M 10: Die Berliner Partytram
Feiern, bis der Kontrolleur kommt: Die M10 ist Berlins schnellster Club. Rein kommt jeder – für nur 2,30 Euro. Und manche wollen gar nicht mehr raus.
Es ist Samstagnacht, kurz vor zehn Uhr, die M10 gleitet in die Haltestelle an der Warschauer Brücke und öffnet ihre Türen. Menschen drängen ins Innere der Tram, dann macht sich der gelbe Wurm auf den immer gleichen Weg: von Friedrichshain über Prenzlauer Berg bis zum Nordbahnhof – und zurück.
Hier, am Anfang der Strecke, leuchtet nördlich die Arena am Ostbahnhof, das Licht glitzert auf dem schwarzen Wasser der Spree. Im Süden leuchtet nichts, da ist es dunkel. Mütter mit Kinderwagen unterhalten sich, Männer in Anzügen blättern in ihren Unterlagen oder sprechen in ihre Handys. Es ist noch früh, noch ist alles ruhig in der M10, die sich bald in die „Partytram“ verwandeln wird, wie in jeder Wochenendnacht.
Auf einer Strecke von 7,8 Kilometern schlägt die M10 einen östlichen Bogen um Berlins Mitte, die Fahrt dauert von End- bis Endhaltestelle eine knappe halbe Stunde, 20 Stationen liegen auf dem Weg. Am Wochenende aber geht es in der „Zehner“ um mehr, als einfach nur von A nach B zu kommen. Jeden Freitag- und Samstagabend wird die Tram zum Sammeltaxi der Berliner Partygänger, denn sie fährt da entlang, wo sich die beliebtesten Clubs der Stadt befinden: das Watergate, das Matrix und der Club der Visionäre an der Spree, das Berghain am Ostbahnhof, das Rosi’s am Ostkreuz, das Icon und die Clubs in der Kulturbrauerei an der Schönhauser Allee.
Berlins öffentliche Verkehrsmittel bieten Einblick in die unterschiedlichsten Milieus. Mit der U2 fahren die Hertha-Fans samstags ins Stadion. Die U8, die den Wedding mit Neukölln verbindet, gilt als Linie der Drogendealer. In der U3 trifft man vor allem FU-Studenten, und die U1, die sich mit ihrem bunt gemischten Publikum quer durch die Stadt zieht, kennt man aus dem gleichnamigen Musical. Mit der Ansiedlung der Clubs rund um Friedrichshain in den beiden Jahrzehnten nach dem Mauerfall wurde die M10 allmählich zum Beförderungsmittel des Partyvolks.
Es gibt Youtube-Clips von M10-Partys und Fotos auf Flickr, die genauso gut in einem der Berliner Clubs aufgenommen sein könnten. Und irgendwie sind sie das auch. Denn die M10 wird freitags und samstags zum Club auf Schienen. „Sie ist der Nachtschwärmer-Express“, wirbt die BVG auf ihrer Homepage. „Sie verbindet die besten Party-Orte Berlins.“ Mit seinem Hit „Drei Tage wach“ hat der DJ Tobias Lützenkirchen der Tram ein Denkmal gesetzt: „Auf geht’s, ab geht’s, drei Tage wach, nächste Party kommt bestimmt, drei Tage wach.“ Im Video dazu tanzen zwei Typen in Hasenkostümen durch die Tram.
„Ach ja, Lützenkirchen“, sagt Benjamin Schickel, schaltet das Notebook ein, sucht das Lied und dreht die Lautstärke hoch. Benjamin ist 23 Jahre alt und studiert Marketingkommunikation. Gemeinsam mit Freunden sitzt er in einer WG-Küche an der Danziger Straße, vom Fenster aus sind die Gleise und Hochspannungsleitungen der „Zehner“ zu sehen. Benjamin und seine Freunde haben sich zum Vorglühen getroffen, später wollen sie in einen der Clubs fahren, natürlich mit der M10.
