Gott, wie du willst! Dir hab ich mich ergeben.“

Sehr grün ist es hier, parkähnlich, die zumeist bescheidenen Steine ragen oft kaum aus der wuchernden Vegetation heraus, auf den Nebenwegen haben sich Gras und Löwenzahn viel Terrain zurückerobert. Über ein paar aufgelassenen Gräbern reifen Brombeeren dem Spätsommer entgegen, so mancher Angehörige hat sich eine Sitzgelegenheit aufgestellt zum privaten stillen Gedenken, kleine Bänke aus Holz, Steinhocker, einen zurechtgehauenen Baumstumpf.

Da gellt plötzlich ein helles Lachen durchs Gebüsch, die Kinderlaute schwellen an, klare Worte sind in der vielstimmigen Polyfonie nicht zu unterscheiden, wohl aber alle Abstufungen vom Juchzen bis zum hysterischen Gekreisch. Es ist Zeit für die große Hofpause an der Ruppin-Grundschule. Vergangenheit und Zukunft sind hier nur durch einen Maschendrahtzaun getrennt. Von der Ecke, in der die Ruhestätte der Familie Stöcken liegt, kann man hinüberschauen aufs Gewusel, über ein chaotisches Fahhrradsammelsurium hinweg durch den hohen Torbogen, der Haupt- und Seitenflügel des hoch aufragenden Baus verbindet. Schul- und Friedhof sind geradezu miteinander verzahnt, aus vielen Fenstern schauen die Kinder direkt auf Grün und Gräber, die Rückseite der Urnenhalle bildet gleichzeitig eine Abgrenzung des Fußballplatzes.

Eine Lehranstalt war dringender als die Erweiterung des Friedhofs

Der Städtische Friedhof Stubenrauchstraße grenzt direkt an die Ruppin-Grundschule.
Der Städtische Friedhof Stubenrauchstraße grenzt direkt an die Ruppin-Grundschule.
© Kitty Kleist-Heinrich

Ein architektonisches Kleinod ist dieses Kolumbarium, eine zweiflügelige Anlage mit offenen Loggien zum Friedhof hin, fast wie eine Orangerie anmutend, mit einem runden Saal in der Mitte, den ein edles Kupferdach krönt. In allen Rottönen changieren die Backsteinmauern, reiches Dekor aus gebranntem Ton ist in die Wände und Balustraden eingelassen, ganz wie man das auch an der aufwendig gestalteten Fassade des Schulgebäudes findet.

Tatsächlich war das heutige Areal der Schule zunächst als zusätzliche Ausdehnungsfläche des Friedhofs vorgehalten worden, bis die Gemeindevertreter zu der Überzeugung kamen, dass die Errichtung einer weiteren Lehranstalt dringend nottäte. Nach allerneuesten pädagogischen Erkenntnissen wurde das Gebäude konzipiert – mit Räumen für Handfertigkeitsunterricht, Schulzahnpflege sowie Papp-, Holz- und Eisenarbeiten, mit einer Kochschule, Näh- und Plättstuben und eigenen Klassenzimmer für „schwachbegabte“ Kinder –, nach Plänen des Gemeindebaurates Hans Altmann errichtet – und unmittelbar vor der Eröffnung für militärische Zwecke konfisziert. Ein Lazarett wird eingerichtet, bald sind alle Räume belegt, sogar in der Aula liegen Verwundete. Damen des Vaterländischen Frauenvereins betreuen als Krankenschwestern die teilweise grauenhaft verstümmelten Soldaten, Chirurgen aus ganz Deutschland werden in Friedenau zusammengezogen, nachdem hier die „Station für schwere Nervenoperationen“ eingerichtet worden ist, die zweite in Berlin nach jener im Kunstgewerbemuseum.

1919 können dann endlich die ersten Schulklassen einziehen. In den Pausen allerdings ging es weiterhin zu wie auf einem Exerzierplatz. Im 1914 erschienenen „Lexikon der Pädagogik“ ist zu lesen: „Im Gänsemarsch mit regelrechtem Soldatenschritt sollen die Schüler das Zimmer verlassen und zwei zu zwei im Schulhofe ordnungsgemäß auf und ab marschieren.“ In der Laubacher Straße, direkt gegenüber der Schule, ist am Eingang zur Nr. 33 ein Relief über der Haustür zu sehen, auf dem ein Gipsmännchen einem anderen den nackten Hintern versohlt. „Lerne leiden ohne zu klagen“ windet sich in schnörkeligen Buchstaben um die Szene. Brachialerziehung auf preußische Art.

Tempi passati: Heute ist der Pausenhof ein Jungs-Traum, denn er wird dominiert von einem Fußballfeld in original Stadiongröße. Diese knallgrüne Kunststofffläche hat schon bei so mancher Entscheidung für die Ruppin-Grundschule den Ausschlag gegeben. Ein niedlicher Terrakotta-Knabe mit kugeliger Kappe, der über der Mitte des Torbogens zwischen Haupt- und Seitenflügel thront, behält die Kicker stets kritisch im Auge, hohe Zäune zur Laubacher Straße verhindern allzu große Ballverluste, beim Bolzen zwischen den Unterrichtsstunden wie auch beim nachmittäglichen Training. Denn der Friedenauer TSC nutzt das Areal nach Schulschluss für seine Zwecke – und bewirtschaftet im nordwestlichen Eck des Hofs sogar sein eigenes Casino. Im Kassenhäuschen an der Fehlerstraße klebt ein Zettel: „Bei Pokalspielen müssen alle Zuschauer zahlen. Ohne Ausnahme!“

Neben dem Fußballfeld treten alle anderen Bereiche optisch zurück. Aber es gibt natürlich auch Tischtennisplatten, einen Schulgarten und hölzerne Klettergerüste in einem riesigen Buddelkasten. Nur der hübsche Pavillon, den man auf alten Fotos sehen kann, ist den Zeitläuften zum Opfer gefallen. Fast 500 Minuten pro Woche verbringen Ganztagsschüler auf dem Pausenhof. Doch die in Wellen aufbrandende Geräuschkulisse der Kinder ist nicht der größte Störfaktor der Friedhofsruhe. Was wirklich nervt, ist der Krach aus den umliegenden Straßen. Irgendwo zwängt sich immer ein Müllwagen durch, irgendwo in den Gründerzeit-Altbauten wird immer renoviert, irgendwo muss immer eine Straße aufgerissen werden. Ruhe sanft? Das geht nicht im Berlin des Jahres 2015, nicht mal in dieser Frieden-Au.

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