Angespannte Schüler, überlastete Lehrer: Die Schattenseiten des kostenlosen Mittagessens in Berlin
Von wegen „alles gut“: Eine Umfrage unter Pädagogen ergab, dass viele Schüler, Lehrer und Erzieher einen hohen Preis für das kostenlose Essen zahlen.
Die Bedenken haben sich bestätigt: Die Einführung des kostenlosen Schulmittagessen für alle Erst- bis Sechstklässler setzt Schüler unter Druck, führt zu Mehrarbeit – und sogar zu Aggressivität. Das zumindest besagt eine Umfrage unter Grundschulen, deren Ergebnisse am Mittwoch vom „Bündnis Qualität im Ganztag“ veröffentlicht wurden.
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Anlass für die Umfrage waren gehäufte Klagen über die Probleme bei der Umsetzung des kostenfreien Angebots, das seit dem Sommer gilt. Bereits im Vorfeld hatten Schulen gemahnt, dass sie nicht auf den absehbaren Ansturm vorbereitet seien – weder räumlich noch personell.
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte daher die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung beauftragt, die Einführung zu begleiten und Probleme im Vorfeld wenn möglich zu dämpfen oder zu beseitigen. Entsprechende Berichte, dass Schülern wegen der Bedingungen des Schulessens der Appetit vergeht, gab es aber immer wieder.
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Vier Monate später wollte daher das „Bündnis Qualität im Ganztag“ – ein Zusammenschluss von Paritätischem Wohlfahrtsverband, Schulleitern und die GEW – wissen, wie die Umsetzung gelungen ist. Lehrkräfte, Erzieherinnen, Schulleitungen und auch Eltern waren deshalb aufgerufen, ihre Sicht der neuen Essenssituation darzustellen. Rund jede dritte der 360 öffentlichen Grundschulen habe daraufhin über ihre Erfahrungen berichtet, lautet die Bilanz des Bündnisses.
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Die Auswertung der Umfrage ergab wie erwartet, dass die Zahl der Essensteilnehmer deutlich gestiegen ist. „Die ermittelte Steigerungsrate liegt bei 58 Prozent“, hat das Bündnis errechnet. Wobei sie darauf hinweisen, dass die Senatsverwaltung für Bildung zu Beginn des Schuljahres eine Steigerungsrate von elf Prozent genannt habe. Diese „erhebliche Fehleinschätzung“ sei gleich an mehreren Stellen spürbar, berichtet das Bündnis.
Die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage:
- Fast 70 Prozent der Befragten stellen fest, dass die bereitgestellten Räume nicht den Ansprüchen einer pädagogisch wertvollen Essensituation entsprechen. Das habe eine Zunahme von Konflikten, Aggressivität, Anspannung bei den Kindern und eine Überlastung der Pädagogen zur Folge.
- 75 Prozent der Befragten geben an, dass ihre Betreuungs- und Aufsichtszeiten ausgeweitet wurden. Hiervon sind Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte betroffen.
- Die Ausweitung der Aufsichtszeiten geschieht jedoch größtenteils auf Kosten der Personalkontingente in der ergänzenden Förderung und Betreuung.
- In der Folge spiegelt sich das auch in den Essenszeiten wider. 77 Prozent der Befragten geben eine Essenszeit für die Schüler von fünf bis 25 Minuten an, obwohl teilweise Hofpausen verkürzt wurden und das Essen verstärkt im Unterricht angeboten wird. "Manche Klassen gehen während des Unterrichts essen“, lautet denn auch eine der Angaben der Befragten.
- Die Umfrage können Sie hier herunterladen.
Essen in Unterrichtsräumen
Elvira Kriebel vom Paritätischer Wohlfahrtsverband betonte am Mittwoch, dass die Ganztagsschule ein Lern- und Lebensort sei, an dem die Kinder die meiste Zeit ihres Alltags verbringen. Dafür müsse es Räume geben, die den vielfältigen Ansprüchen der kindlichen Entwicklung gerecht würden: „Ein Raum kann nicht Fachraum für Naturwissenschaft, Mensa und Entspannungsraum zugleich sein. Das ist absurd“, findet Kriebel.
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Die GEW-Vorsitzende Doreen Siebernik nannte es „skandalös“, dass die Lehrer und Erzieher nach der Einführung des beitragsfreien Mittagessens „noch mehr leisten müssen“ als bisher. Zusätzliches Personal gebe es nicht. Die Arbeitsbedingungen seien damit noch schlechter geworden. „Das kostenfreie Mittagessen darf nicht dazu führen, dass die pädagogische Arbeit im Ganztag leidet“, steht für Roland Kern vom Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden fest.
Das kostenlose Mittagessen war zustande gekommen, weil es im Nachtragshaushalt für 2019 noch Geld zu verteilen gab. Elternvertreter und Grüne-Fraktion gaben zu bedenken, dass die Kostenbefreiung besser nur für die einkommensschwachen Familien gelten solle: Das Geld der übrigen Eltern sei im System zu belassen, um die Qualität des Essens zu verbessern: Seit langem klagen die Caterer, dass sie mit dem vom Land festgelegten Portionspreis nicht auskommen, weil seit der Festlegung die Mindestlöhne angehoben und die Lebensmittelpreise gestiegen seien.
Dem Vernehmen nach steht die Anhebung der Portionspreises von jetzt 3,25 Euro auf über vier Euro kurz bevor. Die Caterer sollen davon auch einen höheren Bioanteil finanzieren.