Berlin und die Protestanten: Die Kirche ist auf dem Rückzug
Kaum noch Glockengeläut, kein Bedarf für neue Gotteshäuser: Der Einfluss der Kirchen nimmt ab. Aber der Kirchentag macht etwas mit der Stadt.
Irgendwas ist immer mit Berlin und der Kirche. Eine Stadt, zu deren berühmtesten Sehenswürdigkeiten ein ausgebombtes Gotteshaus gehört, kennt sich mit den Feinheiten des christlichen Glaubens aus. Kaiserlicher Prunk, Mahnung vor Krieg und Gewalt, drum herum die Geschäftigkeit der westlichen City – die Gedächtniskirche ist ein Kristallisationspunkt der Stadtgeschichte. Aber sie steht auch dafür, dass es ruhiger geworden ist um den Glauben, ruhiger um die schrumpfenden christlichen Gemeinden in Berlin. Ist die Stadt auf dem Weg zur Metropole der Atheisten?
Berlin und die Mark haben seit Jahrhunderten ein klares, evangelisches Profil. Zu Luthers Zeiten war es ein Abkömmling der Hohenzollern, Kardinal Albrecht von Brandenburg, der den Ablasshandel besonders bedenkenlos vorantrieb, um Schulden zu bezahlen, und der dazu den Ablassprediger Johann Tetzel einsetzte. Dessen Umtriebe provozierten den Reformator und lösten so die Gegenbewegung aus, aus der die Reformation erwuchs. 1539 ließ Kurfürst Joachim II. sich, getragen von einer breiten Bewegung in den Kirchen, in der Spandauer Nicolaikirche das Abendmahl „in beiderlei Gestalt“ reichen, also lutherisch als Hostie und Wein – seitdem ist die Region lutherisch.
Ein knappes Jahrhundert später löste Kurfürst Johann Sigismund erneut den Glauben und trat zum reformierten Bekenntnis Johann Calvins über. Die feinsinnige Auseinandersetzung um das Verständnis des Abendmahls ist heute allenfalls noch von theologischem Interesse, damals aber spaltete sie die Stadt, deren Bürger sich dem Schwenk mehrheitlich verweigerten.
1817 fanden Lutheraner und Reformierte zusammen
Die Spannungen zwischen beiden Konfessionen blieben bestehen, entluden sich auch gelegentlich in Gewalt, bis schließlich 1817 Lutheraner und Reformierte 1817 in der Union zusammenfanden. Es waren Zeiten, in denen theologische Details die Öffentlichkeit in einem Maß bewegten, das uns heute nur noch in Verbindung mit dem muslimischen Glauben vertraut erscheint. Die Kirche der Union fand damals zwar zusammen, wurde aber immer vom Streit zwischen konservativen Sammlungsbewegungen und säkular-liberalen Strömungen erschüttert. Nach dem Ersten Weltkrieg traten deutsche Protestanten in Massen aus der Kirche aus, die um ihre Bedeutung fürchtete und sich - abgesehen von Ausnahmen - den Nazis andiente.
Im Nachkriegsdeutschland ging die evangelische Kirche zwei Wege: Staatstragend und demokratiebejahend im Westen, dagegen in der DDR zwiegespalten zwischen Loyalität zur Obrigkeit und Sympathie für oppositionelle Strömungen – Persönlichkeiten wie Manfred Stolpe und Joachim Gauck prägten nicht nur die friedliche Revolution, sondern später auch die zusammenwachsende Bundesrepublik. Der dritte evangelische Kirchentag nach dem Krieg 1951, nach langen Diskussionen nach Berlin vergeben, fand noch einmal als gesamtdeutsches Ereignis statt – im Spannungsfeld zwischen SED-Ideologie und westlichem Kampf gegen die Wiederbewaffnung, der von Martin Niemöller vorangetrieben wurde. „Wir sind doch Brüder“, lautete das für alle Interpretationen offene Motto.
Auch das: Rudi Dutschke und die Gedächtniskirche
Aber wir waren bei der Gedächtniskirche stehen geblieben. Der Neubau, 1961 fertiggestellt, wurde sofort zum theologischen Mittelpunkt West-Berlins. Und sie wurde von den rebellischen Studenten als Sammelpunkt des konservativen Christentums identifiziert, als Zentrale der „Weihnachtschristen“ die sich am Heiligen Abend Erbauung bei geistlichen Liedern im Kerzenschein gönnten, sonst aber blind für gesellschaftliche Konflikte seien und folglich wachgerüttelt werden müssten. 1967 drangen deshalb acht Studenten am Heiligabend in die Gedächtniskirche ein, um dort ein Zeichen gegen den Vietnamkrieg zu setzen, und sie lösten einen Tumult aus. Rudi Dutschke persönlich, nicht beteiligt, aber anwesend, drängte sich auf die Kanzel, um eine Rede zu halten und wurde gewaltsam abgedrängt – später ließ er, selbst wegen Hausfriedensbruchs angezeigt, seinen Anwalt Horst Mahler gegen einen Kirchbeamten wegen unterlassener Hilfeleistung vorgehen.
