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Stockschwerenot. Für Ältere und Gehbehinderte ist Berlin oft kein leichtes Pflaster.
© dpa

Barrierefreiheit in Berlin: Dankbar für jede funktionierende Rolltreppe oder Fahrstuhl

Wer gehbehindert ist, sieht die Stadt mit anderen Augen, ist dankbar für jede Rolltreppe, jeden Aufzug. Es gibt zwar viel Hilfe und Solidarität – aber ebenso viele Hindernisse. Einige Gedanken über die Mühen der Ebene.

Der unfreiwillige Selbstversuch beginnt an einem Wintertag, dem einzig wahren in diesem Jahr. Radio und TV warnen vor heranstürmenden Blitzeismassen auf Straßen und Gehwegen. Wie der Berliner nun einmal so ist: „Mir kann keena“, mault er, und erst, wenn er dann auf der Nase liegt, haben die anderen Schuld, in diesem Fall das Glatteis und die Bande der Hausbesitzer, die der Streupflicht die kalte Schulter zeigen. (Mitten im Sommer über Blitzeis zu schreiben, ist natürlich etwas bescheuert, aber dies ist nun einmal der Anfang der Geschichte.)

Ich fliege also rücklings hin und lande auf einer Steinkante. Hilfreiche Menschen eilen herbei, und ich spüre schon, die Sache bleibt nicht ohne Folgen. Plötzlich geht nichts mehr. Starke Schmerzen. Der Notarzt ruft die Retter vom Roten Kreuz, die mit einem Rollstuhl gerade so durch die Tür kommen und zur Charité fahren, wo das ganze Programm abläuft: Röntgen, Warten, Dösen, bis die Vampeusen, diese schönen langhaarigen Schwestern kommen und am Ende den Patienten mit der Botschaft in die Nacht schicken, dass wenigstens nichts gebrochen sei. Besser aufpassen! Immer schön gucken, wo man hinläuft! Zur Not einen Stock nehmen! Und bei Bedarf Schmerztabletten. Gute Besserung, junger Mann!

In Berlin nutzen 150.000 Menschen einen Rollator

Da stehst du nun und schaust die Welt mit anderen Augen an. Mit dem Rollator sieht man klarer. Und erst mit dem Stock! Die Zahl der Leidensgenossen ist beachtlich: Heute sitzen in Berlin 60.000 Menschen im Rollstuhl, 150.000 nutzen einen Rollator. Und so quält man sich eben über die gar nicht so niedrigen Treppen in den Bus – der Fahrer wartet geduldig oder steigt aus und klappt die Rampe hoch. Man ist dankbar für jede funktionierende Rolltreppe und jeden Aufzug und verdammt jene Vandalen, die diese Transporthilfen absichtlich lahmlegen, wie Silvester am U-Bahnhof Bülowstraße.

Oder man ist sauer über Versprechungen, die nicht eingehalten werden. Wie stolz war die Deutsche S-Bahn, als sie das große Glashaus auf dem Ringbahnsteig Ostkreuz eröffnete – und wie schmählich hat sie versagt, als es um den für dieses Wirrwarr an Übergängen und Umstiegen nötigen Aufzug ging. Noch immer schleppen Radfahrer ihre Räder und Frauen ihre Kinderwagen rauf und runter. Aber Hilfe ist in Sicht: Die S-Bahn-Zeitung „Punkt 3“ empfiehlt ihren „mobilitätseingeschränkten Fahrgästen“, die die S 3 nehmen möchten, „mit den Linien S 5, S 7 oder S 75 bis Friedrichsfelde Ost und weiter mit den barrierefreien Tram-Linien M 17 und 27 bis Karlshorst zu fahren“. Glückliche Reise!

In der U-Bahn ist der Krückstock kein Sesam-Öffne-Dich

In diesen Spalten der Zeitung, wo oft und nicht ohne Grund gezetert wird, darf aber ausnahmsweise auch mal gelobt werden. Rollstühle, Blindenbinden und Krückstöcke erregen nicht nur Mitleid, sondern fördern manchmal auch eine Art von Verständnis, Hilfe und Solidarität: Danke den Leuten in der O2-World, die uns Fuß- und Hüftkranken von einem zum anderen Helfer weiterreichten, bis wir von Sonderplätzen Ennio Morricones Filmmusikklassikern lauschen konnten. Und in der Alten Försterei bei Union wollten sie mich gleich in die erste Reihe setzen. Ganz anders ist es dagegen in den öffentlichen Verkehrsmitteln Berlins: Hier ist der Krückstock alles andere als ein Sesam-öffne-Dich. Hat je eine Lehrerin ihren Schülern erklärt, dass man älteren Leuten am Stock in der vollen Bahn einen Platz zur Verfügung stellen könnte? Mir ist es dreimal passiert, dass Fahrgäste spontan ihren Platz anboten, als die Krücke kam. Es waren junge Touristen aus Spanien, Italien und Amerika.

Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Jürgen Schneider, sagt, dass zehn Prozent der Einwohner Berlins auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Viele Gehwege sind unebene Stolperfallen, Bauunterhaltungsmittel sind knapp. Berlin wurde von der EU zur „Barrierefreien Stadt 2013“ gekürt - aber man darf nicht nachlassen im Ringen mit den Mühen der Ebene. Und muss vorausdenken: 2030 werden 270.000 Berliner älter als 80 Jahre sein. Dann sitzt eine Großstadt im Rollstuhl, fährt Stützwägelchen oder geht am Stock. Nicht nur bei Glatteis.

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