Ärger um die Rigaer Straße: Keine Nacht für niemand!
Fünfeinhalb Jahre lang ließ sich unsere Autorin in der Rigaer Straße den Schlaf rauben. Was das Kampfgebrüll der Autonomen bedeuten soll, ist ihr bis heute unklar. Ein Leidensbericht.
Hier wohnen Sie in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Wohnstraße mit wenig Durchgangsverkehr. So beschreibt ein Immobilienmakler, der kürzlich eine Wohnung annoncierte, die Rigaer Straße. Nachbarn haben einander den Link zugemailt, sie haben ihn mit Smileys versehen, mit Sätzen wie „Die müssen es ja wissen“, oder mit Fragen: „Hoffnung?“ – „Eine Prophezeiung?“ Einer scherzt, dass „wenig Durchgangsverkehr“ ja im Grunde immer häufiger stimme – nämlich dann, wenn die Polizei wieder einmal die Straße abgesperrt hat oder brennende Barrikaden die Durchfahrt blockieren.
War die Rigaer Straße je eine ruhige Wohnstraße? Es muss lange her sein. In den fünfeinhalb Jahren, die ich dort gelebt habe, jedenfalls nicht.
März 2015, kurz vor meinem Auszug. Ich wache auf, weil es plötzlich taghell ist, obwohl der Wecker kurz vor vier Uhr morgens anzeigt. Das Licht kommt von riesigen Hochleistungsscheinwerfern, mit denen die Polizei die Häuserfassaden ableuchtet – sie scheinen direkt in unser Schlafzimmer. Randalierer haben einen großflächigen Stromausfall im Bezirk zum Anlass genommen, Sperrmüllfeuer auf der Straße zu entfachen, den Lidl zu plündern und die Scheiben der nahegelegenen Commerzbank-Filiale einzuschmeißen. Jetzt sucht die Polizei die Täter. Wenig später kreist ein Polizeihubschrauber über unseren Köpfen – und weckt noch die letzten, die dickere Vorhänge haben als wir.
Juni 2014. Bauschuttcontainer und Autos brennen, die Polizei rückt an, es kommt zur Massenschlägerei, Böller, Flaschen und Steine fliegen. Die Zeitungen melden 26 verletzte Polizisten und neun Festnahmen.
Auch an ganz andere Szenen erinnere ich mich. Juli 2010, kurz nach meinem Einzug. Es ist warm, das Fenster steht offen, wunderbare Klänge dringen ins Wohnzimmer. Auf dem Dach des bunt bemalten Hauses gegenüber spielt jemand Violine. Andere Instrumente steigen ein, ich trete ans Fenster und sehe eine Band aus vier oder fünf Leuten, der Sommerwind weht ihnen durchs Haar. Lange lehne ich im Rahmen und lausche. Berlin ist schön, denke ich.
Alternative Lebensformen müssen möglich sein
Wenn man es adrett und beschaulich haben will, kann man nach Steglitz oder Wilmersdorf ziehen, oder weiter raus in die Randlagen, eine Reihenhaussiedlung in Frohnau, Kleinmachnow oder Zehlendorf vielleicht. Fragt man Anwohner in der Rigaer Straße, weshalb sie hierher gezogen sind, in den Friedrichshainer Samariterkiez, hört man oft ähnliche Antworten. Wir mögen es lebendig und bunt durchmischt. Wir wollen nicht ins Auto steigen müssen, um ein originelles Lokal zu erreichen. Wir finden Prenzlauer Berg zu homogen oder können es uns nicht leisten. Die Menschen, die solche Antworten geben, haben sich an den besetzten – oder pseudo-besetzten, von Wohnprojekten genutzten – Häusern nicht gestört, bevor sie hier eingezogen sind, im Gegenteil, sie fanden sie interessant, faszinierend. Auch das ist ein Satz, den man hier häufig hört: Wir sind der Überzeugung, dass alternative Lebensformen möglich sein müssen in einer Metropole wie Berlin.
