AfD-Wahlkampf in Friedrichshain-Kreuzberg: Die Alternativsten
Hier wählt man grün oder links, die Bürgermeisterin fordert Coffee-Shops, und die CDU kommt kaum auf zehn Prozent. Ausgerechnet in Friedrichshain-Kreuzberg kandidieren Sibylle Schmidt und Frank Scheermesser für die AfD. Kann das gut gehen?
Noch mal nachsehen, ob alle Formulare da sind: Wahlkreis, check; Bezirk, check. Ans Treppengeländer des Altbaus lehnen, noch mal durchatmen. Dann klingelt Frank Scheermesser an einer Wohnungstür. „Ich hab nicht nur Freunde im Haus“, sagt er, „aber sie hier würde ich so einschätzen, dass sie interessiert ist.“
„Frank“, sagt die Mittvierzigerin, die die Tür öffnet, „was gibt’s?“ – „Ich bräuchte noch ein paar Unterschriften für die Wahl“, sagt Scheermesser. „Ach, Politik, das bringt doch nix“, sagt die Frau, „da kennt man einzelne Leute und sagt: Ja. Und dann schaust du dir die Partei an und denkst: Nee!“ Scheermesser lächelt: „Aber dafür trete ich ja an.“ Dann holt er zwei Formulare aus seiner Aktentasche, reicht sie ihr, „überleg’s dir einfach!“
Frank Scheermesser, 57 Jahre alt, Versicherungsmakler, fehlen noch ein paar Unterschriften. 45 für den Wahlkreis, und 185 für den Bezirk. Scheermesser geht von Tür zu Tür und sammelt, damit seine Partei hier bei den Abgeordnetenhauswahlen im Herbst antreten kann. Seine Partei, das ist die Alternative für Deutschland. Sein Bezirk, das ist Friedrichshain-Kreuzberg.
Hier gewinnt ein linker Grüner verlässlich ein Direktmandat für den Deutschen Bundestag. Hier kommt schon die CDU bei Wahlen kaum auf zweistellige Ergebnisse. Hier haben 38 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Hier fordert die Bürgermeisterin Coffeeshops und verbietet sexistische Werbung. Und hier – gerade hier – will Frank Scheermesser, studierter Maschinenbau-Ingenieur aus Sachsen, 1984 der Ost-CDU beigetreten, nach dem Mauerfall nach Kreuzberg gezogen, kandidieren. Für die AfD.
Scheermesser, geschieden, alleinstehend, geht die Treppen seines Hauses hinab ins Erdgeschoss und macht sich wieder bereit. Noch bevor er an einer der Wohnungstüren klingeln kann, öffnet sich die zur Straße. Ein Mann mit Einkaufstüte kommt herein: „Mann, Frank, dass du das jetzt auch im Haus machst, ist echt das Allerletzte.“ Scheermesser versucht zu erklären, es gehe ihm um Demokratie, um mehr Bürgerbeteiligung. „Lies doch einmal etwas über deine Partei, was die sonst so machen“, sagt der Mann. „Da wird einiges falsch dargestellt“, sagt Scheermesser. Der Mann dreht sich um, schüttelt den Kopf, steigt die Treppen hinauf. „Und wehe, du klingelst bei uns!“
„Das Thema spaltet“, sagt Scheermesser, seit drei Jahren in der Bezirks-AfD, unten im Hausflur. „Manchmal geht dabei etwas kaputt.“
Schon das Ansprechen von Missständen spült ihm Wähler zu
Frank Scheermesser, durchschnittsgroß, durchschnittsbreit, spricht deutlich und höflich. Wenn er über das redet, was im Bezirk so falsch läuft, setzt er ein sympathisches Lächeln auf und erzählt ausführlich und überschwänglich. Als hätte er mit der Zeit gelernt, dass ihm allein das Ansprechen der Missstände Wähler zuspült. Und Missstände, findet Scheermesser, gibt es hier so einige. Dass man nachts nicht mehr über das RAW-Gelände laufen kann etwa, oder dass im Görlitzer Park die Dealer stehen. Oder, dass der Senat Volksentscheide übergeht und die Infrastruktur bröckelt.
