Berliner Pläne zum Sitzenbleiben: „Das wäre bildungspolitisch und schulorganisatorisch eine Katastrophe“
Wegen der Pandemie sollen Familien selbst über Klassenwiederholungen entscheiden können. Davor warnt der Vorsitzende der Oberstudiendirektoren. Ein Kommentar.
Am Ende der letzten Woche haben die bildungspolitischen Sprecherinnen der die Berliner Landesregierung tragenden Fraktionen eine „Idee“ zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie auf die Berliner Schulkinder eingebracht: Alle Lernenden sollen freiwillig die Klassenstufe wiederholen können. Jede Schule müsste infolge dieser angestrebten Veränderung jede erwünschte Wiederholung ermöglichen.
Falls das Abgeordnetenhaus dieser Idee in der anstehenden Änderung des Schulgesetzes folgen sollte, würde dieses Angebot soziale Verwerfungen nach sich ziehen und zur schulorganisatorischen Katastrophe führen: Zwar können schon jetzt die Eltern einen Antrag auf freiwillige Wiederholung stellen – nur, dass derzeit letztlich die Schulen darüber zu entscheiden haben.
Im Interview mit dem Tagesspiegel führte Professor Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe kürzlich zur Idee einer individuellen Wiederholungsmöglichkeit aus, dass eine solche Regelung ein kollektives Problem individualisiere und in seinen Folgen kaum abschätzbar sei: „Was ist, wenn wirklich viele Schüler wiederholen – vielleicht verstärkt durch Kampagnen in den sozialen Medien? Dann werden wir sehen, dass diese individuelle Lösung des Wiederholens einige ohnehin überfüllte Großstadtschulen vor große Herausforderungen stellen wird.“ Stattdessen schlägt Professor Helbig vor, das Schuljahr 20/21 bundesweit bis Weihnachten zu verlängern.
Einen ähnlichen Vorschlag hatte ich übrigens mit Blick auf die üblichen drei Wellen einer Pandemie bereits im März 2020 für die Schuljahre 2019/20 und 2020/21 unterbreitet. Doch die derzeit Verantwortlichen in der Berliner Bildungspolitik waren an langfristigen Strategien in der Pandemie im Interesse aller Kinder und Jugendlichen, die derzeit an den Schulen lernen, seit nun fast einem Jahr wenig bis kaum interessiert. Noch immer fährt man bildungspolitisch auch bundesweit auf Sicht durch den Nebel.
[Ralf Treptow ist der Vorsitzende der Vereinigung der Oberstudiendirektoren in Berlin (VOB) und Schulleiter des Rosa-Luxemburg-Gymniasiums in Berlin-Pankow.]
Anstatt dass nun in Berlin die bildungspolitischen Sprecherinnen Dr. Maja Lasic (SPD), Marianne Burkert-Eulitz (B90/ Die Grünen) und Regina Kittler (Die Linke) dafür die Weichen gestellt hätten – oder es wenigstens jetzt tun würden –, dass endlich die dringend notwendigen Fortschritte auf wichtigen bildungspolitischen Baustellen in Berlin erreicht werden – etwa Breitbandanschlüsse für die Schulen, Vernetzung der Schulgebäude, Erhöhung der Quote der Einstellung von Lehrkräften, die auch ein Lehramt studiert haben, Reform der Bildungsabschlüsse –, entziehen sie mit ihrem Antrag den Schulen das Vertrauen, kindbezogen eine gute Entscheidung zu treffen.
Da nicht in jedem Jahrgang genauso viele Schüler die Klasse verlassen, wie freiwillige Wiederholer vor der Tür stehen werden, können die Folgen sein: zahlreiche übervolle Klassen zum Beginn des neuen Schuljahres, personell nicht ausgestattete neu einzurichtende Klassen, prekäre Raumsituationen, schlichtweg ein nicht planbares neues Schuljahr.
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Vor allem aber: Ein noch größerer Verlust von Sozialbeziehungen der schon jetzt nach gelebter Gemeinschaft dürstenden Kinder und Jugendlichen. Für all diese Probleme präsentieren die Regierungsfraktionen keine Lösungsansätze in Ergänzung ihres populistischen Vorschlags.
So beruht der oben beschriebene Vertrauensverlust auf Gegenseitigkeit: Schon lange erodiert das Vertrauen der an den Schulen Handelnden in die derzeit in Berlin bildungspolitisch Verantwortlichen. Deren Handeln, losgelöst von einer Rückkoppelung bei den vor Ort agierenden Experten, schadet unserer demokratischen Verfasstheit. Das bereitet am meisten Sorge.
Ralf Treptow
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