Die Rigaer Straße. 1,2 Kilometer lang, vom Bersarinplatz am westlichen Ende bis zum S-Bahnhof Frankfurter Allee im Osten. 1893 erstmals schriftlich erwähnt, eine Kirche, eine Schule, denkmalgeschützte Arbeitersiedlungen. 108 Häuser insgesamt, die meisten davon mit Seitenflügel und Hinterhaus, an die 6000 Menschen leben hier, die meisten in Altbauten. Dann sind da neue Gebäude, die in Kriegslücken gesetzt wurden, zum Teil sind sie noch im Entstehen begriffen, Berlin braucht Wohnraum.
Im Mai 2013 brennt so ein Neubau. Tags darauf stehe ich vor der Fassade, die frisch weiß verputzt war und jetzt tiefschwarz verrußt ist, bis hinauf in den sechsten Stock. Fensterrahmen sind in der Hitze des Feuers verschmort, Scheiben geborsten, ein bedrohlicher Anblick. Es wird kein Einzelfall bleiben. Zuletzt steht die Tiefgarage eines Neubaukomplexes am östlichen Ende der Straße in Flammen, im Dezember 2015, da bin ich schon nicht mehr Teil dieser Nachbarschaft.
Die Rigaer - eine letzte Bastion?
Besonders hübsch ist sie nicht, die Rigaer. Die meisten Häuserfronten sind, von den Graffiti abgesehen, schlicht bis trist, der Stuck wurde zu DDR-Zeiten abgeschlagen, vielerorts auch die Balkone. Kein Vergleich zu den Parallelstraßen, Schreiner- und Bänsch-, erstere mit aufwendig restaurierten und verzierten Fassaden, letztere auf die Samariterkirche zulaufend, mit breitem Grünstreifen in der Mitte, Sandweg und Parkbänken, dazu nette kleine Cafés und Läden, in denen man vegane Tartes essen, Holzspielzeug kaufen, alte Möbel aufarbeiten lassen kann. Wer dort lebt, kann wunderbar ausblenden oder gar nicht erst mitbekommen, was wenige hundert Meter Luftlinie entfernt in der Rigaer passiert.
Der Samariterkiez gilt seit Langem als „Hochburg der linksextremen Szene“. So steht es immer wieder in Zeitungsberichten. Angehörige dieser Szene rufen dazu auf, „den Kiez zu verteidigen“. Ich habe mich oft gefragt, welcher Kiez da gemeint ist. Nach der Wende wurden viele leerstehende Häuser in Friedrichshain von Autonomen besetzt. Doch die Straßen südlich der Frankfurter Allee – wie die Mainzer, von der es Fotos gibt, die nach Kriegsschäden aussehen, obwohl sie die Folgen einer Straßenschlacht zeigen – sind längst befriedet, manche sagen: angepasst. Da leben jetzt hippe Studenten und IT-Genies, die bei aufstrebenden Unternehmen wie dem Onlinehändler Zalando oder der Reisesuchmaschine Kayak arbeiten, Webseiten optimieren, Computerspiele programmieren. Im Norden sind auf dem Gelände des alten Schlachthofs spießige Townhouses entstanden.
Die sogenannte linke Szene, sie ist ziemlich zusammengeschrumpft.
Auf die Rigaer.
Eine letzte Bastion?
Kotze, Scherben, Scheiße
Kurz nach uns zog ein junges Pärchen in unser Haus ein, sie Studentin, er Handwerker. Die beiden mussten aus der parallel gelegenen Schreinerstraße weg, weil ihr neuer Hund qua Mietvertrag nicht geduldet war. „Wir wollten unbedingt im Kiez bleiben“, erzählten sie, als sie sich uns vorstellten. Zwei Jahre später zogen sie wieder aus. Sie waren verstört, weil sie zwar das Planquadrat nicht verlassen, aber ihren Kiez verloren hatten.