Fast ein halbes Leben lang hat er sich politisch engagiert. 17 Jahre in der CDU, acht Jahre in der FDP, bis 2009, als der Bundestag dem Europäischen Rettungsschirm zustimmte. 2013 fand er in der AfD, damals noch „Professorenpartei“ unter Bernd Lucke, seine neue politische Heimat.
Mit der linken Mehrheit in Kreuzberg, wo er nach der Wende als Immobilienmakler anfing, habe er nie ein Problem gehabt, sagt er, „mit Multikulti an sich auch nicht“. Nach Zwischenstationen in Tiergarten, Steglitz, Zehlendorf und Lankwitz wohnt er heute in Friedrichshain, und dort, vor seiner Haustür, steht er jetzt und sagt: „Hier haben sie die Hauswand vollgesprayt.“
Scheermesser holt sein Handy aus der Hosentasche und wischt durch die Bildergalerie. „Hier wohnt der Faschist Frank Scheermesser“, steht da, an seine Hauswand geschmiert, rot auf braunem Grund. Dann ein Bild von den Plakaten, die im Kiez aufgehängt wurden. „Frank Scheermesser, gesucht wegen Volksverdummung“, darunter ein Porträt von ihm. Oder: „Frank Scheermesser, verpiss dich!“, darunter seine Adresse.
Warum tut er sich das an? Scheermesser nickt nachdenklich und setzt wieder dieses überzeugende Lächeln auf. Eine private Belastung sei das natürlich, sagt er, furchtbar. Aber: „Die AfD profitiert auch von den Angriffen.“ Auf Facebook postet er, wenn Wahlkampfstände zerstört und AfD-Politiker bespuckt werden. Und nicht selten, sagt Scheermesser, bekomme er dann neue Beitrittsanfragen.
Es sind aber nicht nur die physischen Übergriffe, die Scheermesser aufführt, wenn er von der Benachteiligung der AfD im Bezirk spricht. Es sind auch diese kleinen, gefühlten Ungerechtigkeiten: Es dauere mehrere Wochen, bis ein Wahlstand genehmigt werde, während andere Parteien innerhalb von ein paar Tagen Zusagen hätten. „Wurde mir so berichtet“, sagt Scheermesser, der Bezirk bestätigt das nicht. Es sei fast unmöglich, einen Ort für die Treffen zu organisieren, Kneipen im ganzen Bezirk hätten sie schon abgelehnt oder rausgeworfen, als sie herausfanden, dass sie es mit der AfD zu tun hätten. „Und von den Bezirksverordnetenversammlungen bis zum Abgeordnetenhaus haben nahezu alle anderen Parteien angekündigt, nicht mit uns zusammenarbeiten zu wollen“, sagt Scheermesser. Aber: „Unsere Aufgabe wird so oder so: Oppositionsarbeit.“
Was Scheermesser wohl so auf Facebook postet?
Auf dem Weg von Scheermessers Haus zur S-Bahn durchquert man durchsanierte Friedrichshainer Kieze, mit Kitas, Cafés, Boutiquen und Restaurants, geordnet unordentlich international. Die Probleme des Bezirks, von denen Scheermesser spricht, scheinen von keinem Ort weiter entfernt zu sein als von hier. Der Zug fährt ein, ein Blick aufs Smartphone: Was wohl grade auf Frank Scheermessers Facebook-Seite so oben steht?
Terror in Paris, Mathias Döpfners Kommentar zur Radikalisierung der Mitte, Helmut Schmidt mit dem Zitat: „Die USA sind der Hauptstörer des Friedens in der Welt.“ Gegen Hochfinanz, gegen USA, gegen TTIP; pro Russland, pro Edward Snowden, pro Sahra Wagenknecht. Reden von Beatrix von Storch, in denen das Wort „Volkstod“ fällt, Antifa-Aussteiger berichten: „Alle sind bezahlt worden.“ Rücktrittspetitionen für Merkel und Maas. Dazu Musikvideos von Neil Young, Konstantin Wecker und Reinhard Mey.
