Unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer: Vor der nächsten Stufe
Berlin soll barrierefrei werden. An einigen Stellen ist hier schon viel passiert, doch ob BVG, unerreichbare Arzt-Praxen oder schwere Türen – im Alltag tauchen immer wieder Hindernisse auf. Unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer.
Wie ein Fels steht er da. Warm eingepackt gegen den Wind, die Schirmmütze ins Gesicht gezogen, der Blick konzentriert. Umgeben vom lärmenden Verkehr, von Schulklassen, die im Pulk ihren Lehrern hinterherlaufen. So steht Fred Kutzner an der Turmstraße vor dem Rathaus, wo er einen Termin hatte. Dann greift er mit der rechten Hand zum „Joystick“ seines Rollstuhls und fährt los. Der 51-Jährige will in die Arminius-Markthalle, biegt die nächste Straße links ein. Er müsste die Straße überqueren, doch da parkt ein Kombi direkt am abgesenkten Bordstein. Kutzners Gesichtsausdruck verhärtet sich – so etwas passiert ihm jeden Tag. „Den kostet die Parkplatzsuche ein paar Minuten, aber wie soll ich über die Straße kommen?“ Er versucht sich vorbeizuschlängeln, der Rollstuhl kippt leicht seitlich; gerade so kommt er an dem Auto vorbei.
Berlin will die von den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bis 2020 umsetzen. In einem Leitfaden nimmt sich der Senat deshalb vor, „eine positive Wahrnehmung von Frauen, Männern und Kindern mit Behinderung und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern“. Die Erlebnisse im Alltag eines Rollstuhlfahrers sprechen nicht immer dafür. „Verbesserungen sind noch auf allen Ebenen nötig“, sagt Manfred Scharbach, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin. Man dürfe schließlich nicht vergessen, dass „barrierefrei“ auch blinden-, gehörlosen- und analphabetengerecht bedeute.
Berlin ist für Barrierefreundlichkeit ausgezeichnet worden
Seit 22 Jahren ist Fred Kutzner halbseitig gelähmt. Eines Morgens stand er auf, verfing sich mit dem Fuß in der Bettdecke und stürzte mit dem Kopf an die Wand – das Gehirn wurde schwer geschädigt. Inzwischen hat er sein Schicksal akzeptiert; aber die Ignoranz mancher Menschen ärgert ihn. „Dieser Falschparker würde sich hinterher sicher mit einem ,War aus Versehen’ entschuldigen, aber das wäre gelogen. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit ist Absicht.“ Vor der Markthalle zeigt sich die nächste Hürde: Die schwere große Eingangstür müsste aufgezogen werden. Im Sitzen schwierig. Da kommt ein hilfsbereiter Passant und drückt die Tür von innen auf.
Berlin ist schon ausgezeichnet worden für seine vergleichsweise hohe Barrierefreundlichkeit im Nahverkehr und bei öffentlichen Einrichtungen – vor einem Jahr gab es von der EU-Kommission den Access City Award. „Wir müssen leider registrieren, dass die Auszeichnung weniger Ansporn ist, noch mehr zu tun, sondern eher Aufforderung, sich auf dem Erreichten auszuruhen“, sagt Scharbach. Seit Jahren kämpft er etwa für eine automatische Durchsage der Busse für Blinde und Analphabeten, bei der an Haltestellen angesagt wird, um welche Buslinie es sich handelt und wohin der Bus fährt. Auch viele Ampeln haben noch keine lebenswichtige Tonspur für Blinde.
Als Kutzner aus der Markthalle kommt – wieder hält ihm jemand die Tür auf – erzählt er, dass er noch ein Rezept beim Arzt holen müsse. Aber die meisten Praxen in Berlin befinden sich nicht in behindertengerechten Gebäuden. „Man möchte sich seinen Arzt doch nach dessen Kompetenz aussuchen; Behinderte müssen sie aber nach Erreichbarkeit und Zugänglichkeit wählen“, erzählt Kutzner. Die wenigen barrierefreien Praxen seien deshalb oft überfüllt.
Bauordnung müsste angepasst werden
Zu seinem Neurologen muss Kutzner den Bus nehmen. Der Mann aus Prenzlauer Berg ist viel unterwegs mit der BVG – zumal die Diskussion um das Kneeling, also das Absenken der Busse für den erleichterten Zugang, vorüber ist. Bis 2012 war das Kneeling Standard, die BVG wollte jedoch aus Kosten- und Umweltgründen nur bei Bedarf mit ihren Bussen in die Knie gehen. Jetzt ist es wieder Pflicht. Kutzner fährt fast täglich Bus.
„Solche Menschen wie Fred Kutzner brauchen wir, damit wir erfahren, wo es noch hapert“, sagt die Behindertenbeauftragte von Mitte, Hildrun Knuth. Kutzner ist bei vielen sogenannten „Berollungen“ dabei, er inspiziert und testet neue Gebäude, neue Parks. Auffallend für ihn ist dabei, dass oft der Denkmalschutz als Begründung herhält, ein Gebäude nicht sachgerecht umzugestalten. Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Jürgen Schneider, gesteht Defizite ein. „Vor allem die Berliner Bauordnung muss an die Erfordernisse der UN-Behindertenrechtskonvention angepasst werden.“ Das soll noch in diesem Jahr geschehen, Details sind allerdings unklar.
Laut Senat ist nahezu jede fünfte in Berlin lebende Person behindert oder schwerbehindert. Natürlich kennen viele von ihnen ihren Kiez – wissen, welche Cafés, Kinos und Restaurants barrierefrei sind, welche Fahrstühle an den U-Bahnhöfen gerade defekt sind. Touristen haben es da oft noch schwieriger. „Die Bezirke machen schon viel“, sagt Kutzner. Er ist aber enttäuscht vom Senat. Er grinst ein bisschen, als er vorschlägt: „Herr Wowereit sollte hier mal mit einem Faltrolli durch den Park fahren – das würde seinen Fokus sicherlich verändern.“
Bevor Fred Kutzner sich verabschiedet und in den Bus rollt, hat er noch sein Motto parat: „Alles geht – man muss es nur wollen.“ Es könnte auch ein Appell an seine Mitmenschen sein.
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