Kotze, Scherben, Scheiße. So fällt an schlechten Tagen meine Zusammenfassung des Ortes aus, an dem ich gewohnt habe. Gute Erinnerungen werden überlagert von zu vielen schlechten. Zermürbt haben mich nicht die großen Zusammenstöße, die dieser Tage die Schlagzeilen dominieren, sondern die vielen alltäglichen Nächte, in denen auf der Straße vor unserem Haus gegrölt wurde, in denen Bierflaschen zu Bruch gingen, Männer in unseren Hauseingang pissten. Einmal, das ist vielleicht zwei Jahre her, habe ich mitgezählt. Acht Mal lösten sich binnen einer Stunde Menschen aus der Traube vor dem Haus gegenüber, um die Straßenseite zu wechseln und an unsere Tür zu pinkeln. Morgens war der Gestank im Flur so durchdringend, dass man immerhin nicht Gefahr lief, ungewarnt in die Urinlache zu treten. War die Tür nicht richtig verschlossen, fanden wir mitunter auch andere Hinterlassenschaften vor. Sie stammten ziemlich offensichtlich nicht von den zahlreichen Hunden – die kackten nur auf die Bürgersteige.
Das Haus, das unserem gegenüberlag, war nicht die Rigaer Straße 94, deren Teilräumung die aktuelle Unruhe ausgelöst hat. Uns brachte ein anderes Haus um den Schlaf: das alternative Wohnprojekt in der Rigaer Straße 78.
Wiederkehrende Szenen, Teil 1. Auf der anderen Straßenseite gerät irgendwer mit irgendwem in Streit. Menschen brüllen. Hunde kläffen. Hunde werden angebrüllt, dass sie mit dem Kläffen aufhören sollen. „Eeeyyy! Brüll meinen Hund nicht an!“ – „Schnauze!“ Immer neue Kläffer, immer neue Brüller mischen sich ein.
Dumpfes Punk-Gewummer dringt aus dem Lokal im Erdgeschoss
An einem Vormittag im Juni 2010 treffen wir in unserem Treppenhaus auf Kriminalbeamte. In der vorangegangenen Nacht, sagen sie, sei vor dem Haus gegenüber ein Mann lebensgefährlich mit einem Messer verletzt worden. Ob wir etwas gehört hätten, eine Pöbelei vielleicht, eine Auseinandersetzung? Wir sehen uns an und müssen unwillkürlich lachen. So etwas hören wir hier jede Nacht.
Was wir noch hören: dumpfes Gewummer von Oi!-Punk. Stetig schallt die Musik aus dem Lokal im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses. Manchmal wird sie kurz lauter, dann wissen wir, dass sich die Kneipentür geöffnet hat, um einen Betrunkenen in die Nacht zu entlassen oder einen neuen aufzunehmen.
Subkultur. Ein Begriff, in dem das lateinische Wort cultura steckt, Ableitung des Verbs für „pflegen, urbar machen, ausbilden, gestalten“. War das Kultur, was sich da vor uns abspielte? War das mit irgendeinem anderen Inhalt gefüllt als mit Sternburg Pils? Ich wollte es gerne glauben – und konnte es bald nicht mehr.
Anfangs gefiel mir der Gedanke, in einer Straße zu wohnen, die für Vielfalt, für Offenheit, für Solidarität steht. Und für Toleranz. Was aber soll das für ein Toleranzbegriff sein, wenn eine Gruppe für sich selbst das Maximum an Freiheit in Anspruch nimmt – und dabei alle anderen in ihrer Freiheit beschneidet?
Der Freiheit, in einem sauberen Haus zu wohnen, zum Beispiel. Oder nachts in Ruhe schlafen zu dürfen. Der Freiheit, eine Blume zu pflanzen, ohne dass sie ausgerissen oder zertrampelt wird – so geschehen einem engagierten Paar im Haus nebenan, das die Beete unserer „von Bäumen gesäumten Wohnstraße“ 2014 liebevoll bepflanzt und umzäunt hatte. Irgendwer erkannte da sofort die Gefahr, die in jedweder Ästhetik lauert. „Alle sind aufgerufen, Dreck und Sperrmüll in der Rigaer Straße abzuladen, damit es dreckig bleibt“, lautet eine Nachricht, die Unbekannte im Januar 2016 bei Twitter absetzen. Doch zu diesem Zeitpunkt sind wir schon einige Eskalationsstufen weiter, da ist die Rigaer Straße bereits offizielles Gefahrengebiet, nicht nur für Hornveilchen.