„Wir wohnen alle mehr oder weniger entlang der Strecke“, erzählt Benjamin, „und seitdem Friedrichshain hip geworden ist, gehört das Feiern in der Tram einfach zum Wochenende dazu.“ Benjamin schenkt sich noch ein Glas Wein ein und reicht die Flasche weiter. Irgendwann sei der Begriff „Partytram“ zum geflügelten Wort geworden, und vor einem halben Jahr habe er deshalb beschlossen, für sich und seine Freunde eine M10-Gruppe bei Facebook zu gründen. „Voll! Laut! Party!“, heißt das Motto der Seite.
Es ist kurz vor Mitternacht, die WG-Freunde beschließen aufzubrechen. Sie wollen ins Barbarella in Kreuzberg oder in den Club KPTN in Friedrichshain, im Einzelnen werden sie das erst auf der Fahrt entscheiden, jetzt geht es erst mal in die Tram, vorher werden noch ein paar Flaschen Bier und Wein eingekauft, für unterwegs.
Die Zehner kommt, und als sich die Türen öffnen, schlägt der Gruppe aufgeheizte Clubluft entgegen. Die Mütter und die Geschäftsleute sind längst zu Hause, die Verwandlung von der normalen Straßenbahn zur fahrenden Disko ist vollzogen. Flaschengeklirre, Gejohle, Geschrei. „Partytram! Partytram!“, singt eine Gruppe im Chor. Die Fensterscheiben sind beschlagen, süßlicher Red-Bull-Geruch liegt in der Luft. Wer keinen Sitzplatz mehr bekommt, krallt sich irgendwo fest, wenn die Tram am Bersarinplatz in die Kurven kracht, einhändig, mit der anderen Hand halten die Leute ihre Flaschen fest. Schnell trinken, damit das Bier nicht warm wird. „Warum ist das so voll hier?“, fragt ein Mädchen ihren Freund. „Weil es die M10 ist“, sagt er und küsst sie auf den Mund.
Das hier ist kein Sonderzug, den man für die Firmenfeier oder den Junggesellenabschied buchen kann. Hier entscheidet sich jedes Wochenende neu, wer mit wem feiert.
Die Tram zieht ihren Bogen, in südöstlicher Richtung, vorbei am Volkspark Friedrichshain, der sich im Dunkel der Nacht versteckt. Sie passiert die beiden Türme des Frankfurter Tors, dahinter, am Horizont des Boulevards der Frankfurter Allee, leuchtet das Rund des Fernsehturms wie eine überdimensionierte Diskokugel. All das ist durch die beschlagenen Scheiben der Tram inzwischen kaum noch zu erkennen. Aber hier sieht sowieso kaum jemand aus dem Fenster. Mitten im Waggon wird getanzt. Benjamin trinkt einen Schluck Bier. „Nüchtern“, sagt er, „macht das hier nur halb so viel Spaß.“ Getrunken wird auch Wein aus der Flasche, manchmal wird auch geraucht, nachts in der M10 gelten andere Gesetze. „Das ist hier wie auf einem Festival“, sagt einer der Freunde. „Solange nichts passiert, ist alles erlaubt.“
Pina Hodes, 21, ist eine Freundin von Benjamin. „Die Tram ist kein Club, aber sie ist auch keine WG-Küche“, sagt sie. „Sie ist irgendetwas dazwischen, und genau das macht ihr Flair aus.“ So ungreifbar wie der Ort selbst ist auch das Publikum. In Berlins Nachtleben hat jede Szene ihren bevorzugten Club: die Elektrojünger das Watergate, die Hip-Hopper das Matrix, die Hipster den Club der Visionäre, die Alternativen das Rosi’s und die Touristen die Clubs in der Kulturbrauerei. Nur auf dem Weg zum Ziel, in der M10, treffen sie alle aufeinander, und das macht die besondere Atmosphäre der Tram aus: Auf engstem Raum und für kurze Zeit vereint sie die unterschiedlichsten Stilrichtungen der Berliner Clubkultur.
