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Die vom Senat verhängte Sperrstunde ab 23 Uhr hat ein Berliner Gericht gekippt.
© dpa

Sperrstunde in Berlin gekippt: Der Rechtsstaat funktioniert - und das macht es kompliziert

Es ist beruhigend, dass die Gerichte in der Pandemie auf die Einhaltung der Grundrechte achten. Allerdings steigt der Bürger kaum noch durch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Fatina Keilani

Deutschland, das sind 17 Staaten – nämlich die Bundesrepublik als Ganzes und die 16 Bundesländer. Das führt schon in normalen Zeiten zu maßvoller Uneinheitlichkeit. Unter Pandemiebedingungen ist inzwischen ein verwirrendes Gebilde entstanden, bei dem kein Bürger mehr den Überblick hat, was wo gilt. Das ändert sich auch ständig.

Zugleich fahren Gerichte der Politik in die Parade und machen deren Bemühungen um wirksamen Infektionsschutz zunichte. Schönheit und Schrecken unseres Staatswesens lassen sich derzeit am lebenden Objekt studieren. Hoffentlich machen sich Politikwissenschaftler Notizen.

Schönheit: Die Gerichte sind unabhängig. Sie behalten die Grundrechte im Blick. Sie bilden ein Korrektiv. Der Rechtsstaat funktioniert. Schrecken: Das macht alles noch komplizierter. Wie soll man denn da durchregieren. Wenn die Bürger es nicht verstehen, halten sie sich auch nicht dran. Die Lage gerät außer Kontrolle.

Zum Beispiel Beherbergungsverbote: In manchen Ländern gelten sie noch, in anderen nicht. In Baden-Württemberg setzte der Verwaltungsgerichtshof das Verbot am Donnerstag außer Kraft und gab einer Recklinghausener Familie mit drei Kindern Recht, die ihre Ferien in Ravensburg verbringen wollte. Das Gericht hält das Beherbergungsverbot für einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht der Familie auf Freizügigkeit und damit für verfassungswidrig.

Es bedient sich dabei eines „Erforderlichkeitsarguments“: Grundrechtseingriffe sind nur dann „erforderlich“, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht. Hotelgäste gehören aber nicht zu den Treibern der Pandemie; als „milderes Mittel“ reichen Hygieneauflagen. Das Gefährlichste ist eben die Reise, nicht der Aufenthalt.

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Nun auch die Sperrstunden: Das Berliner Verwaltungsgericht kippte jetzt als erstes Gericht bundesweit die Sperrstunde von 23 Uhr bis 6 Uhr. Obwohl Berlin ein Hotspot ist und die Partypeople schon im Sommer gezeigt hatten, wie viel sie von Selbstbeschränkung halten.

Das Gericht argumentiert auch hier damit, dass die Sperrstunde nicht das „mildeste“ der geeigneten Mittel ist, um das legitime Ziel zu erreichen. „Die Kammer vermag nicht zu erkennen, dass Gaststätten unter den bislang geltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen einen derart wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen gehabt haben, dass wegen der nunmehr zu verzeichnenden Neuinfektionen eine Sperrstunde als weitere Maßnahme erforderlich wäre“, heißt es in dem Beschluss.

Hauptorte der Ansteckung seien private Haushalte, Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser und der Arbeitsplatz. Das „mildere Mittel“ der Hygieneauflagen sei ausreichend.

Was lehrt uns das? Erstens: Der Föderalismus lebt. Je mehr Einzelfallgerechtigkeit, desto komplizierter die Regelung. Zweitens: Die Grundrechte sind nicht verhandelbar, die Gerichte achten drauf.

Spannend wird es, wenn die Corona-Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Denn mit ihnen greifen die Regierungen massiv in Grundrechte ein. Doch je länger der Eingriff dauert und je intensiver er ist, umso präziser muss die gesetzliche Grundlage sein. Der Staat darf nur in Grundrechte eingreifen, wenn das Volk es ihm erlaubt – durch Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Ob das Infektionsschutzgesetz eine ausreichende Grundlage ist, muss auch noch evaluiert werden.

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