Wenn eine Minderheit den Rest terrorisiert - ist das Subkultur?
Subkultur, da steckt auch sub drin, lateinisch für „unter“ oder „untergeordnet“, Teilgruppe einer Gesellschaft, Minderheit – das Gegenteil also von Herrschaft und Dominanz. Subkultur meint eigentlich nicht: dass eine Minderheit allen anderen ihren Lebensrhythmus und ihre Regeln aufzwingt.
Es fällt mir schwer zu sagen, wofür die, die mich da um Schlaf und Lebensqualität brachten, wirklich standen. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden – was aber wussten die Leute gegenüber noch von Rosa Luxemburg? Offenbar waren sie der Überzeugung, dass es etwas zu bewahren, oder doch zumindest zu verteidigen galt. Aber was? Und gegen wen?
Gegen das Kapital, gegen steigende Mieten, gegen Verdrängung. Das klingt ehrenwert und nach Robin Hood. Man muss es nur allgemein genug formulieren. Was aber bedeutete es hier konkret? Gegen Menschen? Menschen wie mich?
Das Gefühl, persönlich gemeint zu sein, befiel mich zum ersten Mal wenige Wochen nach meinem Einzug im Jahr 2010. Ich trete aus der Haustür, gegen Mittag, auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, ich trage Blazer und Pumps. „Ey, Tussi“, brüllt jemand, „verpiss dich hier!“ Während ich noch zweifle, ob ich gemeint bin, kommt die ausdrückliche Bestätigung. „Ja, du, Püppi!“
Ein gutes halbes Jahr später suche ich erstmals das Gespräch mit ein paar Krakeelenden auf dem Gehweg.
„Entschuldigung, es ist zwei Uhr morgens – könnt ihr ein bisschen leiser sein?“
„Sei du mal leise, Yuppie-Schlampe!“
Allgemeines Gejohle. Bierpullen werden triumphierend in die Höhe gereckt. Am Ende skandiert die ganze Gruppe: „Halt – die – Fresse!“
Die Lage eskaliert
Einmal ist eine Freundin aus Köln zu Gast. Mit dem Handy fotografiert sie das Namensschild der Kneipe im Haus auf der anderen Straßenseite. „Ey, Arschloch, hau ab!“, schallt es von oben. Wir trösten die Freundin: Immerhin bist du nicht beworfen worden.
Wiederkehrende Szenen, Teil 2: Junge Menschen mit Fotoapparaten bleiben ehrfürchtig vor dem bunten Haus gegenüber stehen, aus dessen Fenstern Schuhe, Puppen ohne Kopf und immer neue Transparente hängen: „1 Kilometer Anarchie“ – „Eine Regierung schafft keine Ordnung, nur Unterordnung“ – „Know your enemy“, dazu das Bild einer Polizistin. Die jungen Menschen fotografieren. Ein Fenster öffnet sich, es fliegen Kartoffeln, oft Wasserbomben auf die überraschten Touristen. Darauf muss man erst mal kommen: Da hängt jemand Botschaften aus dem Fenster, aber wehe dem, der sie lesen oder gar verbreiten will.
Persönlich gemeint muss sich auch der Inder fühlen, der irgendwann das Restaurant an der Ecke übernimmt, davor war es eine ägyptisch geführte Pizzeria. Der neue Betreiber und seine Frau kaufen Windlichter und bunt verzierte Strohschirme, sie stellen samtbezogene Stühle auf die Straße und streichen die Außenwand gelb. Am Morgen darauf ist die Fassade mit Farbbeuteln beworfen worden. Sie streichen wieder. Am nächsten Morgen ziehen sich die Farbspritzer über die gesamte Länge der Wand, dazu die Parole: „Keep it dirty!“ Es wird ein allzu vertrautes Bild: der Inder mit seinem Farbeimer, unermüdlich pinselnd, ein Sisyphos im Samariterkiez.
