Obdachlose in der Hauptstadt: Berlins Bezirke stehen unter Zugzwang
Bis zu 6000 Menschen leben ohne festen Wohnsitz in Berlin. In Friedrichshain werden Camps geräumt, in Mitte wird über Ausweisungen diskutiert.
Die Ratten spielen eine entscheidende Rolle. Sie sind, auch, ein Grund dafür, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg jetzt viel konsequenter durchgreift als früher. Zwei wilde Camps von Obdachlosen hat das Ordnungsamt in den vergangenen Tagen geräumt, eines am Berghain, das andere am Ostkreuz. Und weitere werden wohl folgen.
Das Gesundheitsamt hatte Alarm geschlagen. Zwischen den Obdachlosen, ihren Matratzen, ihren Zelten, ihren Essensabfällen rannten Ratten. Eine Gefahr für die allgemeine Gesundheit, sie können ja Krankheiten übertragen. „Die Ratten kann man nur bekämpfen, wenn die Menschen weg sind“, sagt Sara Lühmann, die Pressesprecherin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. „Die Räumungen fanden auch aus hygienischen Gründen statt.“
Sie fanden aber auch statt, weil neben den Mitarbeitern des Gesundheitsamts noch andere Beobachter der bewohnten Müllhalden Alarm geschlagen hatten. Anwohner hatten sich über die Zustände beschwert, über mehrere Dutzend Obdachlose, die zum Problem geworden sind.
Hilfe wurde angeboten
Ausgerechnet Friedrichshain-Kreuzberg, wo die grüne Seele am grünsten ist, wo Toleranz, Multi-Kulti und das Verständnis für vermeintliche Opfer der Gesellschaft am größten ist, ausgerechnet dieser Bezirk geht jetzt besonders konsequent gegen wilde Camps vor. „Im September“, sagt Sara Lühmann, „ist im Bezirksamt der Entschluss gefasst worden, strikter zu reagieren.“ Aus einem einfachen Grund: „Die Situation mit der Obdachlosigkeit wurde ja immer extremer.“ Extrem ist sie unverändert.
Nur eine einfache Lösung des Problems hat Friedrichshain-Kreuzberg auch nicht, genauso wenig wie die anderen Bezirke oder die zuständigen Senatsverwaltungen. Bei der Räumung des Camps am Berghain waren zwei Sozialarbeiterinnen dabei, sie informierten die Obdachlosen über die Möglichkeiten zur Hilfe, über Beratungsstellen, über Obdachlosenunterkünfte, über die ganze Palette der Hilfsmaßnahmen. Die Resonanz war extrem überschaubar, Hilfe wollte kaum jemand annehmen. „In Obdachlosenunterkünften ist striktes Alkoholverbot“, sagt Sara Lühmann. „Das ist das Problem.“ Da verzichten viele Obdachlose lieber auf eine feste Unterkunft.
14 Personen hatte das Ordnungsamt am Berghain noch angetroffen, der Rest war schon verschwunden. Wohin diese 14 gegangen sind, weiß Sara Lühmann natürlich nicht, aber die Antwort ist nicht schwer zu finden. „Uns ist auch klar, dass die Menschen dann vermutlich einfach in einen anderen Bezirk gehen“, sagt sie. „Oder sie kommen später zurück. Verdrängen hilft ja nichts.“ Die Zelte und Matratzen wandern zur BSR und damit auf den Müll.
Einige reisen wieder ab
Es gibt ja auch noch die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr in die Heimatländer der Obdachlosen, vor allem Rumänen nehmen dieses Angebot wahr. 110 Menschen sind nach Angaben des Landesamts für Flüchtlinge (LAF) im Jahr 2016 in ihre Heimat zurückgekehrt, ausgestattet mit Tickets des jeweiligen Bezirke. Die meisten fuhren nach Rumänien. Ob auch Friedrichshain-Kreuzberg in den vergangenen zwölf Monaten solche Fahrten organisiert hat, ist unklar. Pressesprecherin Lühmann konnte dazu keine Angaben machen.
