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Lisa Pfahl, Professorin für Disability Studies.
© Mike Wolff

Lisa Pfahl, Berlins erste Professorin für Disability Studies: Die Soziologie der Behinderung erforschen

Einst galt Behinderung als Strafe Gottes. Das hat sich geändert. Lisa Pfahl, Berlins erste Professorin für Disability Studies, untersucht die Umwertung. "Soziologie der Behinderung" nennt sie ihr Forschungsfeld.

Wenn Lisa Pfahl aus ihrem Bürofenster schaut, ragt vor ihr das Brüder-GrimmZentrum auf. Sie mag die Bibliothek, ihre Größe, die Emsigkeit der Lesenden. Als der Bau 2009 eröffnet wurde, war er allerdings nicht barrierefrei. Es gab Rampen, doch es fehlten Handgriffe, gut zugängliche Arbeitsplätze und Fahrstühle. Für mehr als eine Million Euro musste nachgerüstet werden.

Lisa Pfahl hat die Barrierefreiheit immer im Auge. Seit Herbst ist sie Juniorprofessorin am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität (HU) Berlin mit einem dort bislang einzigartigen Forschungsschwerpunkt: Disability Studies. Sie selbst übersetzt ihre Arbeit mit „Soziologie der Behinderung“, weil sie ursprünglich Soziologin ist, studiert hat sie an der Freien Universität Berlin. Doch das Thema kann viele Disziplinen durchziehen – von den Genderwissenschaften bis zur Pädagogik.

Wie hat sich die Ausgrenzung behinderter Menschen verändert?

Ganz praktisch ergänzt Pfahl den Studiengang „Rehabilitationspädagogik“. Mit zukünftigen Sonderpädagogen untersucht sie, wie sich die Ausgrenzung behinderter Menschen über die Jahrhunderte verändert hat. Sie sagt „behinderte Menschen“, weil das Adjektiv für sie ein „beschreibendes Merkmal“ ist, das „nicht den ganzen Menschen bestimmt“. Ihre Studierenden lernen, dass Zwillinge im Mittelalter getötet wurden, weil man sie als Unglück empfand. „Wir würden heute sagen, man hat ihnen Behinderung angetan“, sagt Pfahl. In ihren Kursen lässt sie über die Behindertenbewegung der siebziger Jahre diskutieren, über Inklusion und Arbeitsrecht.

Lange beschäftigte man sich mit behinderten Menschen vor allem im Sonderschulbereich. Erste „Hilfsschulen“ wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert gegründet – für Kinder mit Armutserkrankungen. Durch Mangelernährung waren sie oft unterentwickelt oder hatten kognitive Schwächen. Pfahl erzählt, dass Behinderung bis ins 20. Jahrhundert hinein als Strafe Gottes galt. Die Schuld suchte man bei den Müttern.

Früher war die Mutter schuld. Der Contergan-Skandal änderte das

Der Contergan-Skandal in den sechziger Jahren änderte das. Als Tausende von Kindern mit kurzen Gliedmaßen zur Welt kamen und man die Ursache dafür im Beruhigungsmittel Contergan fand, wurden die Mütter freigesprochen. Stattdessen sah man zunehmend Umweltfaktoren als Grund für Behinderung: nicht nur chemische, sondern auch soziale.

Jemand ist nicht behindert, weil er im Rollstuhl sitzt, sondern weil es keine Rampen gibt, lautete das neue Paradigma. Allerdings war Kritikern auch diese Sicht zu einseitig. Die aktuelle Definition, die in der UN-Behinderten-Konvention aus dem Jahr 2006 steht und auf die sich auch die Disability Studies berufen, folgt dem „bio-psycho-sozialen“ Modell. Es verlangt die Einordnung jeder Behinderung in ihre spezielle Lebenssituation. Dementsprechend ist ein Maurer mit einem Arm stärker behindert als eine Wissenschaftlerin mit einem Arm.

Heute zählen auch Kinder mit Behinderung zu Hochbegabten

Die UN-Konvention fordert außerdem, dass behinderte Menschen umfassend und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Nicht ihre Defizite sollen im Vordergrund stehen, sondern das, was sie einzubringen haben. Lisa Pfahl hat bis letztes Jahr an der Universität Bremen die Forschungsstelle für Inklusion geleitet. Sie sagt, dass man in der Schule, wo jetzt über die Bedürfnisse jeden Kindes nachgedacht werden muss, plötzlich feststelle, dass nicht unbedingt die Rollstuhlfahrer ausgegrenzt werden, sondern Kinder, denen man ihre Behinderung nicht „ansieht“. Umgekehrt zählen auch Kinder mit Behinderung zu den Hochbegabten.

