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Zuflucht Arabien. Die schwarzen Buchstaben in Helle Vibeke Jensens Illustration bedeuten „Ägypten“, die weißen „Familie“.
© Hanser

Gedankenexperiment: Krieg in Europa, Asyl in Ägypten

Die Welt auf den Kopf gestellt: Europa brennt und wir suchen Zuflucht in Ägypten. Denn in der arabischen Welt herrscht Frieden. Janne Tellers Buch "Krieg" entwirft ein brisantes Gedankenexperiment. In ihrer Heimat schlägt der Autorin Aggressivität entgegen.

Ein Buch so groß wie ein Reisepass, weinrot, handlich, ein Tor zur Welt. Einer Welt, die Kopf steht. In Goldprägung und Versalien prangt das Wort „Krieg“ auf diesem Pass, der Verlagsname kreist im EU-ähnlichen Sternenrund. „Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin“ – das Bonmot von Carl Sandburg trifft die Lage nicht mehr. „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“, heißt das schmale Bändchen, das nächste Woche in Deutschland erscheint.

Die Dänin Janne Teller, die letztes Jahr mit ihrem Jugendroman „Nichts“ weltweit Furore machte, fragt: „Wenn bei uns Krieg wäre. Wo würdest du hingehen? Wenn durch die Bomben der größte Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du und deine Familie leben, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre?“ Janne Teller verschont ihre Leser nicht: Mutter krank, Bruder von Mine verletzt, nun gegen den Willen der Eltern bei der Miliz, Schwester durch Granatsplitter verwundet, Großeltern durch Bombe auf Pflegeheim getötet. Ein Horrorszenario. Wir können uns das nicht vorstellen. Die meisten von uns kennen Krieg als Erzählung der Eltern oder Großeltern, als 60-Sekundeneinspieler aus der Tagesschau oder als 45-Minuten-Doku aus dem Nachtprogramm – und dann kommt wieder etwas anderes.

Janne Teller zwingt ihre Leser in kurzen, schnörkellosen Sätzen sich dieser brutalen Realität zu stellen. Ein faszinierendes Gedankenexperiment: Europa ist in die Hände eines faschistischen Regimes geraten, Franzosen und Griechen kämpfen gegen die Deutschen. „Griechen und Franzosen, die lange genug in Deutschland gelebt haben, um mit einem von uns verwechselt zu werden. Aber nicht lange genug, um sich als Teil von uns zu fühlen, wenn Krieg ist und Nationalität eine Definition von Freund und Feind.“

Hunger und Angst sind die ärgste Bedrohung, Freunde verschwinden, die „Gleichschaltungspolizei“ schlägt zu, der Vater konnte fliehen. Aber „das Land, das den Vater aufgenommen hat, hält nichts von Familienzusammenführung“. Die Familie weiß nicht wohin – zu fünft ist fliehen schwierig. Wer soll sie aufnehmen, als „Flüchtlinge, die die Sprache nicht beherrschen, die nicht wissen, wie man sich in einer anderen Gesellschaft benimmt, dass man seinen Nachbarn respektiert, den Gast höher stellt als sich selbst und die Tugend einer Frau achtet“?

Die einzige nähere Region, in der Frieden herrscht, ist die arabische Welt.

Teller hat diese Kindergeschichte vor zehn Jahren geschrieben, als Aufsatz für eine Lehrerzeitung. Sie wollte angesichts der sich verschärfenden Asyldiskussion in Dänemark zeigen, wie es ist, wenn man alles verliert und Flüchtling ist. In der ihr eigenen, auch aus dem Roman „Nichts“ bekannten Rigorosität dreht sie den Spieß um. Ägypten als Asylland ist klug gewählt, denn es ist das wichtigste arabische Land mit einer großen Kulturtradition und gerade die fremde Schrift steigert das Gefühl der Orientierungslosigkeit.

Teller weiß, wovon sie spricht. Sie stammt selbst aus einer österreichischdeutschen Familie, die nach Dänemark einwanderte. Als Konfliktberaterin der Europäischen Union und der Vereinten Nationen arbeitete sie in verschiedenen Krisenregionen der Welt, bis sie sich 1995 ganz dem Schreiben widmete.

