Flüchtlinge in Berlin: Und was tun wir eigentlich?
Kürzlich erzählte die 76-jährige Schwiegermutter ihr, sie wolle einen Flüchtling aus Syrien adoptieren. Unsere Autorin denkt an ihre Flucht aus der DDR, die im Vergleich zu den Bootsflüchtlingen beinahe mühelos war. Und sie fragt sich: Was tut sie nun selbst?
Neulich sagte mein Mann zu mir: „Meine Mutter will einen Flüchtling adoptieren.“ „Ach, du liebe Güte!“, entfuhr es mir.
„Er heißt Rafik, ist 37 Jahre alt und Arzt. Er ist aus Syrien geflohen.“ „Was sagst du dazu?“, wollte ich wissen, während wir in unserem Haus in Zehlendorf saßen. „Mit 50 noch einen neuen Bruder, ich bin total überrascht. Aber ich bewundere meine Mutter!“ Wir wussten, dass meine Schwiegermama seit längerem in einem Flüchtlingsheim jungen Männern Deutsch beibrachte. Sie ist 76 Jahre alt und lebt mit meinem Schwiegervater in einer norddeutschen Kleinstadt. Auf die Idee, Rafik zu adoptieren, kam meine Schwiegermama deshalb, weil dem jungen Arzt die Abschiebung nach Ungarn droht. „Und was tun wir?“, fragte mein Mann schließlich. Wir sahen uns an. „Nicht viel bisher.“ Er nickte. „Dafür schäme ich mich.“ „Hier in Zehlendorf entsteht gerade ein neues Flüchtlingsheim", sagte ich. „Da werden helfende Hände gebraucht.“
"Was mit den Juden passiert ist, hat mich nicht losgelassen"
„Du meinst die Wohncontainer, die der Bezirk in die Einöde am Hohentwielsteig stellt?“, fragte mein Mann. Ich kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten, unsere Söhne stürmten herein. Was werden wir den Kindern sagen, wenn sie uns später fragen: Was habt ihr unternommen? Die Jungs wollten wissen, warum wir so ernst guckten. Wir erzählten ihnen vom Sprachunterricht ihrer Oma und von Rafik. „Aber du hast doch schon zwei Geschwister, Papa, sagte der 13-Jährige. „Wir brauchen keinen Fremden in der Familie“, meinte der bald 15-Jährige.
Meine Schwiegermama wiederum hatte uns erklärt: „Was in meiner Kindheit mit den Juden passiert ist, hat mich nie losgelassen. Ich kann Rafik nicht im Stich lassen. Das fühlt sich für mich sonst so an, als würde ich ihn ins Feuer schicken. Ich muss etwas tun!“ Keine Fremden in der Familie hatte der Große gesagt, jetzt sah ich meine Jungs an und erwiderte: „Ich war auch Flüchtling und fremd. Meine Eltern und ich waren damals dankbar, dass uns geholfen wurde.“
„Aber das ist doch was anderes, Mama“, du bist aus der DDR gekommen und warst Deutsche“, fand der eine.
„In erster Linie war ich ein Mensch!“, sagte ich. „Und die Mechanismen von Weggehen-müssen und Ankommen-wollen und die damit verbundenen Schwierigkeiten sind bei einer Flucht immer gleich: Heimatverlust, Entwurzelung, Fremdsein.“ Dann holte ich ein kleines rotes Büchlein aus dem Bücherschrank, es hat die Größe und Form eines deutschen Reisepasses und heißt „Krieg – stell dir vor, er wäre hier“ (Hanser-Verlag). Geschrieben hat es die dänische Schriftstellerin Janne Teller.
So fängt es an: Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen? Wenn durch Bomben der größte Teil des Landes, der größte Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du und deine Familie lebt, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre? (...) Deine Mutter hat Bronchitis, und bald wird sie wieder eine Lungenentzündung bekommen. Dein großer Bruder hat schon früh bei einem Vorfall mit einer Mine drei Finger der linken Hand verloren (...). Deine kleine Schwester wurde von Granatsplittern am Kopf verletzt (...). Deine Großeltern starben, als eine Bombe ihr Pflegeheim traf. Du bist noch unversehrt, aber du hast Angst. (...) Jedes Mal, wenn in der Ferne die Raketen abgefeuert werden, zuckst du zusammen, (…) Wie viele deiner Freunde wurden dieses Mal getroffen?
Und das Gedankenexperiment geht weiter: In Europa herrscht Krieg, eine deutsche Familie muss fliehen, gelangt nach Ägypten, bittet um Asyl. Es ist eine verstörende, atemberaubende Geschichte. Unsere Söhne waren erschüttert. „Krasse Story!“, urteilte der eine. „Wie man sich da fühlen muss!“, überlegte der andere. Ja, wie man sich da fühlen muss!
