Hygiene im Krankenhaus: Der Kampf gegen die Keime
Die Bedeutung von Krankenhaushygiene wird heute allgemein anerkannt. Dafür haben Charité und Vivantes eigene Mitarbeiter. Eine aktuelle Tagesspiegel-Vergleichstabelle klärt auf, wie es um Sauberkeit und Sterilität in Berliner Krankenhäusern steht.
Der Schreck in der Öffentlichkeit ist jedes Mal groß. In den vergangenen sieben Jahren wurden immer wieder Fälle bekannt, bei denen sich zu früh geborene Babys im Krankenhaus mit gefährlichen Keimen infizierten, in Bremen, Mainz, Marburg oder an der Charité. Jedes Mal lautete die Frage: Wie konnte das passieren? Dabei sind diese Geschehnisse auf Frühchenstationen nur ein kleiner Teil eines großen Problems, das prinzipiell jeden Klinikpatienten treffen kann. Das Risiko, sich im Krankenhaus mit einem Erreger anzustecken, wenn der Körper ohnehin geschwächt ist, ist sehr real – und so häufig, dass Mediziner dafür einen Fachbegriff haben: nosokomiale Infektion. Studien haben ergeben, dass sich etwa 3,5 Prozent aller Klinikpatienten mit Bakterien oder Viren infizieren. Allein in Berlin wären das knapp 30 000 Patienten jährlich. Das sind etwa Harnwegsinfektionen oder entzündete Operationswunden, Atemwegserkrankungen oder eine Sepsis, die zu Nierenversagen und zum Tod führen kann.
Die Erreger schleppen die Kranken selbst ins Haus, aber auch Besucher und Personal. „Jeder Mensch hat rund zwei Kilogramm Bakterien im Darm und viele Milliarden auf der Haut“, sagt Petra Gastmeier, Chefhygienikerin der Charité. „Wenn diese Bakterien in sterile Körperbereiche gelangen, etwa über Gefäß- oder Harnwegkatheter, kann es zur Infektion kommen.“ Ein Problem, das Fachleuten bewusst ist: Immer im Mai gibt es den „Aktionstag Saubere Hände“. Klinikmanager, Politiker, Ärzte, Schwestern und Pfleger erfahren, was porentief rein bedeutet. Die Weltgesundheitsorganisation hat den jährlichen Tag ausgerufen, um deutlich zu machen, wie man gefährliche Mikroben bekämpfen kann: am wirkungsvollsten mit regelmäßig desinfizierten Händen. Vor jedem Patientenkontakt.
Jedes Jahr erinnert ein Aktionstag an die Wichtigkeit von Hygiene
Ein Spender für Desinfektionsmittel sollte in einem Krankenhaus immer in unmittelbarer Nähe zu finden sein, sagen Hygienefachleute. Er koste 20 oder 30 Euro, seine massenhafte Anschaffung mache Sinn. Die Spender sollten an den richtigen Stellen hängen, am besten direkt neben dem Krankenbett. Noch peniblere Experten meinen, dass auch Besuchertoiletten und Patientenbäder damit ausgestattet sein sollten. Ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel lässt sich leicht auch im Arztkittel mitführen.
Weil Händedesinfektion so wichtig ist, wurde für das Magazin „Tagesspiegel Kliniken“ die regelmäßige Teilnahme an der Aktion Saubere Hände und der Verbrauch von Händedesinfektionsmitteln auf den Stationen als Qualitätsindikatoren für die Vergleichstabelle Klinikhygiene ausgewertet. Diese Übersicht mit wichtigen Daten aus der Hygieneüberwachung Berliner Krankenhäuser erscheint nach 2013 zum dritten Mal, komplett auf 2016 aktualisiert. Immer noch ist es bundesweit einmalig, dass sich Krankenhäuser einer Region freiwillig einem Vergleich von Eckdaten der Klinikhygiene stellen. Keine Selbstverständlichkeit, denn diese Daten, die im Rahmen des Beobachtungssystems für Krankenhausinfektionen mit dem in diesem Zusammenhang eher putzigen Namen KISS (Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System) erhoben werden, waren bis dato nur den Einrichtungen zugänglich, die sich auch daran beteiligten.
Nahezu alle der im Klinikführer gelisteten Berliner Kliniken, die Daten an das KISS liefern, haben diese internen Angaben nun für eine Veröffentlichung freigegeben. Noch einmal mehr als bei früheren Veröffentlichungen: nun sind es schon 40, 2013 waren es 24. Ein starkes Zeichen für die Bereitschaft zur Transparenz. Allein das ist schon ein Qualitätsmerkmal, unabhängig von konkreten Ergebnissen.
