Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Britz: Wo das Regenwasser Ruinen spiegelt
96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 11: Britz.
In Britz gibt es so unglaublich viel zu erleben, dass ich es erst für unmöglich hielt, den Ortsteil im knappen Rahmen dieser Kolumne abzuhandeln. Dann aber sah ich die alten japanischen Kirschbäume in der Onkel-Bräsig-Straße blühen – und wusste plötzlich: Die Lösung heißt Haiku! Japanische Miniaturgedichte: Nur in dieser gedrängten Form ließ sich der Ortsteil beschreiben.
Es regnet Blüten. Rosa färbt sich das Pflaster. Britz, es ist Frühling.
Wellen im Dorfteich. Eine Schildkröte taucht auf. Britz, du bist ein Zoo.
Ein verlassenes Schwimmbad. In den Becken steht Regenwasser, es spiegelt verkohlte Ruinen. Das „Blub“ ist abgebrannt, kein Jahr ist es her. Ein Zaun versperrt den Zutritt, wo er keine Löcher hat, und Löcher hat er viele. Die Fenster der Hallen: zersplittert. Die Palmen dahinter: strohig, erfroren im Britzer Winter.
Eine Passantin erinnert sich an den Brand. Asche, flüstert sie, sei an jenem Julitag in ihren Garten gefallen. Der Garten, flüstert sie, sei am anderen Ende von Britz, und Britz, flüstert sie, sei nicht klein.
Der Mann im Hindu-Tempel lächelt nur
Im Hindu-Tempel an der Blaschkoallee: Gewächshaushitze. Ein Mann lehnt zwischen den Holzgöttern, die Brust nackt, auf der Stirn ein kirschroter Punkt. Er spricht nicht, er winkt nur und lächelt und nickt. Britz, du hast Karma.
Die Aufkleber werden mehr und mehr. Auf Briefkästen, an Stoßstangen, in Schaufenstern: „I ♥ HUF“. Die Hufeisensiedlung kommt näher.
Ein Halbrund aus weißem Putz, vier Stockwerke hoch, ein Teich in der Mitte, Wiese drumrum. Leg dich ins Gras, schau in den Himmel und stell dir das Pferd vor, für dessen Huf dieser Hausring geschmiedet wurde. Siehst du, wie sein Bauch ganz Britz verschattet?
Britz liegt in Neukölln. Das Museum Neukölln liegt im Gutshof Britz. Im Museum Neukölln liegt der Unterkiefer eines Wollhaarmammuts. Das Wollhaarmammut lag vor 20 000 Jahren da, wo jetzt du liegst und von Pferden träumst.
Am Buckower Damm steht die Skulptur eines Esels, vier Meter hoch, rotbraun und rostig. Früher, sagt ein Passant, war hier eine Kneipe, sie hieß „Zum Goldenen Esel“. Als sie geschlossen wurde, stellten Stammgäste den Esel auf, zum Andenken. Kann eine Liebe größer sein als die zwischen Mensch und Bier?
Jemand hat mit Kreide etwas auf die Eselsskulptur geschrieben. Drei von vier Zeilen hat der Regen verwaschen, übrig geblieben ist ein seltsamer Haiku.
Wir sind alle Riesen
die von Zwergen erzogen –
deshalb haben wir uns –
mit einem Buckel –
Im Britzer Garten, der offen blieb, als die Bundesgartenschau 1985 schloss, blühen die Tulpen. Zwischen den Beeten führen mittelalte Menschen ihre hochbetagten Eltern spazieren. Alle Gespräche, wirklich alle, drehen sich ums Essen: Hast du schon, willst du jetzt, solltest du nicht. Merke: Wenn das Leben zu Ende geht, bleiben Blumen und Bratwurst.
In den Gartenseen schwimmen riesige Karpfen. Alle Spaziergänger bestaunen sie, nur eine Dame nicht, die still im Rollstuhl am Ufer sitzt, eine Kamera in der Hand. Wer braucht Fische, sagt sie, wenn es Bachstelzen gibt und Haubentaucher.
Bevor der Garten kam, sagt die Dame, war Britz wüst und leer.
Fläche: 12,4 km² (Platz 19 von 96)
Einwohner: 41 928 (Platz 30 von 96)
Durchschnittsalter: 43,6 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Erich Mühsam (Schriftsteller), Marianne Rosenberg (Sängerin)
Gefühlte Mitte: Gutshof Britz
Diese Kolumne erschien am 20. Mai 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.
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