„Wort kann negativ assoziiert werden“: 300 Grüne wollen „Deutschland“ aus dem Wahlprogramm streichen
„Deutschland. Alles ist drin“ lautet der Titel des Grünen-Wahlprogramms. Mehr als 300 Mitglieder wollen das ändern – darunter viele Politiker aus Berlin.
Stolz hielten die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck Mitte März ihr Wahlprogramm in die Kamera. Gerade hatten sie den Entwurf des Bundesvorstands eine knappe Stunde vorgestellt. 136 Seiten dick und die beiden Chefs waren voll des Lobes: „Wir legen mit diesem Bundestagswahlprogramm eine Vitaminspritze für dieses Land vor", sagte Habeck.
Doch an der Basis, die bei den Grünen traditionell beim Wahlprogramm mitentscheiden darf, kommt nicht alles im Entwurf so richtig gut an. Mehr als 3500 Änderungsanträge gingen bis Fristende am vergangenen Freitag ein. Im Bundesvorstand hatte man die Diskussionsfreude der Basis mit gemischten Gefühlen beobachtet. "Das wird ein anspruchsvoller Parteitag", sagte Habeck am Montag.
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Damit dürfte er wohl Recht behalten, denn selbst zum Titel des Programms, das bisher unter dem Namen "Deutschland. Alles ist drin" steht, gibt es drei Änderungsanträge. Zwei fordern die Streichung des Begriffes "Deutschland". Einen davon hat Michael Sebastian Schneiß geschrieben, er arbeitet für den Europa-Abgeordneten der Grünen Erik Marquardt. Seine Begründung fällt sehr kurz aus: "Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Und nicht Deutschland."
Doch seinem Antrag haben sich mehr als 300 Grünen-Mitglieder angeschlossen. Darunter auffällig viele Mandatsträger aus dem Berliner Abgeordnetenhaus und Bezirksverordnetenversammlungen, wie Daniel Wesener, Georg Kössler, June Tomiak, Turgut Altug, Stefan Ziller und Katrin Schmidberger.
CDU, CSU und FDP kritisieren Antrag
"Es gibt bessere Worte, um unsere Vision zu beschreiben", sagt Juliana Wimmer. Sie kandidiert auf Listenplatz 8 für die Berliner Grünen bei der Bundestagswahl und unterstützt ebenfalls den Änderungsantrag, sowie gut 30 weitere. Wimmer fände es besser, wenn "Deutschland" durch "Grün" ersetzt werde, damit assoziiere sie eher den Gestaltungsanspruch.
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Der Berliner Landesvorstand wollte sich zu dem Antrag nicht äußern. Anträge, die nicht vom Landesvorstand initiiert seien und sich auf die Bundesdelegiertenkonferenz bezögen, kommentiere man grundsätzlich nicht, sagte ein Sprecher des Landesverbands dem Tagesspiegel. Der Landesvorstand selbst hatte einen Antrag initiiert, um bundesgesetzliche Möglichkeiten für einen Mietendeckel zu schaffen. Partei-Chef Habeck hatte dies jedoch ablehnend kommentiert.
Aus anderen Parteien hagelte es Spott und Kritik. "Die Grünen sind gegen Deutschland, wollen aber hier gewählt werden und regieren!?", schrieb FDP-Generalsekretär Volker Wiesing auf Twitter. Gordon Hoffmann, Generalsekretär der CDU in Brandenburg reagierte ebenfalls auf Twitter: "Wenn sich die Grünen so für Deutschland schämen - warum wollen sie Deutschland dann regieren?"
Noch deutlicher wurde CSU-Generalsekretär Markus Blume. Er warf den Grünen ein "gestörtes Verhältnis zum Vaterland" vor und schrieb: "Regieren wollen ohne Bekenntnis zum Land - was kommt als nächstes?"
In einem zweiten Antrag, der ebenfalls das Wort "Deutschland" streichen will, der von 25 Mitgliedern unterstützt wird, heißt es in der Begründung: "Der Titel ist nichts sagend." Der Titel würde höchstens zur AfD passen, schreibt der Initiator. Und weiter: "Noch dazu kommt, dass das Wort Deutschland sehr negativ assoziiert werden kann. Deutschland könnte in Richtung „Deutschland über alles“ oder „Deutschland first“ à la Trump gedeutet werden."
Juliana Wimmer beteuert, sich nicht für Deutschland zu schämen. "Ich sage natürlich nicht, dass ich das Wort "Deutschland" nirgends mehr lesen oder hören möchte", sagt sie. Die anderen 113 Stellen im Entwurf des Programmes, an denen "Deutschland" stehe, kritisiere sie nicht. Wimmer sieht in der Basisdemokratie ihrer Partei letztlich eine Stärke, so komme man zum besten Ergebnis. Über die Reaktionen der anderen Parteien wundert sie sich: "Ich hätte nicht gedacht, dass sich die anderen Parteien so intensiv mit unserem Programm beschäftigen."