Stadtmenschen im Sommer: Wozu ans Mittelmeer, wenn es die Havel gibt?
Unsere Kolumnistin Pascale Hugues war in Spandau und fragt sich, ob Italien wirklich das bessere Urlaubsziel ist. Ihr Spaziergang ist der erste Teil unserer Serie.
Jeden Sommer der gleiche Kummer. Ich sitze auf meinem Balkon in Schöneberg. Ein Glas Weißwein, eine Schale Oliven. Der Lorbeer blüht, der Lavendel duftet, eine milde Brise weht den trockenen Geruch der Brandenburger Wiesen in die Stadt. Hoch oben im blauen Himmel wirbeln Schwalben, bevor sie in ihre Nester in den Regenrinnen des Hauses auf der anderen Straßenseite zurückkehren. Berlin im Sommer? Das Paradies auf Erden. Und trotzdem bin ich kurz davor, meine Koffer zu packen, um Richtung Süden zu fahren. Wie absurd ist das denn?
Berlin ist keine Stadt, aus der man fliehen möchte
Jedes Jahr der gleiche ungeliebte Aufbruch. Berlin ist keine Stadt, aus der man im Sommer fliehen will, anders als das enge Paris, zwischen dessen hohen Mauern und Haussmann’schen Fassaden oft die Luft knapp wird. In Berlin passt der Sommer wie angegossen. Alle sind weg. Das Leben läuft in Zeitlupe, die To-Do-Liste liegt vernachlässigt auf dem Schreibtisch, sie schmilzt dahin wie eine Sorbetkugel in der Augustsonne. Endlich Zeit, um all die unbekannten Winkel der eigenen Stadt zu erkunden, die man sich so oft zu besuchen vorgenommen hat. Es braucht Abenteuergeist, um einen ganzen Sommer in Berlin zu verbringen. Man muss sich trauen, den eigenen Kiez zu verlassen, aus der Komfortzone auszubrechen, in der man den Rest des Jahres verbringt. Eines schönen Morgens muss man einfach losfahren, nach Spandau zum Beispiel. Seine stolzen Bewohnern sprechen gern von „Berlin bei Spandau“, um daran zu erinnern, dass hier ein eigenes Völkchen lebt, was Besseres als die arroganten, schlecht gelaunten Berliner. Noch heute, ein Jahrhundert später, sind die Spandauer überzeugt, dass sie 1920 gegen ihren Willen von der herrischen Nachbarmetropole annektiert wurden.
Kommt man in diesem großen, auf den ersten Blick wenig interessanten Vorort an, fühlt man sich zunächst, als betrete man eine Zeitmaschine. Weit draußen hinter der Havel begegnet man der Bundesrepublik der 70er Jahre wieder, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. In Spandau heißen die Eisdielen noch „Capri“ und „Florida“. In Spandau ist die Fußgängerzone betoniert und trostlos. Das modische Berlin ist Lichtjahre entfernt, kein Hipster in Sicht.
Lady Di im Jogginganzug - das gibt es nur in Spandau
Spandau macht sich nichts daraus, der Bezirk bekennt sich stolz zu seiner proletarischen Identität. Im Internet habe ich zufällig ein Foto von Prinzessin Diana gefunden, das sie in Spandau zeigt, auf einem Panzer sitzend, zu Besuch bei den britischen Truppen, die hier stationiert waren. Lady Di, die unsterbliche Mode-Ikone, trug – halten Sie sich fest! – einen Jogginganzug aus schwarzem Nylon, verziert mit gelben Streifen. Das kann nur in Spandau passieren.