Etablierte Politiker, seriöse Publikationen, von allen Seiten des politischen Spektrums. Scheermesser pickt sich raus, was passt, solange er den „kleinen Mann“ gegen eine Elite zu mobilisieren versucht. Und wem kann man das verdenken?
Vielleicht ja einem, der wissentlich duldet, dass unter dem Dach der AfD auch offen rechtsradikale und demokratiefeindliche Personen und Forderungen ihren Platz haben, Angriffe auf Religions- und Kulturfreiheit, gedeckt und zum Teil sogar selbst verlautet von sich später höchstens halbherzig distanzierenden Partei-Oberen. „Es gibt ein paar Wahnsinnige, ja, aber jede Partei hat solche Probleme“, sagt Scheermesser bei einem anderen Treffen. Und dass Teile der NPD für die AfD werben? „Nur weil uns jemand wählt, heißt das nicht, dass wir deren Positionen teilen.“ Und dass Pegida für die AfD wirbt und Politiker wie Alexander Gauland die Montagsdemonstranten als „natürlichen Partner“ sehen? „Ich halte das Kürzel Pegida für unglücklich. Es sollte eher etwas sein wie ,Europäer gegen Politikversagen‘.“
Auf der einen Seite die Bundespartei mit biologisch-rassistischen Björn Höckes, volkschauvinistischen André Poggenburgs und bismarck-deutschen Alexander Gaulands. Auf der anderen Seite die sich für links haltenden Polterproleten, die AfD-Funktionäre anspucken, ihre Wohnhäuser ansprayen und Fotos mit Adresse im Kiez aufhängen. Und wieder ganz woanders die Bevölkerung von Friedrichshain-Kreuzberg. Dazwischen steht Frank Scheermesser, der sich selbst als liberal-konservativ bezeichnet und vieles, das anderen an seiner Partei nicht passt, für „ungünstig“ hält, ungünstig formuliert, ungünstig gelaufen. Der sich für unzuständig erklärt, wenn man fragt, wieso er für eine Partei wirbt, die auch ein Sammelbecken für krude Ideologie ist. Er kandidiert ja nicht in Thüringen, sondern hier.
Beim Parteitag punktet vor allem das Thema Schweinefleisch
Aber um die Personen und Positionen der AfD kennenzulernen, die weniger sympathisch sind als der freundliche, liberal-konservative Herr Scheermesser, muss man nicht einmal so weit reisen, die gibt es auch in Berlin.
Tiergarten, Stauffenbergstraße. Die Polizei hat das Maritim-Hotel, in dem an diesem Apriltag der Landesparteitag der AfD stattfindet, weiträumig abgeriegelt, von der Gemäldegalerie bis zum Großen Tiergarten. Gegenüber ragt der Bendlerblock in die Höhe, darin die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Im Hotel: senffarbene Wände, senffarbener Teppich und senffarbene Ornamente. Ein großes, blaues Plakat mit der Aufschrift „Unbequem. Echt. Mutig“ steht über den Köpfen im großen Tagungssaal, in dem die Listen für die Abgeordnetenhauswahl im September aufgestellt werden. Es gibt hier Jüngere von der Sorte Burschenschafter, akkurater Haarschnitt, Ordnerbinde am Arm. Daneben zwei Bomberjacken-Typen und ein paar Schlabberpullis, die absolute Mehrheit aber: Anzüge, graue Haare. Männer.
Aus den Reden lässt sich eine merkwürdige Mischung aus Bürgerlichen, Rechtskonservativen, Verschwörern, Burschenschaftern, Liberalen, Kirchennahen und Putin-Verehrern ableiten. Man spricht von „stiller Enteignung“ durch den Euro, von „Religionsfreiheit, aber nicht Ausübungsfreiheit“ , von „Parallelgesellschaften“ und, ironisch, „Kulturbereicherern“. Am meisten Applaus aber gibt es, sobald es ums Schweinefleisch geht, etwa, weil es Kinder in der Kita auf Initiative muslimischer Eltern nicht mehr bekommen. Wenn die Verteidiger des Abendlandes hier sich um eines besondere Sorgen machen, ist es die Heimatküche.