Die Hitze dieser Auseinandersetzungen strahlte bis in die Gemeinden aus. Die Kirche zum Heilsbronnen in Schöneberg mit ihrem ultrakonservativen Superintendenten Reinhold George wurde zum Sammelbecken der Evangelikalen, vereint in Abneigung gegen den Bischof Kurt Scharf, der sich zögernd nach und nach auf die Seite der Studenten schlug. In Dahlem gab der linke Theologieprofessor Helmut Gollwitzer den neuen Ton vor: „Das Schlimmste scheint mir zu sein, dass eine christliche Gemeinde ihre Weihnachtsruhe und Weihnachtsstimmung verteidigt gegen alles, was sie dabei stören will ... und sei es gegen Jesus selbst.“ Denn wer mit Christus zu tun haben will, dürfe am Grauen des Krieges in Vietnam nicht vorbeigehen. Viele Studenten waren also keine gottlosen Randalierer, sondern auf der Suche nach einer neuen Kirche, der sie sich wieder verbunden fühlen konnten. Damit war erstmals der Tonfall angeschlagen, der das Bild der evangelischen Kirche in den kommenden Jahrzehnten bestimmen würde, auf Demonstrationen und Kirchentagen weit über Berlin hinaus – die Integration von Kirche und Friedensbewegung bis zur völligen gegenseitigen Durchdringung, die auf Kosten der Spiritualität und der Glaubensinhalte ging, wie sie sich viele konservative Christen wünschten. Greenpeace mit Kirchturm, das war vielen nicht genug christliches Profil.
Vom Tröster zum überlasteten Dienstleister für Familienfeiern
Ein ganz neuer Ton drang dann nach der Wende aus Ost-Berlin herüber, der Ton der eingeschworenen, an Konspiration gewöhnten DDR-Opposition, die unter dem Dach der evangelischen Gemeinden zu einer bedeutenden Gegenmacht gewachsen war. Gauck und Stolpe waren die bekanntesten Vordenker, der Theologe Thomas Krüger brachte es zum Berliner Familiensenator. Der Berliner Dom löste die Gedächtniskirche als Hauptkirche der Berliner Protestanten faktisch ab, auch wenn vielen die neobarocke Aura des Prunkbaus fremd blieb, zumal im Kontrast zu Egon Eiermanns sachlichem Neubau am Breitscheidplatz.
Aber die in den Kirchen verbreitete Hoffnung, dass mit diesen Protagonisten auch der christliche Glauben wieder stärker auf die alltägliche Agenda vordringen könnte, wurde enttäuscht.
Der Einfluss der Kirchen in Berlin sank zum Teil unmerklich. Man muss heute schon ein Wochenende in Bayern verbringen, um sich daran zu erinnern, wie stark das Geläut der Kirchenglocken einst auch in Berlin den Wochenablauf strukturiert hat. Genervte Anwohner haben sich gegen die akustischen Zumutungen der christlichen Leitkultur durchgesetzt, das schlägt sich im Schweigen der Glocken nieder. Und auch der Kampf der Kirchen gegen die Vergesellschaftung des Wochenendes zu Shoppingzwecken dürfte gescheitert sein, wenngleich zumindest am Sonntag noch ein paar letzte Reste des christlichen Ruhegebots dem Druck der Shopping-Malls standhalten, die nicht umsonst gern als säkulare Kirchen in Szene gesetzt werden.
Indessen schrumpfen die Gemeinden kontinuierlich weiter, die evangelischen ebenso wie die katholischen, die Zahl der Pfarrstellen schrumpft parallel, und so sind viele Pfarrer nicht länger Inspirator, Ratgeber und Tröster ihrer anbefohlenen Gläubigen, sondern nur noch überlastete Dienstleister für Familienfeiern aller Art, vorzugsweise: Beerdigungen.
Der Kirchentag verleiht Berlin die Aura bewusst gelebten Christentums
In den unzähligen Neubaugebieten der Stadt ist für neue Kirchen ohnehin kein Platz mehr, weil kein Bedarf besteht, und die Kirche versucht sich deshalb häufig in einer eher symbolischen Präsenz in „Räumen der Stille“ auf dem Messegelände, in Sportstadien oder auf Straßenfesten, Kirche zum Mitnehmen, die keine Ansprüche stellt und in kleinen Dosen genossen werden kann. Dort, wo die Kirchen noch eine Macht sind, nämlich in der Diakonie, in den Altenheimen und Kindergärten, mussten sie sich längst den wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen, die ein eigenständiges Profil kaum noch erlauben. Viele christliche Schulen in Berlin haben sich ein Eliteprofil zugelegt, das liegt nahe angesichts der Misere der staatlichen Schulen.
Aber wenn das Ergebnis auf die kostenpflichtige Abschottung gegen die Zumutungen des Berliner Alltagslebens hinausläuft, lässt sich der Glaubenskern auch nur noch schwer orten. Wird das Kreuz noch gezückt, dann als symbolpolitische Waffe im Kampf ums Abendland, so wie gerade beim Streit um die Kuppel der Stadtschloss-Simulation, auf der sich viele ein Kreuz wünschen, nur weil da mal eins gestanden hat. An anderen Orten zeigt sich deutlich, welche Bedeutung die Verantwortlichen den Kirchgebäuden wirklich noch beimessen, wenn die von Schinkel gebaute Friedrichswerdersche Kirche von zudringlichen Neubauten fast zum Einsturz gebracht wird oder die Gedächtniskirche, eben jene, neben Wolkenkratzern faktisch aus der Skyline der Stadt verschwindet.
Der Kirchentag ist auch deshalb so bedeutend, weil er all diese Phantomschmerzen zu mildern verspricht und der anscheinend so atheistischen Stadt wieder einmal die Aura bewusst gelebten Christentums verleiht. Martin Luther, der das alles in Gang gesetzt hat, schaut derweil von der Marienkirche in Mitte zu, wo er zum Jubiläum erst einmal provisorisch wieder hingestellt wurde. Etwas verwittert, aber unerschütterlich mit der Bibel in der Hand. Bald soll er noch ein Spiegelbild bekommen.