Kultur: Und schon erfasst dich eine andere Laune
Die Kulturwissenschaftler Thomas Macho und Brigitte Felderer untersuchen die Glückstechnik Höflichkeit
Möwen, schwarzer Rauch und eine Eisscholle, die unter dem Kiel eines schwarzen Ozeandampfers zerbirst. Ein Plakat aus dem Jahre 1929. Die Sache, für die hier geworben wird, scheint kein Industrieprodukt zu sein. Aber sie ist es doch. „Höflichkeit bricht den Widerstand“ steht unter dem Plakat, das auch den Umschlag von Brigitte Felderers und Thomas Machos Sammelband zur Höflichkeit schmückt.
Höflichkeit – das war in den dreißiger Jahren schon längst nicht mehr jene Sorte Verhaltenslehre für die bessere Gesellschaft, die seit Castigliones 1528 erschienenem Ratgeber „Buch vom Hofmann“ Bestsellererfolge erzielte. Längst hatten die Managementstrategen und Businessphilosophen sich die Sache angeeignet. Elton Mayo hatte den Anfang mit „The Human Problems of an Industrial Civilization“ gemacht, die Fortsetzung findet man heute in jeder Buchhandlung mit Titeln wie „Mit Liebe, Lust und Leidenschaft zum Erfolg“ oder „Partnerschafts-Training: Power für die Karriere“.
Schon lange rankt sich um die Sache der Höflichkeit ein Diskurs des Argwohns. „Keine aufrichtigen Freundschaften mehr, Furcht, Kälte, Hass, Verrat verbergen sich ständig unter dem gleichaussehenden und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit", vermerkte Jean-Jacques Rousseau 1750. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts folgte ihm die amerikanische Soziologin Arlie Russel Hochschild mit ihrer Studie „Das gekaufte Herz“.
Die Meinungen zum Thema Höflichkeit sind ein Indikator dafür, wie stark bestimmte Axiome der Kulturkritik in der Alltagswahrnehmung einer Epoche verankert sind. Die Renaissance und Neubewertung, die Höflichkeit in den letzten Jahren unter Gesellschaftstheoretikern und Publizistinnen wie Julia Kristeva oder Cora Stephan erfahren hat, deutet auf eine grundlegende Neuorientierung in Bezug auf eben diese Axiome. Den Kulturwissenschaften fällt in dieser Situation die Aufgabe zu, die notwendigen Aufräumarbeiten zu leisten. Dem sind Brigitte Felderer und Thomas Macho mit ihrem Sammelband nachgekommen.
Allerlei Buntes kommt hier zusammen. Ernst Strouhal betreibt in „Der Ritter von der Industrie“ Wirtschaftsethik und geht anhand der Figur des Robinson Crusoe der Tradition des „Gentleman-Tradesman“ nach; Philip Mann und Jason Amesbury verfolgen in ihrem Bildessay über die Kleiderordnung des Herzog von Windsor die Genese bürgerlicher Herrenmode aus dem Geist des Dandytums der 20er Jahre, und Sachiko Ide untersucht anhand der Differenzierung von „wakimae“ und „volition“ Unterschiede zwischen chinesischer, japanischer und englischer Höflichkeit.
Hans Grünberger schreibt die Geschichte der „Barbaren“ (ein Ausdruck des Fremdenhasses im deutschen Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts), und Brigitte Felderer analysiert, wie sich Verhaltensformen in einer Medienöffentlichkeit verändern, die ganz auf die Großaufnahme beim Live-Auftritt zugeschnitten ist. Ihr Untersuchungsmaterial ist die Uraufführung des Kanzlerduells im deutschsprachigen Fernsehen: die Begegnung des österreichischen Kanzlers Josef Klaus und seines Herausforderers Bruno Kreisky 1970.
Wenn es etwas gibt, das die vielfältigen historischen, philosophischen, literarischen und diskursanalytischen Ausführungen, die hier zusammengestellt sind, eint, dann ist es vor allem das Interesse an den ambivalenten Zügen der Höflichkeit. Der Streit, der vormals um die Sache selbst geführt wurde, wird nun in das Phänomen hinein verlegt.
Handeln wie auf einer Bühne
„Schein zivilisiert“ lautet der programmatische Titel eines Aufsatzes, den Helmut Lethen und Caroline Sommerfeld beigesteuert haben. Kürzer kann man Schillers Gedanken der „ästhetischen Erziehung“ kaum fassen, ihn grundlegender nicht zum Ausdruck bringen. Das Problem der Höflichkeit verweist auf die Grundfrage der Ästhetik: Wie kann etwas, das allein in der Sphäre des Als-ob, im Raum der Kunst gedeihen kann, übergreifen auf die Wirklichkeit des Alltags? Höflichkeit ist ein solches Kunst- und Bühnenhandeln. Allein am Schein von Moral und Anstand, das behaupten ihre Verfechter, soll die Welt genesen.
Dies legt den Grund für allerlei Paradoxien. Warum etwa, fragt Thomas Hübel, verstehen wir die ritualisierten Formen und Floskeln immer wieder als Ausdruck individueller Wertschätzung, obwohl wir wissen, dass es sich bei der Höflichkeit nur um ein soziales Regelsystem handelt? Wie kann es sein, will der österreichische Philosoph Robert Pfaller wissen, dass eine Darstellung – die Darstellung von Wohlwollen – das Dargestellte geradezu herbeiführt? In seiner Antwort skizziert er ein dem verbreiteten Verständnis entgegengesetztes Bild der Moral, in deren Zusammenhang anstelle von „Reiß dich zusammen! Du bist verantwortlich!“ viel mehr der Slogan gilt: „Nimm eine andere Körperhaltung ein oder mach ein freundliches Gesicht, und schon erfasst dich eine andere Laune.“
Man muss sich dieses Programm einer „Glückstechnik“ nur ein wenig weiter ausmalen, um darauf zu stoßen, wie sehr die Theorie der Höflichkeit dem Anspruch des Aufklärungsdenkens zuwider läuft. Wenn die zivilisierte Geste dem Gedanken vorausgeht und nicht umgekehrt, dann sind die moralischen Qualitäten eines Menschen nichts anderes als das Ergebnis zufälliger Umstände wie Herkunft und Erziehung. Die ganze kantische Moralphilosophie ist nichts anderes als ein Bollwerk gegen diesen Gedanken. Mittlerweile ist die Zeit offenbar reif für eine Revision – vielleicht, weil die Moral des „Geste voraus!“ ihren anti-egalitären Charakter ein wenig verloren hat. Schließlich kann man Höflichkeitstraining heute kaufen.
Brigitte Felderer, Thomas Macho (Hg.): Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen. Wilhelm Fink Verlag. München 2003. 318 Seiten, 39,90 €.
Ralf Grötker
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