Die meiste Zeit werden Schlagworte in die Menge geworfen und die Beifallsbekundungen dafür eingefangen. Ein geschlossenes Reiz- und Belohnungssystem. „Die Antifa hat eine Armee von Kindersoldaten aufgestellt, finanziert von CDU, SPD, Grünen und Linken“, sagt Wolf Deinert vom Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg. „Es lebe das geheiligte Deutschland“, sagt Andreas Otti vom BV Spandau. „Herrlichkeit statt Schuld“, sagt Frank Kerker vom BV Mitte. Auf dem Parteitag der AfD Berlin spricht man gemeinhin nicht über das, was im Programm steht. Man spricht nicht von Steuern, Vertragsvergabe, Regierungsarbeit, Universitäten, öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn es doch jemand tut, geht das im Geraune der Anwesenden unter, sodass der Versammlungsleiter immer wieder zur Ruhe ermahnen muss.
„Die meisten bilden sich ein, dass die Dampfplauderei die Leute mitreißt, aber das muss jeder mit sich selbst ausmachen“, sagt Frank Scheermesser. Er sitzt in der dritten Reihe rechts, neben ihm ein paar Parteifreunde aus dem Bezirk. Er nestelt in seiner Aktentasche, zieht einen Zettel mit seinem Lebenslauf heraus, für die Kandidatenrede. Einige andere Kandidaten haben ihre Lebensläufe auf den Tischen hinten im Tagungssaal verteilt. Scheermesser hat nur eine Handvoll dabei. Es ist nicht seine Art, vorzupreschen, zu übertreiben, auch nicht rhetorisch. „Einige, die demagogisch drauf sind, arbeiten mit Schlagwörtern“, sagt er, „da ist dann meist nicht viel dahinter.“ Den Eindruck möchte er vermeiden.
Scheermesser wird aufgerufen, geht auf die Bühne. Er ist ein guter, kein ausgezeichneter Redner, spricht klar und deutlich. Er wirbt für direkte Demokratie, Weitsichtigkeit, Skepsis gegen die Etablierten. Die AfD müsse Fragen beantworten, die andere Parteien nicht beantworten können oder wollen. Er spricht über Wohnungsbau, Auftragsvergabe, geschlossenes Auftreten. Verhaltener Applaus.
Dann aber die Nachfrage aus dem Publikum: „Haben Sie nicht Ärger mit der Antifa?“ Und er beginnt zu berichten. Über die Plakate, die Hauswand, die Stände. Es gibt ein großes Buhen im Publikum, und alle sind ganz aufmerksam.
„Wie könnte man die Parallelgesellschaften in Ihrem Bezirk zerschlagen?“, fragt ein Zweiter. Und hier könnte sich Scheermesser den Applaus abholen, er liegt da in der Menge, wo sie auf „Schweinefleisch“ und „Staatsversagen“ warten. Stattdessen aber spricht er, für den es am Ende für Listenplatz 19 reichen wird, von mehr Polizei, schnelleren Verfahren, Einbindung von Migranten. Im Publikum verhaltene Zustimmung, etwas Beifall und vielleicht ein klein wenig Verwirrung.
Mit 18 ist sie nach Kreuzberg gezogen, sie kennt den Kiez
Zwischen all den „Dampfplauderern“, wie Scheermesser sie nennt, kommt irgendwann eine große blonde Frau auf die Bühne, elegant gekleidet und ein wenig nervös. Sibylle Schmidt, die Nummer zwei im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, hat zuvor bei Scheermesser und den Seinen gesessen. Sie spricht sich für Recht und Ordnung aus, für Obergrenzen, für kulturelle Eigenarten, inneren Frieden und gesteuerte Bevölkerungspolitik, aber auch, gleich zu Beginn, für Mitgefühl mit „echten“ Geflüchteten. Als erste Nachfrage aus dem Saal kommt: „Wieso sympathisieren Sie so mit den sexuell frustrierten Kulturbereicherern?“
Ihre Worte passen nicht. Kein Schweinefleisch, keine „Kartellparteien“, keine „Märchenpresse“. Schmidt ist nicht mal AfD-Mitglied, sie tritt, erzählt sie später, gerade aus der SPD aus und ist parteilose AfD-Direktkandidatin im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg 2, ein großer Teil davon das ehemalige SO36, altlinkes Kernland.