Um weiter in Nostalgie zu schwelgen, sollte man sich die faszinierende Ausstellung „Enthüllt – Berlin und seine Denkmäler“ ansehen, die im April im ehemaligen Proviantmagazin der Zitadelle eröffnet hat. Unter den Augen des Betrachters entfaltet sich hier die Siegesallee, diese alberne Statuenparade strenger Markgrafen und eingebildeter Kurfürsten, die Kaiser Wilhelm II. Ende des 19. Jahrhunderts im Tiergarten errichten ließ, um der Welt zu beweisen, dass der frisch vereinigte deutsche Staat aus einer langen Ahnenreihe Glaubwürdigkeit schöpfte. Dieser eitle Boulevard, dem spöttische Berliner den Spitznamen „Puppenallee“ verpassten, wurde nach dem Krieg demontiert. Manche Statuen verschwanden, andere wurden woanders wieder aufgestellt. Weiter geht es in der Ausstellung vorbei an einem nationalsozialistischen Denkmal, das jahrelang in Zehlendorf vergraben lag, gefolgt vom Kopf jener Leninstatue, die nach dem Mauerfall vom Platz der Nationen gefegt wurde und dann zwei Jahrzehnte lang am Stadtrand unter der Erde lag. Lenin, bestehend aus dreieinhalb Tonnen Granit, dämmert mit geschlossenen Augen vor sich hin, er sieht harmlos aus wie ein Chorknabe. Illustriert wird hier die ganze komplizierte Beziehung der Deutschen zu ihrer Geschichte – verbuddelt, versteckt und wieder geborgen.
In welcher Hauptstadt gibt es so einen Szenenwechsel?
Nachdenklich und durstig verlässt man die Zitadelle. Um bei einem Kaffee zur Ruhe zu kommen, sollte man bei „Hannes“ einkehren, einem kleinen improvisierten Café an einem Feldrand in Gatow (geöffnet Sa-So 11-18 Uhr). Die Torten sind hausgemacht. Je nach Saison kann man Gladiolen oder Sonnenblumen pflücken. Man ist in der freien Natur – in welcher Hauptstadt der Welt gibt es einen solchen Szenenwechsel, nur wenige Autominuten vom Stadtzentrum entfernt? Gatow, ein Pendlervorort, artige Einfamilien- und Reihenhäuser, adrette Gärten, eine hübsche Dorfkirche.
Am Ende die Frage: Wollen wir wirklich nach San Remo?
Jottwede, es wirkt, als sei hier die Zeit stehengeblieben. Ein Stück weiter liegt Kladow, mit der Havel und ihrem wohltuenden Wasser, mit diesen beliebten, unprätenziösen Badestellen, die den Charme Berlins ausmachen. Die Große und die Kleine Badewiese in Gatow, die Badestellen am Groß Glienicker See, rundherum Wälder, Wasser, Grün – ein Sommer reicht dafür gar nicht aus.
Abends kehre ich nach Schöneberg zurück, betäubt und begeistert. Und während ich noch einen Moment auf dem Balkon verweile, schießt mir plötzlich diese fatale Frage durch den Kopf: Wollen wir wirklich Ende der Woche wegfahren? Wer braucht das ferne San Remo, wenn man Spandau vor der Haustür hat? Wozu das Mittelmeer, wenn es die Havel gibt? Wie absurd ist das denn?
Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling. Die Französin Pascale Hugues lebt seit den Neunzigern in Schöneberg. Alle zwei Wochen beschreibt sie in ihrer Tagesspiegel-Kolumne „Mon Berlin“ die charmanten und nonchalanten Seiten ihrer Wahlheimat. Alle Kolumnen finden Sie hier.
UNSERE SERIE
Die Serie Stadtmenschen im Sommer erscheint in Kooperation mit Checkpoint, dem täglichen Newsletter des Tagesspiegel-Chefredakteurs Lorenz Maroldt. In den Sommerferien erscheint der Checkpoint immer montags, derzeit geschrieben von Robert Ide, mit einem Stadtmenschen. Parallel dazu stellen wir die Menschen in der gedruckten Zeitung ausführlicher vor. Nächste Folge: Bademeister Andreas Scholz.
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Pascale Hugues