KISS ist weltweit das zweitgrößte Hygienenetzwerk
Die Analyse der Daten übernimmt das Nationale Referenzzentrum für Krankenhaushygiene (NRZ) an der Charité, das von der dortigen Chefhygienikerin Petra Gastmeier geleitet wird. Die am KISS beteiligten Kliniken müssen sehr viel mehr tun, als nur Fragebögen auszufüllen, sagt Gastmeier. „Zu Beginn der Mitgliedschaft gibt es einen Einführungskurs für die Klinikhygieneärzte und das Hygienefachpersonal, dann alle zwei Jahre in Berlin einen Erfahrungsaustausch.“ Mittlerweile sei das System europaweit vernetzt und damit das zweitgrößte Hygienenetzwerk nach dem der USA, wo sich rund 11 000 Kliniken an einem vergleichbaren Kontrollsystem beteiligen.
Auch in Berlin machen immer mehr Krankenhäuser mit. Seit 2017 ist nun auch der landeseigene Klinikkonzern Vivantes, der neun Krankenhäuser in der Stadt betreibt, mit von der Partie; zunächst mit einzelnen Modulen und einzelnen Stationen. Aber man werde das KISS nach und nach an allen Standorten und für immer mehr Module ausrollen, sagt Christian Brandt, der seit 2017 oberster Klinikhygieniker des Konzerns ist.
Brandt ist – im Gegensatz zu Vorgänger Klaus-Dieter Zastrow – ein Fan von KISS. Das System erlaube die methodisch korrekte und systematische Erhebung von Hygienedaten. Die Kritik an KISS, dass die Methode nur eine Datenauswertung in der langfristigen Rückschau erlaube und man so nicht auf akute Infektionsausbrüche reagieren könne, lässt Brandt nicht gelten. Für die akute Reaktion sei KISS auch gar nicht gedacht, sondern dafür, im Vergleich die systematischen Schwachstellen in der eigenen Hygienevorsorge zu erkennen. KISS sei kein Frühwarnsystem für einen akuten Ausbruch. Deshalb habe Vivantes ein zweites Überwachungssystem, das bereits nach zwei oder drei aufgetretenen ungewöhnlichen Infektionsfällen Alarm schlage, sagt Brandt. Jede Klinikinfektion werde dokumentiert und gemeldet. Ist etwas ungewöhnlich, könne man sofort reagieren. Brandts Team von Hygienefachleuten ist groß: Acht Ärzte und 24 speziell qualifizierte Pflegekräfte schauen nach dem Rechten und prüfen die organisatorische, technische und bauliche Infektionsvorsorge. Sein Hygieneinstitut koordiniert auch die Überwachung von Klimaanlagen, etwa in OP-Sälen. Hier und auf bestimmten Stationen muss die Luft auch keimarm sein. Diese Überprüfungen belasten den Klinikbetrieb, weiter operiert werden muss trotzdem. Also muss Brandt alles von langer Hand planen.
Hygienefachleute galten früher als Störfaktor
Leute wie Petra Gastmeier oder Christian Brandt und Kollegen galten früher als Störfaktoren im Betrieb. So mancher Chefarzt brummte: „Ich bin Chirurg, ich muss operieren können. Hygiene interessiert mich nicht.“ Und die Ökonomen ließen ihre vermeintlichen Saubermänner wissen: „Hygiene kostet bloß Geld und bringt wenig Nutzen.“ Die Zeiten haben sich geändert. Krankenhaushygiene erspart nicht nur manchem Kranken eine langwierige und schmerzhafte, mitunter tödliche Infektion, sie spart auch Kosten. Seit einigen Jahren gelten in Deutschland Fallpauschalen, das heißt, die Klinik bekommt eine feste Summe pro behandelter Krankheit – egal, wie viele Tage der Patient bleibt. Je länger der das Bett hütet, desto weniger verdient die Klinik an ihm. Studien haben gezeigt, dass Patienten, die sich eine Infektion der Operationswunde zuziehen, im Schnitt 7,3 Tage länger in der Klinik bleiben müssen.
Die Autoren einer Studie im Vivantes Klinikum im Friedrichshain haben berechnet, dass die Behandlung eines Patienten, der sich im Krankenhaus mit einem multiresistenten Erreger (MRSA) infiziert hat, im Schnitt 11 000 Euro kostet. Dem stand ein Erlös von den Krankenkassen von 3000 Euro gegenüber. Ein reines Verlustgeschäft also. Billigste Lösung ist: Hören Sie auf Ihren Hygieniker! Die teuerste Konsequenz: ein Prozess. Denn Infektionen wegen mangelnder Hygiene im Krankenhaus gelten als Kunstfehler. Und Schadensersatz zahlen zu müssen kann sehr teuer werden. Zusätzlich motivieren auch gesetzliche Vorgaben. In Berlin gilt seit 2012 für alle Krankenhäuser eine Hygieneverordnung. Das alles erleichtert den Hygienikern ihren Job im Kampf gegen die Keime und ihre Übertragungswege.