Görlitzer Park, Eingang Lübbener Straße, es ist ein warmer Nachmittag im April, Vögel zwitschern, Kinder kicken, Dealer dealen. Sibylle Schmidt kommt auf dem Fahrrad angefahren, sie trägt ein schwarzes Kleid und elegante Schuhe. „Ich schließe mein Rad lieber beim Kinderbauernhof an. Da ist die Chance noch am größten, dass es später noch da ist.“ Sie lächelt und sieht sich um. „Hier hat sich echt nichts geändert.“
Mit 18 ist sie nach Kreuzberg gezogen, Pückler-, Ecke Waldemarstraße, 32 Jahre hat sie hier gelebt. Heute wohnt sie, drei Kinder, der Mann aus Peru, in einer ruhigeren Gegend von Berlin. „Das ist mein Kiez“, sagt sie, und zeigt mit dem Finger bis an den Horizont, „bis 1874 kann ich meine Familie nach Kreuzberg zurückverfolgen.“ Und wie kommt es dazu, dass so ein Kreuzberger Urgestein sich für die AfD engagiert? „Ich wäre auch bei jeder anderen Partei auf die Liste gegangen“, sagt Schmidt, „mir geht es um die aktuellen Probleme von Kreuzberg. Die AfD scheint momentan der beste Weg, sie zu lösen.“
Was zum Beispiel? „Drogen ist eins meiner Themen“, sagt sie. Schon bei der SPD hatte sie vehement gegen eine Liberalisierungspolitik gekämpft. „Viele Dealer gehören in den Maßregelvollzug, damit die nicht weiter junge Leute vergiften.“ Aber das sei schwer durchzusetzen: „Manche jungen Politiker, die ihre Leistungen niemals mit Drogenkonsum geschafft hätten, befürchten, als uncool zu gelten, wenn sie sich gegen eine Legalisierung von Cannabis aussprechen“, sagt Schmidt.
In die Gefahr, uncool zu sein, kommt Sibylle Schmidt nicht so schnell. Ihre Geschichte, das, was sie „ihr erstes Leben“ nennt, könnte für hiesige Verhältnisse kaum cooler sein. Auf dem Blog „Kreuzberger Chronik“ findet man einen langen Text von 2005, mit dem Titel „Frau Schmidt aus Kreuzberg“, geschrieben von einer Autorin, die auch für die linken Publikationen „Konkret“ und „Junge Welt“ gearbeitet hat. Darin kommen vor: mehrere Verletzungen durch Polizisten, Prozesse wegen Punk-Clublizenzen, Zwangsräumungen. Frau Schmidt ist, so der Text, „noch immer der rebellische Untergrund, das zähe Leben, dass sich um keinen Preis anpassen will“. Frau Schmidt aber sagt dazu heute: „Links zu werden hatte etwas mit Überleben zu tun. Ich denke, in Hellersdorf wäre das etwas anderes gewesen.“
Doch auch schon früher war ihre Skepsis gegenüber Migration erkennbar. Sie warb für eine „Entkrampfung“ der 68er. „Wenn es um Multikulti geht, muss das beseelte Grinsen, das manche Alternative überfällt, durch kritisches Verständnis ersetzt werden“, zitiert die Autorin des Blogartikels Schmidt im Jahr 2005.
Was da etwas merkwürdig erscheint: Der ganze Nachmittagsspaziergang 2016 ist voller freundlicher Anekdoten von einst, von türkischen Nachbarn, von muslimischen Freunden, arabischen Mitschülern. Darum mal jetzt, am vollgestickerten Geländer der Brücke zwischen Görlitzer Park und Schlesischem Busch – „no one is illegal“, „no borders, no nation“, „Bizim Kiez“ – die grundsätzliche Frage: Was halten Sie eigentlich von „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“?