Hätte die Rigaer Straße ein Wappen, müsste das zentrale Gestaltungselement ein Pflasterstein sein. Anzahl der Attacken auf Polizeiwagen mit Pflastersteinen in den Jahren 2010 bis 2014: fünf, dreizehn, dreizehn, zwölf, fünfzehn. Als die Polizei im Januar 2016 eins der besetzten Häuser am anderen Ende der Straße durchsucht, findet sie einen ganzen Einkaufswagen voller Pflastersteine. Dazu passt eine Zeitungsmeldung vom April 2015: „Chaoten beschießen Kinderzimmer mit Pflastersteinen und Stahlkugeln.“ Einige Wochen vorher hatte es vor unserem Haus folgenden Wortwechsel gegeben. „Hallo, bitte mal etwas ruhiger da unten, hier versuchen Kinder zu schlafen!“ Ein Anwohner ruft das abends von seinem Balkon. Zurückgebrüllte Antwort: „Selber schuld!“
Wie hältst du das aus?, haben Freunde mich manchmal gefragt, wenn sie bei uns übernachteten – ist das immer so? Nein, nicht immer. Friedlich, geradezu idyllisch habe ich in der Rigaer Straße die Vormittage in Erinnerung. Auch da sind die Gehwege bevölkert – aber mit Schlafenden. Auf Sperrmüllsofas oder Matratzen, auf Stromkästen oder Schuttcontainern schlafen sie ihren Rausch aus.
Das Blutbad zwischen Nazis und Punks fällt aus - weil die Punks noch schlafen
Weil eine Großdemo in Hamburg kurzfristig abgesagt wird, ziehen an einem Septembermorgen im Jahr 2015 unerwartet 40 Anhänger der rechten Szene durch die Rigaer und brüllen ihre Parolen. Obwohl die Demonstration nicht angemeldet ist, greift die Polizei nicht ein. Dass es dennoch nicht zum Blutbad zwischen Punks und Nazis kommt, erklärt am nächsten Tag eine Pressemitteilung auf einer linken Internetseite so grotesk wie plausibel: Zu ihrem persönlichen Glück, heißt es dort, hätten die Nazis eine Uhrzeit gewählt, in der „viele Anwohner_innen noch im Bett lagen“.
Wer Rigaer sagt, muss auch Liebig sagen. Das oft in den Medien beschriebene besetzte Haus in der Liebigstraße 14 ist ein Eckgebäude, es grenzt an die Rigaer Straße. Seine Räumung im Februar 2011 stellt eine Zäsur dar. Diesmal sind unsere Nachbarn früh auf den Beinen: Es dämmert noch nicht an diesem kalten Wintermorgen, als wir von Endzeitmusik in bisher ungekannter Lautstärke geweckt werden. Das Dach gegenüber ist massenbevölkert, von dort hat man den besten Blick aufs Geschehen – und die beste Wurfposition. Aus den Boxen erklingt „Spiel mir das Lied vom Tod“.
Mit der Geschichte der Liebigstraße 14 und dem Schicksal ihrer Bewohner habe ich mich damals wenig beschäftigt, ich war weder für noch gegen die Räumung. Ich weiß nur, dass in unserem Treppenhaus damals oft die Frage diskutiert wurde, ob dem ungeliebten Haus gegenüber vielleicht ein ähnliches Schicksal drohe. Natürlich wählten wir unsere Worte mit Bedacht, niemand sagte: Wäre doch toll, wenn endlich Ruhe wäre. Aber jeder wusste, wie die hypothetische Frage gemeint war.
Die Antwort suchte ich eines Tages im Internet. Ich erfuhr, dass das Haus in der Rigaer Straße 78 im Jahr 2008 von einer Schweizer Stiftung übernommen worden war, nachdem die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain es ein Jahr zuvor an einen Investor verkauft hatte, der damit nicht glücklich geworden war. Mit Verlust gab er es deshalb an die Edith Maryon Stiftung ab, deren Ziel es ist, Grund und Boden dem spekulativen Immobilienmarkt zu entziehen und sozialen Projekten zur Verfügung zu stellen. Per Erbbauvertrag reichte die Stiftung das Haus an eine zu diesem Zweck gegründete GmbH weiter, die zu 51 Prozent dem Bewohnerverein gehört. Deren Vertrag, stellte ich fest, hat eine Laufzeit von 99 Jahren – bis 2107. Soviel Zeit hatte ich nicht.