Nichts geht mehr an der Haltestelle am Frankfurter Tor. Vor der Tram sammelt sich eine Traube von Menschen, alle wollen rein, keiner will raus. „Mittlerweile ist das Tramfahren auch zu einer Touristenattraktion geworden“, sagt Benjamin. „Wer einen Überblick über Berlins Nachtleben haben will, muss in die M10. Würde mich nicht wundern, wenn sie in der nächsten Ausgabe des Lonely Planet steht.“
Pina, die gerade eine Ausbildung zur Friseurin macht, sieht sich um, sie ist auf der Suche nach Opfern. „Wenn ich gut drauf bin, spreche ich immer coole Leute an und frage sie, ob sie nicht Lust haben, sich von mir Modellfrisuren schneiden zu lassen“, sagt sie. Ins Gespräch komme man leicht. „Hier klebst du ja regelrecht aneinander.“
Dann unterhalten sich die Freunde darüber, welche Promis sie in der M10 schon gesehen haben: die Atzen, Heike Makatsch, einen der Rammstein-Musiker. Sie erzählen von spontanen Karaoke-Wettbewerben, die sie hier veranstaltet haben, und dass im Sommer, wenn im Volkspark Friedrichshain gegrillt wird, die Party mit Picknickstühlen und Bierkästen zwischen Tramtür und Ticketautomat schon nachmittags losgeht.
„Ich komme ursprünglich aus Fulda“, erzählt eine Freundin von Benjamin und Pina. „In Fulda gibt es so etwas nicht. Das war fast ein kleiner Kulturschock am Anfang, im positiven Sinn.“
Warschauer Straße. Benjamin, Pina und ihre Freunde kämpfen sich raus, von hier ist es nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel. Kurz vor ein Uhr morgens ist es inzwischen, die Schlangen vor den Clubs werden jetzt länger und die Luft in der Tram immer dünner. Eine Gruppe Dänen steigt ein, Studenten aus Kopenhagen, seit fünf Tagen sind sie in Berlin. Sie sind müde, den ganzen Tag sind sie durch die Stadt gelaufen. Seit zwei Nächten versuchen sie jetzt schon, ins angesagte Berghain zu kommen, stundenlang haben sie vor dem Club gestanden, beide Male sind sie am Türsteher gescheitert. Heute Nacht wollen sie in keinen Club mehr, heute wollen sie einfach nur zurück in ihre Jugendherberge. In Berlin gehe es an den Wochenenden ganz schön ab, sagt einer der fünf. Überall Polizeiwagen, ständig Sirenen. In Kopenhagen sei es irgendwie friedlicher.
Die Stimmung in der M10 erreicht jetzt ihren Höhepunkt. Singend ziehen die Mitglieder eines Frankfurter Turnvereins durch den Wagen, 17 Mann und ein paar Mädchen: „Wir fahren mit der Bimmelbahn, duda, duda!“ Klar, sie sind zum Feiern nach Berlin gekommen, sie wollen in den Frannz-Club in der Kulturbrauerei. Oliver, einer aus der Runde, trinkt den Rest Bacardi-Cola aus der Plastikflasche. Er ist 30 und versucht, die Truppe zusammenzuhalten. Bloß nicht schlappmachen jetzt, sagt er, nicht nüchtern werden, kein Stimmungsumschwung. Ein anderer Turner macht Fotos mit dem Handy, für später, für die Freunde, für Facebook. An der Schönhauser Allee steigt die Truppe johlend aus und verschwindet in der Nacht.
Kurz nach zwei Uhr morgens. Inzwischen ist der größte Teil des Partyvolks umgestiegen – aus der Tram in den Club. Noch immer sind die Fensterscheiben beschlagen, aber es wird langsam ruhiger auf den Sitzbänken. Eine leere Bierflasche rollt von ganz vorne nach ganz hinten, vorbei an einem Flaschensammler, der sie unbeeindruckt passieren lässt – seine beiden Plastiktüten sind schon bis oben hin voll.
Für ein, zwei Stunden bleibt es ruhig in der M10. Dann kehren die Partygänger zurück, auf dem Weg nach Hause. Manche feiern weiter, während sie die Haltestellen in umgekehrter Richtung passieren. Andere schlafen, die Wangen an die feuchten Fensterscheiben gepresst. Dahinter geht die Sonne auf.
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