„Ich kriege Magenschmerzen, wenn ich Frauen mit Kopftüchern sehe“, sagt Frau Schmidt überraschend heftig. „Eltern kaufen Zahnspangen und gesunde Ikea-Betten, aber lassen Minderjährigen an Geschlechtsorganen herumschnibbeln“, das sei doch absurd. Und sofort geht es weiter zu Suizidraten bei jungen muslimischen Frauen, die abgeschottet von der Außenwelt „gehalten“ werden. Und schnell werden die muslimischen Mädchen zur Chiffre für viel Größeres, das Symbol für etwas, das weit über den eigentlichen Fakt hinausreicht, dass es in Kreuzberg muslimische Familien mit einem antiquierten Frauenbild gibt. Sie werden in Frau Schmidts erregter Rede zur Chiffre für eine sich ankündigende Übernahme, da wird nicht nur das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sondern gar nicht mehr zwischen Kind und Bad, Glauben und Gläubigen, unterschieden. „Der Islam greift immer weiter Raum“, sagt Frau Schmidt. „Die erste Generation hört zu, die zweite macht Stress, die dritte übernimmt.“ Und: „Bürger denken manchmal, wenn finanzielle Benachteiligungen von Einwanderern ausgeglichen sind, hören die permanenten Beschwerden auf. Aber viele Muslime können nicht zufriedengestellt werden. Sie fordern immer mehr. Das ist das psychologische Prinzip hinter einer Unterwerfung.“
Sie sei "islamophob abgedriftet", sagt einer, der Sibylle Schmidt kennt
Harald Georgii, Kreisvorsitzender der SPD Friedrichshain-Kreuzberg, kennt Sibylle Schmidt viele Jahre. „Sie ist eine hochintelligente Frau“, sagt er, „aber in einigen Bereichen hat sie seltsame Meinungen.“ Sie sei „islamophob abgedriftet“, schicke Georgii hin und wieder Artikel von „etwas irren“ Autoren. Wie passt das denn zusammen? Das Zusammenleben mit Muslimen, ein ganzes Leben lang, und diese Angst vor einem konzeptuellen Islam, dieser undeutlichen Melange, in der konservative Muslime auch Terrorverdächtige, muslimische Mädchen per se Opfer, Toleranz moralischer Rückzug und Nebeneinander Gegeneinander ist? „Ich denke, das kommt daher, dass sie prekär lebt, dass das Leben ihr nicht immer gut mitgespielt hat und dass sie das verunsichert.“
Irgendwie scheint es unvorstellbar, dass auch Frank Scheermesser, auf der anderen Seite der Spree, so emotional aufgeladen über den Islam spricht wie Sibylle Schmidt. Er, der seine Wahlplakate auf Arabisch und Türkisch drucken will, der türkische Gewerbetreibende als eine seiner Hauptwählergruppen definiert hat. Ein letztes Treffen mit ihm, ein Spaziergang zum RAW-Gelände, von der Warschauer Brücke vorbei an Hippies und Roma und Touristen und Punks und Betrunkenen. Herr Scheermesser, „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, was halten Sie davon?
„Absolut, der Islam gehört nicht zu Deutschland“, sagt Scheermesser betont, offenbar empört über die Annahme, es könne anders sein. Doch er unterscheidet gleich: „Ich meine den politischen Islam. Er ist eine Herrschaftsideologie, die da ist, um zu erobern und zu missionieren – seit Jahrhunderten.“ Niemals habe er dazugehört, nicht zu Deutschland, nicht zu Europa. Das Christentum gehöre zu Deutschland. „Und was auch dazugehört“, sagt er, „das sind Muslime. Das ist das Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland.“
Was für einen konkreten negativen Einfluss hat das, was Scheermesser den politischen Islam nennt, denn hier, in Berlin? „Prediger machen Kampfansagen in Moscheen, das darf hier keinen Platz haben.“ Frank Scheermesser wirkt jetzt aufgewühlter als sonst, scheint die Nachfragen nicht ganz nachvollziehen zu können. Es könne nicht sein, sagt er, dass unsere demokratische Gesellschaft sich den Sitten und Bräuchen von Muslimen anzupassen habe: wenn etwa an Universitäten Gebetsräume statt Labore eingerichtet würden; wenn es erst gar keinen Schwimmunterricht gebe, weil muslimische Mädchen sowieso nicht teilnehmen dürften; wenn es in Kitas, und da taucht es plötzlich auch in Scheermessers Rede auf, kein Schweinefleisch mehr gebe.