Nach Auskunft der Caritas, die in solche Rückreisen eingebunden ist, fanden sie in Friedrichshain–Kreuzberg aber nicht statt. Gut möglich, dass die Obdachlosen aus Kreuzberg in den benachbarten Bezirk Tempelhof-Schöneberg ausweichen. Und dass dort deshalb bald die politische Linie geändert wird. Noch werden in Tempelhof-Schöneberg keine Reisen für freiwillige Rückkehrer organisiert.
Aus einem einfachen Grund, sagt Christiane Heiß (Grüne), Bezirksstadträtin für Bürgerdienste, Ordnungsamt und Straßen- und Grünflächenamt. „Wir haben nicht die großen Parks, in denen die Obdachlosen ein Problem darstellen. Es gibt bei uns nicht so wilde Zeltcamps wie in Mitte.“ Wenn es einzelne Fälle gebe, spreche die Polizei ein Platzverbot aus.
Und weil die Masse der Fälle offenbar fehlt, stand das Thema Rückkehrer bisher gar nicht auf der politischen Tagesordnung. „Wir haben das innerhalb des Bezirksamts noch gar nicht diskutiert.“ Allerdings beobachte ihr Amt „die Entwicklung schon mit Sorge. Wenn sich die Lage zuspitzt, werden wir reagieren.“
Ausweisung als letztes Mittel
In Mitte hat sich die Lage längst zugespitzt. Da denkt Bezirks-Bürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) bereits an die Ausweisung aggressiver Obdachloser, allerdings nur als „allerletztes Mittel“. Er sieht dafür auch eine gesetzliche Grundlage. „Rein rechtlich ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach drei Monaten daran geknüpft, dass man nachweisen kann, ausreichend Mittel zur Existenzsicherung zu haben. Ist das nicht der Fall kann nach einer Anhörung bei oder durch die Ausländerbehörde festgestellt werden, dass die Freizügigkeit nicht auf die entsprechende Person zutrifft.“ Geprüft werde im Moment, ob die Obdachlosigkeit – die nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz eine Störung der Sicherheit und Ordnung ist, ebenfalls den Widerruf der Freizügigkeit möglich mache.
In diesen Bezirken sammeln sich viele Obdachlose
Tempelhof-Schöneberg
Aus Tempelhof-Schöneberg teilt Sozialstadträtin Jutta Kaddatz (CDU) mit, eine „Konzentration von obdachlosen Personen“, vergleichbar mit der im Tiergarten, könne das Amt für Soziales nicht feststellen. Bürger würden auf Einzelfälle hinweisen, so Kaddatz. Sie betont die geltende Rechtslage, wonach EU-Ausländer in europäischen Staaten Freizügigkeit genießen. Befinde sich eine Person in einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit und diese werde dem Bezirk gemeldet, sei der Bezirk gesetzlich verpflichtet, eine Unterkunft bereitzustellen.
Das Problem: „Im Umkehrschluss hat aber auch jede Person das Recht auf freiwillige Obdachlosigkeit und auf Lebensumstände, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechen“, sagte Kaddatz. Sie verweist auf die Wohnungslosentagesstätte des Unionshilfswerks in Schöneberg, die Obdachlosenunterkünfte freier Träger im Bezirk, das Nachtcafé einer Kirchengemeinde sowie die geplante Unterbringung von Obdachlosen im Hangar 4 des Flughafens Tempelhof im Rahmen der Kältehilfe.
Charlottenburg-Wilmersdorf
Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf nennt den Bahnhof Zoo, darunter die Hertzallee, die Bahnhofsmission in der Jebensstraße sowie die Flächen um den Supermarkt „Ulrich“ als von Obdachlosen stark frequentierte Orte. Auch unter fast allen Brücken entlang der Spree zwischen Schlossplatz und Tiergarten befänden sich Zelte. Das Bezirksamt weist explizit auf den Kältehilfewegweiser hin, der eine Liste von 13 Einrichtungen im Bezirk umfasst, wo Hilfebedürftige sich duschen, waschen, essen und ärztliche Untersuchungen in Anspruch nehmen können.
Steglitz-Zehlendorf
Aus Steglitz-Zehlendorf teilt Bezirksstadtrat Frank Mückisch (CDU) mit: „Regelrechte Hotspots wie in anderen Bezirken sind uns nicht bekannt.“ Wenn Bürger das Amt für Soziales auf Menschen im Straßenbild hinweisen, die offensichtlich hilflos oder obdachlos seien, würden Bezirksmitarbeiter vor Ort nachsehen und den Menschen ein Beratungsangebot machen.