In „Krieg“ treibt die 46-Jährige die Geschichte atemlos voran und spricht ihre Helden als namenloses Du an. Schlepper schaffen die Familie nach Ägypten, sie dürfen fast nichts mitnehmen, der Protagonist hat sein Tagebuch im Gepäck, denn er will sich daran erinnern, wie es in Deutschland einmal war. Verkehrte Welt: Nicht das Schicksal eines ägyptischen Flüchtlings in Deutschland wird geschildert, sondern der umgekehrte Fall. In aller Konsequenz, mit allen hierzulande üblichen Verfahrensweisen und Argumenten. Der Asylantrag wird geprüft, vorher darf man das Lager nicht verlassen, der Bruder war bei der Miliz, die Flucht kostet Geld, aber vielleicht gibt es noch ärmere Menschen in Deutschland, Sprachunterricht gibt es erst nach der Aufenthaltserlaubnis, aber ohne Sprache steht man dumm da. Und da sind noch die mobbenden französischen Jugendlichen, die den Konflikt ins Flüchtlingslager tragen.

Nach zwei Jahren wird der Asylantrag positiv entschieden, die Familie wird nach Assuan geschickt und fängt noch einmal von vorne an. Und die Ägypter sagen, man könne nicht noch mehr Menschen aufnehmen ... Wenn der Krieg zu Ende sei, werde man die Flüchtlinge zurückschicken. Dass es im französisch besetzten Deutschland schlimmer zugeht als vor dem Krieg, interessiert niemanden.

Teller dreht die Geschichte noch weiter. Die kleine Schwester eckt wegen ihrer freizügigen Moral an, verliebt sich in einen älteren Ägypter und wird schwanger. „Irgendwie ist das Leben ganz anders geworden, als es hätte werden sollen“, bemerkt Tellers Hauptperson. „Jemand kam und stahl dein Leben und machte es zu etwas anderem. Zu etwas, das weder hier noch dort ist.“ Sie arrangieren sich, die Kinder sprechen Arabisch und kennen den Koran besser als die Bibel, sie sind Ägypter und doch wieder nicht und denken an Deutschland – aber was bitte ist das, die Heimat?

Dass Ägypten seit einigen Wochen auch als Land der Revolution in den Schlagzeilen ist, dass Europa gerade überlegt, wie es die womöglich zahlreichen Flüchtlinge aus der arabischen Welt abwehren kann, konnte die Autorin nicht ahnen, als sie im Oktober 2010 das Nachwort schrieb und den Text überarbeitete.

Dabei ist die deutsche Version von „Krieg“ nicht einfach nur eine Übersetzung. Im dänischen Original bricht der Krieg zwischen den skandinavischen Nachbarn aus, für die deutsche Übersetzung wählte Teller Franzosen, Griechen und Italiener: Die Deutschen seien es leid gewesen, immer für die Südstaaten zu bezahlen, so die Begründung. Für jede Übersetzung passt Janne Teller die Details an. So wird aus ihrem Plädoyer für den gerechten Umgang mit Flüchtlingen, für das Wahrnehmen ihrer individuellen Schicksale auch eine Warnung vor der scheinbaren Unverrückbarkeit einer gesicherten Weltordnung. Auch in Europa ist Demokratie nicht selbstverständlich, sie muss gefestigt, gelebt und verteidigt werden.

So oder so, es geht unter die Haut. Bei einer Lesung aus „Nichts“ in Frankfurt verließen Besucher die Veranstaltung vorzeitig. Bei Lesungen in Dänemark sei die Stimmung oft sehr aggressiv gewesen. Das Experiment, in die Haut des Fremden zu schlüpfen, empfindet mancher als Provokation.

Der schmale Band enthält vorzügliche Illustrationen von Helle Vibeke Jensen. Ihre Collagetechnik greift arabische Schriftzüge und Wörter auf – eine zusätzliche Visualisierung des Fremdseins. Tellers Vision, die zwischen den Zeilen aufscheint: Jeder behandelt den anderen so, wie er selbst behandelt werden möchte. Es kann nicht schaden, angesichts der aktuellen Bilder aus der arabischen Welt daran zu denken.

Janne Teller: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier. Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler. Hanser, München 2011. 64 S., 6,90 €. – Die Autorin liest am 21. März, 19.30 Uhr im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin. Anmeldung unter 030 / 50 50 22 01 oder kultur@daenemark.org

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