Ist Politik nach Gefühl wirklich eine Option?
Es scheint auch bei Frank Scheermesser, als sei bekannt, dass der Islam Raum greift, ohne dass aber Islam oder Raum definiert werden. Dass den Alteingesessenen der Platz weggenommen wird, ohne dass die Alteingesessenen benannt werden – was ja gerade in diesem Bezirk voller Zugezogener nicht eben einfach wäre. Dass weder Lösungen noch Maßnahmen bekannt sind, aber es eines gibt, woran man sich halten kann: den Schuldigen.
Und genau hier ist es so schwierig, der Argumentation zu folgen. Bei vielen ihrer politischen Ideen benennen Frank Scheermesser und seine Parteifreunde ja durchaus konkrete Probleme und liefern konkrete Lösungen, liberale, konservative oder auch sozialdemokratische: Plebiszite als Handlungsanweisungen rechtlich verankern, nicht wie bisher als Empfehlung verstehen. Schnellgerichte für Kleinkriminelle einführen, wie es Rudy Giuliani in New York vorgemacht hat. Nachbarschaftspolizei, die in den Kiezen arbeitet. Herabsetzung des Strafalters von 14 auf zwölf. Das kann man gut oder schlecht finden, es ist aber eine faktenbasiert ausgearbeitete Haltung.
Doch wenn es um das Phantasma einer Ideologie geht, die Deutschland, als Religion getarnt, zu unterwandern versucht, wird sich nur noch emotional entladen. So sehr, dass sogar der besonnene Scheermesser, der das Schweinefleisch-Gerede noch beim Parteitag als „Dampfplauderei“ bezeichnet hat, unwillkürlich darauf zurückgreift.
Aber ist Politik nach Gefühl wirklich eine Option? Zumal, wenn sie, sachlich betrachtet, die Religionsfreiheit massiv einschränken oder große Teile der Bevölkerung, darunter viele gebürtige Deutsche, des Landes verweisen müsste?
„Ich bin gegen alles Radikale“, sagt Frank Scheermesser. „Nicht nur den politischen Islam, sondern auch die Extreme in der AfD und die Politik der Alternativlosigkeit.“ Gerade sei es auch die Art, wie versucht werde, das TTIP-Abkommen gegen den Bevölkerungswillen durchzubringen. „Ehrlich gesagt“, sagt Scheermesser jetzt, „wenn die anderen Parteien so weitermachen, müssten wir überhaupt nichts tun.“ Die Leute kommen automatisch. Die AfD spreche Dinge an, die von anderen verschwiegen würden. „Das war beim Rettungsschirm so, dann bei den Flüchtlingen und jetzt beim politischen Islam. Und das nächste Thema werden wir auch wieder ansprechen.“
Käme die AfD im September auf 13 Prozent, säße Frank Scheermesser im Abgeordnetenhaus. Und mit ihm und den anderen AfDlern genau diese Strategie: Irgendeine Ungewissheit braucht es, da setzt sich die Partei drauf und gackert aufgeregt, dass sich sonst niemand kümmere, und am Ende wirkt die bebrütete Unsicherheit wie ein drohender Untergang. Von allen Seiten strömen dann Menschen herbei, kritisieren, relativieren, attackieren, bis der Untergang in aller Munde ist. In Friedrichshain-Kreuzberg liegen die Ungewissheiten auf der Straße, und wenn eines hier Bezirkssport ist, dann Kritik, Relativierung, Attacke. Im Grunde könnte die Lage für Frank Scheermesser und die Seinen kaum besser sein.
Dieser Text erschien zunächst am 4. Juni 2016 in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.