Warum ich am Ende aufgab
Zwei Schlüsselerlebnisse gaben am Ende den Ausschlag dafür, dass ich wegzog. Nicht, dass man mir eine Flasche Sternburger hinterherwarf, als ich wieder einmal für die Idee der Nachtruhe warb. Nicht die Beleidigungen, nicht einmal, dass unser Eingang eines Frühlingstages mit giftigem Altöl besudelt wurde. Sondern dieses Erlebnis: Eines Nachts stehen plötzlich nicht mehr 20, sondern 80 Grölende vor dem Haus. Ich bin hundemüde, doch mir helfen weder Ohropax noch der Umzug mit Matratze in die Küche, die als einziges Zimmer nach hinten raus geht. Zweieinhalb Stunden ringe ich mit mir – bis ich schließlich die Polizei rufe. Nie und niemals wollte ich jemand sein, der wegen Lärms die Obrigkeit einschaltet. Es ist das, was ich den Krachmachern am meisten übelnehme: dass sie mich zu jemandem gemacht haben, der das Vertrauen zur Konfliktlösung durch Kommunikation verloren hat.
Das zweite Schlüsselerlebnis folgt umgehend. Der Beamte, der am Telefon meine Beschwerde aufnimmt, erkundigt sich nach Straße und Hausnummer – aber niemand kommt. Die Polizei, mein Freund und Helfer, reagiert schlicht nicht auf mein Gesuch. Heute weiß ich, dass Nachbarn, die beim Bezirksamt Anzeige wegen andauernder Lärmbelästigung erstatten wollten, beraten wurden, das doch besser sein zu lassen. Gegen den Lärm polizeilich vorzugehen, sei vom Bezirk „politisch nicht gewollt“, versicherten ihnen wohlmeinende Beamte. Passieren werde also nichts, außer dass sie als Anzeigende namentlich erfasst würden. „Dann haben die Ihre Adresse – das wollen Sie doch nicht riskieren?“ Leute aus der linken Szene, hieß es, könnten sehr ungemütlich werden.
Wir verlassen Friedrichshain im Juli 2015. Ein paar Monate später wird die Straße als Reaktion auf „gehäufte Angriffe auf Ordnungskräfte“ – sprich: Steinwürfe auf Polizeiwagen – zum Gefahrengebiet erklärt. Die Definition ermöglicht es den Behörden, Personen zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Anlass auf der Straße zu kontrollieren. Der Rest der Eskalationsspirale ist bekannt.
Anfang dieses Jahres begegne ich dem Paar, dem das Bezirksamt von einer Anzeige wegen Lärmbelästigung abgeraten hat. Die beiden wohnen immer noch in der Rigaer. Sie erzählen, dass sie ihre Fensterscheiben austauschen lassen wollten. Ein Glasexperte war in ihrer Wohnung, ein Mann, der sonst Flughäfen mit besonders geräuschresistenten Scheiben ausstattet. Er wollte 1000 Euro pro Fenster haben. So viel Geld, sagen mir die beiden Bekannten, hätten sie leider gerade nicht. „Aber es wäre gut angelegt.“
Und das sagen die Nachbarn
Acht Monate, nachdem ich die Straße verlassen habe, versuche ich, Kontakt zu meinen ehemaligen Nachbarn aufzunehmen, dem Wohnprojekt in der Rigaer Straße 78. Zuerst antwortet mir die Schweizer Edith Maryon Stiftung, die das Gelände 2008 kaufte. Ein „gesellschaftliches Experiment“ nennt sie das Haus. „Wir sind nicht verantwortlich dafür, was die Gruppe, die das Haus bewohnt, mit ihm macht.“ Ihr Ziel sei es allein, die Bodenpreissteigerung in Berlin gering zu halten. „Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht reinreden.“ Grundsätzlich sei er natürlich der Meinung, dass solche Experimente gewaltfrei ablaufen müssen, sagt der freundliche Herr am Telefon. „Wo Menschen dicht auf dicht leben, ist Respekt nötig, damit ein Nebeneinander möglich ist.“
Vom Berliner Mietshäusersyndikat, einer nicht-kommerziell organisierten Beteiligungsgesellschaft mit der Mission, Häuser in Gemeineigentum zu überführen, bekomme ich keine Antwort. Auf meine Anfrage an die Bewohner des Hauses, die gemeinsam mit dem Syndikat auf Erbbaubasis über das Gebäude verfügen (Details dazu im Artikel links), meldet sich nach vier Tagen Nico. Seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen, auch nicht fotografiert werden. Aber er ist zu einem Treffen bereit.