Niemand wird freiwillig zum Flüchtling"
Und plötzlich erwischt es mich. Lange habe ich nicht mehr daran gedacht. Da sind sie wieder die alten Gefühle, die mit der Flucht, dem Heimatverlust und der Entwurzelung einhergingen. Erst Panik, Angst, Hilflosigkeit – dann, nach der Ankunft im Westen, Erleichterung, Freude, Dankbarkeit, aber auch Verlorenheit und Heimweh. Denn niemand verlässt leichthin seine Heimat. Niemand wird freiwillig zum Flüchtling. Nur wer keine Hoffnung mehr hat, verlässt sein Zuhause und riskiert sein Leben und das seiner Kinder auf einer mörderischen Flucht.
Dabei erscheint mir unsere Flucht aus der DDR, verglichen mit dem, was die sogenannten Bootsflüchtlinge erleiden müssen, als mühelos: Wir saßen im Wartburg, nicht in einem überfüllten und hochseeuntauglichen Kutter auf dem Mittelmeer; wenigstens hatten wir Koffer dabei und in deren Futter versteckt auch persönliche Papiere und nicht nur die Anziehsachen, die wir am Leib trugen; zum Glück schossen die Grenzer an der jugoslawisch-österreichischen Grenze nicht auf uns, obwohl sie die Gewehre schon angelegt hatten. Immerhin kam ich von Ost-Deutschland nach West-Deutschland, beherrschte die Sprache, auch wenn ich doch die Zugereiste blieb. Nie werde ich vergessen wie sich das angefühlt hat: Die erste Schulstunde in Baden-Württemberg, ich verstand kein Wort, der Lehrer war freundlich, doch sprach er schwäbisches Englisch. Erst Jahrzehnte später begriff ich, dass die Flucht, der Heimatverlust, die Entwurzelung mich traumatisiert hatten.
Meine Tochter, sie ist sieben Jahre, fragte mich kürzlich: „Mama, was ist ein Wirtschaftsflüchtling?“ Ich versuchte ihr zu erklären, dass dies ein liebloses Wort für Menschen sei, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Zuhause, ihre Familie, ihre Freunde verlassen und in ein anderes Land fliehen. Kann das Menschen vorgeworfen werden? Dass ihr Tun auch wirtschaftlich motiviert ist? Dass sie besser leben wollen?
„Wirtschaftsflüchtling“ – was für eine Gehässigkeit steckt in diesem Wort.
Diesen Begriff zu benutzen, zeigt Angst – Angst vor dem Fremden. Angst vor Verlust und vor Veränderung. Und es gibt noch eine Angst, bei politischen Entscheidern, nämlich die, etwas falsch zu machen und sich den Zorn der Wähler zuzuziehen. Nur so lässt sich erklären, weshalb in Steglitz-Zehlendorf Flüchtlingsheime nur an Standorten entstehen, die weitab vom städtischen Leben liegen. So befinden sich die Wohncontainer in der Potsdamer Chaussee, Ecke Hohentwielsteig, die im August die ersten Flüchtlinge beherbergen sollen, nahe eines Industriegebietes, neben Laubenpiepern und gegenüber einem Pflanzenmarkt. In Laufnähe gibt es keinen Spielplatz, keine Kita, keine Schule, keine Gelegenheit, um einzukaufen. Es scheint, als sollten die Flüchtlinge nicht sichtbar sein.
Wie soll da Integration funktionieren?
Es ist an der Zeit, unsere Herzen und unsere Häuser zu öffnen. Auch für mich ist es an der Zeit. Ich werde was tun! Trotz des stressigen Hochleistungs-Alltags mit Arbeit, Kindern, Küche. Sei es, dass ich mich einem Willkommensbündnis für Flüchtlinge anschließe, eine Patenschaft übernehme oder Kinder zum Spielen in unseren Garten hole. Und sollte meine Schwiegermama Rafik wirklich adoptieren, so wird er mir willkommen sein. Ich will das meinen Kindern vorleben. Und darauf hoffen, dass ihnen auch so begegnet wird, sollte das Leben sie in eine Lage zwingen, irgendwann einmal fliehen zu müssen. Denn: Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen?
Nicki Pawlow ist Schriftstellerin und lebt in Zehlendorf. Sie wuchs in Thüringen auf und flüchtete 13-jährig mit ihren Eltern aus der DDR. Diese Flucht und die damit zusammenhängende Familiengeschichte verarbeitete sie in ihrem Roman „Der bulgarische Arzt“ (Verlag Langen Müller).
Der Text erscheint auf Tagesspiegel-Zehlendorf, dem digitalen Stadtteil- und Debattenportal aus dem Berliner Südwesten. Wenn Sie Anregungen haben oder selbst Texte schreiben wollen, wenden Sie sich gerne an zehlendorf@tagesspiegel.de
Nicki Pawlow