Warum Deutschland auffällige Kinder lange "aussortierte"

Die UN-Konvention nennt Lisa Pfahl einen „exogenen Schock“ für Deutschland. Schutzräume für behinderte Menschen galten hier lange als unantastbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der NS-Zeit meinte man, Behinderten in Sonderschulen besser gerecht zu werden. Die Verantwortlichen hatten sich gut in dem System eingerichtet. Der Berufsverband der Sonderpädagogen, 1898 gegründet, forderte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Verweis auf die hohe Belastung mehr Geld und eigene Räume. Die Medizin hatte er auf seiner Seite. „Die restlichen Lehrer haben die auffälligen Kinder gern aussortiert und mit vermeintlich homogenen Gruppen weitergearbeitet“, sagt Pfahl.

Provokante Frage: Sind Sonderschulabgänger mündige Bürger?

Skeptiker dieser Parallelwelt gab es durchaus: „Das führt zu nichts, schon gar nicht zu einem Schulabschluss“, hieß es. Auch Pfahls Kritik setzt hier an. Sie selbst wuchs mit Pflegegeschwistern auf, von denen einige eine Sonderschule besuchten. Sie kennt die Stigmatisierung. Im Studium beschäftigte sie sich mit der Ausbildungslosigkeit von Sonderschulabgängern. In ihrer Doktorarbeit vertiefte sie das, erst als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, später am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. Ihre Fragen zielen ins Mark des deutschen Fürsorgesystems: „Sind Sonderschulabgänger mündige Bürger?“ „Werden sie als erwerbsfähig wahrgenommen?“

Mehr als Schule: Das Thema beschäftigt viele Fächer

Sie stieß dabei auf das internationale Forschungsfeld der Disability Studies. Anders als in Deutschland werden in Ländern wie England oder den USA Fragen zur Benachteiligung von Behinderten an den Universitäten nicht auf das Lehramt reduziert. Man findet sie dort auch in Fächern wie den Kultur- und Medienwissenschaften. „Die meisten von uns machen irgendwann eine Behinderungserfahrung“, sagt Pfahl, vor allem wenn sie älter und gebrechlicher würden. „Das Thema geht alle an und müsste viel breiter angelegt sein.“ In den USA gibt es seit den achtziger Jahren Professuren für Disability Studies. Die erste deutschsprachige Professur für Disability Studies bekam die Kölner Soziologin Anne Waldschmidt erst im Jahr 2009.

Wissenschaftliche Fragen leiten sich aus sozialen Bewegungen ab

Den Durchbruch haben die Disability Studies damit hierzulande keinesfalls geschafft. Pfahls Juniorprofessur verdankt sich nicht etwa dem neuen politischen Bewusstsein. Es waren die Genderforscherinnen der HU, die sich um ihre Stelle bemühten. Die Verbindung ist nicht untypisch. In den USA, wo Pfahl einige Zeit studiert hat, arbeiten die Disability Studies häufig mit den Queer Studies zusammen. Beide Bereiche beschäftigen sich mit körperlicher Zuschreibung, Macht und Diskriminierung, beide leiten wissenschaftliche Fragen aus den Anliegen sozialer Bewegungen ab. Oft forschen dabei Selbstvertreter, also schwule, lesbische oder behinderte Wissenschaftler.

Sie selber hat behinderte Geschwister

Die wenigsten Studierenden, die Pfahls Kurse besuchen, sind selbst behindert, und auch Pfahl ist nicht die „klassische Selbstvertreterin“. Ihre Erfahrung mit Behinderung beschränkte sich auf ihre Kindheit mit behinderten Geschwistern, und eine Weile rang sie damit, denn eigentlich findet sie, dass „Forschung über Menschen mit Behinderung immer auch Forschung gemeinsam mit Menschen mit Behinderung sein sollte“. In den meisten Fällen wüssten Behinderte selbst am besten, was sie brauchen. Doch einige, vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Behinderungen, dringen erst gar nicht in die Wissenschaft vor. Deren Interessen hat Pfahl besonders im Blick.

Doch auch für ihre eigene Einbindung in die Forschung wird sie kämpfen müssen. „Es ist meines Wissens nicht geplant, die Disability Studies dauerhaft in den Erziehungswissenschaften der HU zu verankern“, sagt sie. Aber jetzt ist sie erst mal da und will die Eingliederung der Disability Studies in die HU vorantreiben. Wenn sie sich mit etwas auskennt, dann mit Inklusion.

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