Um 14 Uhr an einem Freitag im März stehe ich vor dem aus Holzbrettern zusammengezimmerten Tor des Hauses. Reinlassen wollen sie mich nicht. Etwas ist neu: Über dem Eingang prangt, aus Rohren und Metallstäben zurechtgebogen, der Schriftzug „Yes we hate“.
Das Tor geht auf. Nico ist älter, als ich erwartet hatte – 52 Jahre, kurze Haare, Stoppelbart, randlose Brille, Kapuzenjacke in verwaschenem Blau. „Wir warten noch auf Michelle“, sagt er. Und weil ich ihn auf den Schriftzug anspreche: „Der ist nicht in meinem Sinne.“ Das hätten ein paar Leute da angebracht, ohne das vorher abzusprechen. Im Plenum sei beschlossen worden, den Schriftzug zu ändern. Aber wie das so sei – passiert ist seit Wochen nichts.
„Inwiefern zu ändern?“ Naja, sagt er, nicht zu ändern, da hätten sich einige ja viel Mühe mit gemacht, aber zumindest ergänzt werden soll er, konkretisiert, „damit deutlich wird, worauf sich der Hass bezieht, und das nicht so als negative Botschaft allgemein da steht“. Auf die Nachfrage, worauf sich der Hass denn beziehe, sagt Nico: „Dazu kann ich nix sagen, wie gesagt, das Ding ist nicht von mir, und ich finde, es sollte ganz weg. Die Leute, die es gut finden und es erklären wollten, haben sich bisher noch nicht gerührt.“
"Wir werfen niemanden raus"
Das Tor öffnet sich wieder, Michelle kommt, 42, etwas kleiner als Nico, kurzgeschorene Haare vorne rechts mit zwei blonden Streifen, Zopf hinten, schwarze Brille, beigefarbenes Sweatshirt. Die beiden schlagen vor, ins Café schräg gegenüber zu gehen.
Da sitzen wir auf schwarzen Lederbänken. Und während Michelle den Kirschsirup von der Sahnehaube eines Eiskaffees löffelt, bekomme ich von Nico einen Crashkurs über das Leben in dem Haus, auf das ich jahrelang geblickt habe. Seitdem die Stiftung den Grund gekauft hat, kümmert sich eine GmbH, deren Geschäftsführung Nico gemeinsam mit zwei anderen bildet, eigenständig um die Instandhaltung. Zimmer werden einzeln vermietet, bis auf zwei Wohnungen, die vorher schon in Gänze bewohnt waren. „Wir werfen niemanden raus.“ Circa 50 Leute lebten da jetzt. Bewerben kann sich jeder, Handwerker werden gerne genommen, zwei Wochen Probewohnen sind Pflicht. Nico ist freiberuflicher Ingenieur, Michelle macht soziale Arbeit. Bei der Auswahl der Bewohner achteten sie auch darauf, welche Chancen die hätten, anderswo unterzukommen. Die Miete? „Das machen wir vom Einkommen abhängig. Die einzige Regel ist: Es muss Hartz-IV-tauglich sein.“
Ich will von Nico und Michelle wissen, wie sie das Klima im Kiez empfinden. Sie sind sich einig: als sehr solidarisch. Ich sage den beiden, dass ich fünfeinhalb Jahre lang ihre Nachbarin war. Dass ich am Ende an dem Punkt war, alles andere als solidarisch mit ihnen zu sein. Ich schildere ihnen all das, was mich frustriert hat.