„Mehr dürfen wir nicht tun“, sagt Mückisch, außer wenn „eigen- oder fremdgefährdende Umstände bei der Kontaktaufnahme“ bekannt seien oder die Person behandlungsbedürftig sei.
Mitte
Im Bezirk Mitte, der momentan die Räumung des Obdachlosencamps im Tiergarten diskutiert, denkt Stadtrat Ephraim Gothe (SPD) zuerst auf den Bereich rund um den Bahnhof Zoo hin, der eigentlich nicht zum Tiergarten, sondern zu Charlottenburg-Wilmersdorf gehört.
In Mitte gebe zudem es „alte Bekannte“ wie bestimmte Bereiche im großen Tiergarten, den Hansaplatz, den kleinen Tiergarten am U-Bahnhof Turmstraße, den Leopoldplatz und den kleinen Park an der Reinhardtstraße. Ständig würden sich die Orte ändern, sagt Gothe.
Friedrichshain-Kreuzberg
Aus Friedrichshain-Kreuzberg lässt das Ordnungsamt eine Liste von Orten übersenden. Darunter die Grünfläche an der Helsingforser Straße, wo Mitte Oktober ein Obdachlosencamp geräumt wurde, und der Annemirl-Bauer-Platz hinter dem S-Bahnhof Ostkreuz. Auch die Görlitzer Straße, das Görlitzer Ufer und die East-Side-Gallery an der Mühlenstraße nennt das Ordnungsamt als Hotspots von Obdachlosen.
Hinzu kommen der Volkspark Friedrichshain und der Park am Gleisdreieck, wo Ordnungsamt und Wachschutz zuletzt die Habseligkeiten und Matratzen von Obdachlosen entfernten. Gelistet sind auch das Steindenkmal nahe der Waldemarbrücke, die Grünberger Straße 34, wo sich die Menschen vor dem Hauseingang und der Sparkasse aufhalten, der südliche Wassertorplatz und die Grünfläche an der Waldemarstraße 30. Seit 2015 und verstärkt in 2016 würde Obdachlosigkeit stärker im Bezirk in Erscheinung treten, heißt es.
Lichtenberg
Im Nachbarbezirk Lichtenberg, so teilt ein Referent mit, würden keine Listen oder Übersichten zu Aufenthaltsorten von Obdachlosen geführt. Dem Bezirksamt lägen jedoch Bürgerhinweise zum Vorplatz des Bahnhofs Lichtenberg vor, wo es einen Tagestreff für Obdachlose gibt, der unter anderem Waschmöglichkeiten und medizinische Checks anbietet.
Neukölln
Auch in Neukölln gibt es keine offizielle Zusammenstellung von Obdachlosen-Hotspots. "Die Situation ändert sich täglich, sodass eine heute erstellte Liste bald ihre Gültigkeit verlieren würde", erklärt eine Sprecherin des Bezirksamtes und weist auf mehrere Hilfeeinrichtungen im Bezirk hin. Der Tagesspiegel hatte Mitte Oktober bereits über Hotspots in Neukölln berichtet. Darunter der Wildenbruchplatz, der Spielplatz an der Harzer Straße und der Hertzbergplatz.
Außenbezirke
Aus den äußeren Stadtbezirken kommen nur vereinzelte Obdachlosen-Meldungen. Aus Reinickendorf werden die „Schneckenbrücke“ in der Ernststraße, der Flughafensee, der U-Bahnhof Alt Tegel sowie die angrenzende Überdachung der Warenhauskette C&A genannt. „Wir haben hier und da einzelne Obdachlose, auch mal zwei oder drei, aber das sind Ausnahmen“, erklärt der Spandauer Sozialamtsleiter Thomas Fischer.
In Marzahn-Hellersdorf sind ebenfalls keine regelmäßig frequentierten Orte von Obdachlosen bekannt, lässt ein Sprecher des Bezirksamtes wissen. Rund 600 Personen seien dort vom Bezirk in Einrichtungen untergebracht worden. Anfragen in Treptow-Köpenick und Pankow wurden bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.