Die Angst um das Dach über dem Kopf: Das Thema Wohnen wird die Berliner Wahlen entscheiden – zu Recht
Die Sorge um die Wohnung hat auch Doppelverdiener-Familien erfasst. Identitätspolitik und andere Themen werden am 26. September vergessen sein. Eine Kolumne.
Noch viereinhalb Monate, dann wird in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Die heiße Phase des Wahlkampfes beginnt vermutlich erst nach den Sommerferien – wie immer die auch aussehen werden.
Noch sind ja die Corona-Schatten nicht gebannt. Je nachdem, ob wir mit Kind und Kegel an die Ostsee reisen dürfen, oder aus den MeckPom-Ferienhaussiedlungen als potentielle Infektionsträger wieder weggemobbt werden, wie es im letzten Jahr geschah, wird die Stimmung in der Stadt Hopp oder Flop sein.
Aber am 26. September wird vermutlich ein ganz anderes Thema wahlentscheidend sein. Und das gilt – wie kindisch auch immer sich gerade die Berliner Grünen (Tabuwort Indianerhäuptling, Reizwort Deutschland) oder die Christdemokraten (Mario Czaja contra Kai Wegner) aufführen. Dieses Thema heißt: Wohnungsbau, Mieten, Enteignungs-Initiative.
Man muss sich nur umhören. Der Zorn, der sich am selbstherrlichen Gebaren und der Mietenpolitik großer Wohnungsunternehmen entzündete, strahlt längst in Bevölkerungsschichten aus, die mit sozialistisch grundierten Begriffen wie Enteignung nie etwas zu tun haben wollten.
18.800 Miet- wurden in Eigentumswohnungen umgewandelt
Aber die Zahlen zur Mietpreisentwicklung der letzten Jahre sprachen einfach für sich. Die Angst vor der Unbezahlbarkeit der eigenen Wohnung hat inzwischen auch Doppelverdiener-Familien erfasst.
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Corona und Homeoffice, vor allem jedoch die Herausforderung, die Kinder über Wochen oder Monate hinweg zu Hause beschulen oder auch nur beschäftigen zu müssen, hat jedem klar gemacht, wie wichtig eine ausreichend große Wohnung zum Überleben – und dieses Wort ist hier nicht übertrieben – geworden ist.
[Lesen Sie mehr: Das Netz der Mietaktivisten: Was hinter dem Erfolg der Berliner Enteignungs-Initiative steckt (T+)]
Der Trend geht also eigentlich zu größeren Wohnungen und nicht, wie von den Stadtplanern erhofft, zu kleineren. Für jene, die es sich leisten können. 2020 wurden in Berlin 18.800 Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt, was in den meisten Fällen mit einem alles andere als freiwilligen Wechsel der Bewohner verbunden war. Das waren doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Wer sich für Mieterinteressen einsetzt, wird profitieren
Wenn Eigentumsbildung dazu führen würde, dass der Prozentsatz jener Bewohner steigt, denen ihre Wohnungen gehören, wäre das ja noch ein erstrebenswertes Ziel. Dem ist aber leider nicht so. Wohnungen werden zur Kapitalanlage, ohne dass jemand in ihnen wohnen muss. Ihr Wert steigt am schnellsten, wenn sie unbewohnt sind. Die Investoren sitzen irgendwo auf der Welt, Berlin ist ihnen ziemlich schnuppe. Investoren horten Bauland, ohne zu bauen – das soll ein neues Bundesgesetz jetzt stoppen. Endlich.
Ebenfalls 2020 ging die Zahl der bezahlbaren Sozialwohnungen von 137.000 auf 116.000 zurück. Ein Minus von 21.000 allein in diesem Sektor. Im ganzen Jahr 2019 wurden überhaupt nur 19.000 neue Wohnungen gebaut, und 2020 wurden noch einmal weniger Baugenehmigungen erteilt. Die Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ hat gute Chancen, die 175.000 Unterschriften zu bekommen, damit die Abstimmung über das Volksbegehren am 26. September zusammen mit den Wahlen zum Abgeordnetenhaus stattfinden.
Man muss keine besonderen Prognosekräfte haben, um zu dem Schluss zu kommen, dass am Wahltag jene Parteien profitieren werden, die sich für Mieterrechte und für Wohnungsbau einsetzen. Egal ob grüne Indianerhäuptlinge, eine Deutschland-Debatte oder die Rechten und die CDU – bis dahin ist vermutlich der teilweise kindische Diskurs von heute vergessen: Am 26. September wird es vor allem um das Dach über dem Kopf gehen.