Ein großes Problem ist die zunehmende Resistenz von Erregern
MRSA, der multiresistente Staphylococcus aureus, ist wohl der auch bei Laien bekannteste multiresistente Erreger. Er ist unter anderem in der Nase und auf der Haut zu finden. Er ist aber nicht der am weitesten verbreitete. Das sind multiresistente sogenannte „Gram-negative“ Erreger (im Medizinerdeutsch MRGN abgekürzt) – benannt übrigens nach einem dänischen Wissenschaftler, der diese Methode vor über 100 Jahren im Vivantes Klinikum im Friedrichshain entwickelt hat. Diese Winzlinge halten sich gerne, aber nicht nur, im Darm auf. „Teilweise beobachten wir bereits Erreger, bei denen alle üblicherweise eingesetzten Antibiotika nicht mehr wirksam sind“, sagt Charité- Hygienikerin Petra Gastmeier. „Sie versetzen die Ärzte in eine Situation zurück wie vor dem Zweiten Weltkrieg, als es noch keine Antibiotika gab.“ Einzige Gegenmaßnahmen sind Basishygiene und Kontaktisolation des Kranken. Trotz solcher Gegenmaßnahmen: Allein können die Kliniken dieses Problem nicht lösen. „Gesamtgesellschaftlich muss der Einsatz von Antibiotika reduziert und optimiert werden, um die Ausbreitung multiresistenter Bakterien zu vermeiden“, sagt Petra Gastmeier. „Das betrifft sowohl Landwirtschaft als auch Humanmedizin.“
Gefährlich sind in Krankenhäusern auch Legionellen, die sich im Wasser vermehren und bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem eine lebensgefährliche Lungenentzündung auslösen können. Spezialfilter unter dem Wasserhahn könnten helfen. Nach vier Wochen müssen sie erneuert werden. Kosten: 20 Euro pro Stück. Das kann sich ein Klinikum nicht für Tausende von Hähnen leisten. Da kommen schnell Millionen zusammen. Doch der richtige Einsatz des Geldes kann real Leben retten. Mit konsequenter Vorsorge ließen sich die Ansteckungszahlen verringern: „Bei den Kliniken, die sich KISS anschließen und sich dadurch erstmals richtig mit dem Thema beschäftigen, beobachten wir oft einen Rückgang der Infektionszahlen um 20, manchmal sogar 30 Prozent“, sagt Petra Gastmeier.
Wie bewertet man den Erfolg?
Zahlen, deren Allgemeingültigkeit sich jedoch nur schwer beweisen lässt. Denn die Hygiene-Überwachungssysteme stecken in einem grundsätzlichen Dilemma, wenn es um die Bewertung des Erfolges geht. Eigentlich gibt es nur zwei harte Fakten zur Beurteilung der Qualität der Maßnahmen: die Zahl der Patienten, die sich im Krankenhaus infiziert haben, und die Zahl derjenigen, die daran gestorben sind. Doch keines der beiden Systeme – weder das KISS noch das zweite Vivantes-System – liefert eine solche Zahl, einfach deshalb, weil dafür ständig sämtliche Patienten und deren Infektionen überwacht werden müssten. Schon die Schätzungen, wie viele Patienten pro Jahr an einer im Krankenhaus erworbenen Infektion sterben, sind schwierig. Manche sprechen von 40 000 Toten, Gastmeier von 10 000 bis 15 000. Vivantes-Kollege Brandt hält diese Zahl für wahrscheinlicher.
Es gibt jedoch von Krankenhaus zu Krankenhaus Unterschiede beim Erfolg im Kampf gegen die Keime. Die Öffentlichkeit will darüber erfahren. Doch die KISS-Daten seien dafür nicht geeignet, sagt Brandt. „Wenn die Kliniken öffentlich an diesen Zahlen gemessen werden, besteht die Gefahr, dass nicht mehr jeder ehrlich meldet.“ Belastbare Zahlen sind in diesem Bereich also weiterhin Mangelware. Vor diesem Hintergrund hatte der Gemeinsame Bundesausschuss, das Selbstverwaltungsgremium im deutschen Gesundheitswesen, in dem Ärzte, Kassen, Kliniken und auch Patientenvertreter sitzen, ein wissenschaftliches Institut beauftragt, ein Qualitätsindikatorensystem für die Klinikhygiene aufzubauen. Dieses ging – nach einigen Verzögerungen – 2017 an den Start und soll vor allem Wundinfektionen erfassen, die sich Patienten nach einer OP einfangen. Der öffentliche Druck war einfach zu hoch, eine verbindliche Hygiene-Qualitätsmessung zu etablieren.
Am Thema Infektionsvermeidung kommen die Kliniken nicht mehr vorbei, ebenso wenig daran, sich öffentlich an ihren Erfolgen messen zu lassen. Spätestens beim nächsten Ausbruch gefährlicher Infektionen auf Frühgeborenenstationen werden die Fragen wieder drängender.
Die Vergleichstabelle mit Angaben zur Klinikhygiene und zu Klinikinfektionen von 50 Berliner Krankenhäusern finden Sie im Magazin „Tagesspiegel Kliniken Berlin 2018/2019“. Es enthält auch erklärende Texte zu 62 Erkrankungen von Augenheilkunde bis Urologie. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel- Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 sowie im Zeitschriftenhandel.