Sie wirken aufrichtig bestürzt.
„Der Krach und die Pöbeleien auf der Straße, das müssen nicht unbedingt Bewohner unseres Hauses gewesen sein“, sagt Nico. Auch er wohne nach vorne raus, auch er sei manchmal genervt. Es sei schon vorgekommen, dass eine Horde Punks zwei Wochen vor ihrem Haus campiert habe. Und er findet es super, dass ich erst mal persönlich hingegangen bin, statt gleich die Polizei zu rufen. Aber das Gespräch mit Betrunkenen nachts um zwei sei kein sehr erfolgversprechendes Unterfangen. „Besser ist, du gehst in den ,Abstand‘ rein und sprichst mit den Leuten hinterm Tresen.“ Sie hätten schon mal einen Regelkatalog gemeinsam mit dem Inhaber des Spätis nebenan entwickelt. Dafür habe man sich unter anderem darauf verständigt, Leute aufzufordern, doch bitte in den „Forki“ – den nahen Park am Forkenbachplatz – zu gehen, wenn sie morgens auf der Straße campieren wollten. Das mit den Regeln sei in letzter Zeit aufgrund der Polizeimaßnahmen aber „etwas eingeschlafen“.
Pinkeln gegen den Kapitalismus
Wie finden sie es, wenn Steine in Kinderzimmer fliegen? Auch bei ihnen im Haus wohnen Familien mit Kindern, erzählt Nico. Michelle sagt: Keiner wisse, wer das war.
Wie denken sie darüber, dass im Mai 2013 ein Neubau gebrannt hat? „Da hat ja noch niemand drin gewohnt“, sagt Michelle. Das sei Konsens: dass sie Menschen nicht wehtun.
Wie denken sie darüber, dass Flaschen, Kartoffeln, Wasserbomben fliegen, wenn jemand ihr Haus fotografiert? „Es ist eben unser Zuhause.“
Dass der indische Gastronom ein paar Häuser weiter ständig streichen muss, weil die Fassade seines Lokals vollgeschmiert wird? „98 Prozent dessen, was hier an den Wänden steht, ist Müll“, sagt Nico. Besonders regt es ihn auf, dass das Steinportal der Heinrich-Hertz-Oberschule gegenüber so vollgetaggt ist. „Das ist respektlos gegenüber der Geschichte und der künstlerischen handwerklichen Arbeit, die da geleistet wurde.“
Dass Hauseingänge als Pissoirs benutzt werden? „Das ist ein gutes Beispiel für den Kapitalismus“, sagt Michelle. „In der DDR gab es kostenfreie öffentliche Toiletten. In diesem Land soll man fürs Pinkeln zahlen.“
Welche Pläne haben die beiden für die Zukunft? Die Fassade renovieren, sagt Nico. Der Stuck bröckelt ab, und neue Fenstergitter wären schön – in die man auch mal Blumen reinstellen könne. Vielleicht sei das gerade aber auch strategisch unklug, ein Gerüst, sagt Nico. Wieso? „Na, dann kommt die Polizei leichter rein.“
Vor einiger Zeit haben die beiden und ihre Mitbewohner ein Nachbarschaftscafé ins Leben gerufen. Jeden ersten und dritten Freitag im Monat in der Kneipe ihres Hauses, im „Abstand“, 15 bis 21 Uhr, rauch- und alkoholfrei. Was für Nachbarn wünscht ihr euch, Nico und Michelle? Kreative, sagt Michelle, aber Nico unterbricht: Sie wollen ja nicht separieren, sie wollen, dass hier alle eine Chance haben. „Auf jeden Fall aber Leute, die Leben reinbringen, kommunizieren, auch mal ’nen Tisch vors Haus stellen, statt sich in ihren Wohnungen zu verkriechen“, sagt Nico. „Nachbarn, die das Draußen nicht nur ertragen.“
Dieser Text erschien zuerst in der Sonnabendbeilage Mehr Berlin im gedruckten Tagesspiegel.
Von einer, die auszog