Serie: Bezirke vor der Wahl: Neukölln, ein Modellbezirk mit Macken
Zwischen Partyviertel, Kleinbürgeridylle und Parallelgesellschaften – in Neukölln treffen die unterschiedlichsten Lebensentwürfe aufeinander.
Ist das nun ein werdender Modellbezirk oder ein schlecht organisiertes Getto? Oder beides? Kein Stück Berlin wird in aller Welt mit so viel Aufmerksamkeit beäugt wie Neukölln, nirgendwo sonst lässt sich die viel beraunte Gentrifikation mit ihren Chancen und Risiken so gut bei der Arbeit beobachten wie hier. Der einst nach Kohlenbrand müffelnde Arbeiterbezirk driftet zunehmend auseinander zwischen den begehrten Wohnungen am Landwehrkanal und dem Kiez an der arabisch geprägten Sonnenallee, während drunten in Britz, Buckow und Rudow das unglamouröse Bürgertum außen vor und unter sich bleibt.
Neukölln – also der Ortsteil und politische Kern des Bezirks – ist vor allem die erste oder zweite Heimat vieler Migranten, und niemand hat auf die Probleme, die das mit sich bringt, so beredt und lautstark hingewiesen wie Heinz Buschkowsky, der langjährige Bürgermeister. Inzwischen ist er seiner leiseren Nachfolgerin Franziska Giffey wegen deren Kompromissmut im Umgang mit fragwürdigen Imamen gram, aber dieser Schlagzeilen-Zank ändert nichts an den sozialen Problemen, die sich vor allem an den Schulen und in den Ämtern in voller Härte zeigen.
„Kreuzkölln“ ist vergessen
Dabei möchte Neukölln im Grunde auch nur mal so hübsch wie Kreuzberg werden. Als vor etwa zehn Jahren oben im Norden südlich des Landwehrkanals junge Leute auftauchten, fremde Sprachen sprachen, Bars und seltsame Geschäfte aufmachten, da verdichtete sich die Hoffnung der Neuen im Namen „Kreuzkölln“. Der half eine Zeit lang beim Bekanntwerden, ist aber längst wieder vergessen. Denn Neukölln hat seine eigene Agenda, ist viel offener und experimentierfreudiger geworden als das in politischen Fingerhakeleien erstarrte Vorbild – und muss schon deshalb nicht mehr nach Norden starren.
Wenig verläuft hier nach Plan, vieles entsteht einfach. Den „Klunkerkranich“ eine improvisierte Bar auf dem Dach eines schäbigen Kaufhaus-Parkdecks, kennt inzwischen jeder junge Globetrotter. In der Szenegegend um die Weserstraße ist die deutsche Sprache eher zur Ausnahme geworden, dafür reüssieren hier neue, mit wenig Geld umgesetzte Restaurantkonzepte wie das „Coda“, wo es nur Desserts und Getränke gibt, oder das absichtsvoll abgeschabte „Industry Standard“ – Futterstellen für bärtige Hipster, wie viele Spötter lästern, aber längst mit Anziehungskraft weit darüber hinaus.
Diese Partyzonen sind klein und kaum zu trennen von abschüssigen Wohn- und Einkaufsquartieren, in denen man die von Buschkowsky so vehement kritisierte Parallelgesellschaft vermuten darf, Gegenden, in denen es viel Ärger mit kriminellen Großfamilien und eigenartigen Moscheen gibt. Hier parken die dicken SUVs notfalls auch in dritter Reihe, das Ladenschlussgesetz dient allenfalls als vager Anhaltspunkt für die Lebens- und Geschäftsführung. Und Nostalgiker erinnern immer noch gern daran, dass bekannte Namen renommierter Geschäfte längst verschwunden sind, verdrängt von Ein-Euro-Shops, Handyläden und Billigklamottenverkäufern.
Ein ländliches Idyll
Ungefähr in Höhe der Stadtautobahn am Buckower Damm scheinen dann Druck und Hektik zu verschwinden. Der Britzer Garten, der für die Bundesgartenschau 1985 auf einem weitläufigen Agrargelände angelegt wurde, gehört zu den schönsten Parks der Stadt. Die denkmalgeschützte Hufeisensiedlung, Weltkulturerbe seit 2008, sichert Britz die Aufmerksamkeit der Architektur-Fans, und auch der Gutshof in der Nähe, gleich am bezaubernden kleinen Schloss, von Buschkowsky als Vorzeigeprojekt mit viel Geld gefördert, ist ein ländliches Idyll geworden.
Wer hier weiterfährt, sieht irgendwann die Hochhäuser der Gropiusstadt, die architektonisch durchaus nicht so interessant sind, wie der Name suggeriert. Doch diese einstige „Trabantenstadt“ ist über die Jahrzehnte gereift und eine stabile bürgerliche Wohngegend mit Aussicht und Perspektive geblieben. Die U-Bahn führt dann weiter nach Buckow und Rudow, wo sich in durchweg bescheidenen Eigenheimen schon vor Jahrzehnten Lehrer und Verwaltungsbeamte angesiedelt haben und alle anderen, die das Wohnen im verrufenen Neukölln nicht als Stigma ansahen. Hier lässt es sich ganz unaufgeregt und gern ein wenig bieder wohnen und leben – die wilde Welt hält ein wenig Abstand und zeigt sich erst wieder in den U-Bahnhöfen weiter nördlich.