zum Hauptinhalt
Der Berlinpass dokumentiert eine anerkannte Bedürftigkeit.
© Britta Pedersen/dpa

Ermäßigungen für Bedürftige: Berlinpass auch bei Altersarmut?

Das Rabattpaket für Menschen mit wenig Geld kommt bisher nur Sozialhilfeempfängern zugute. Das ärgert Rentner am Rande des Existenzminimums.

Gerechter sollen sie die Welt machen, die Hilfen, Vergünstigungen und Subventionen für Menschen, die – unverschuldet oder nicht – Hilfe bedürfen. Doch dieses Ziel wird nie ganz erreicht, wie das jüngst vorgestellte Beispiel einer Rentnerin zeigt, der die Ämter den Berlinpass aberkannten, weil der Dame Wohngeld gewährt wurde statt wie zuvor Sozialhilfe.  Der Fall löste eine Kontroverse aus: Unter Experten, Lesern und ebenfalls Betroffenen.

„Fälle wie diesen gibt es immer öfter, das hat mit der zunehmenden Altersarmut zu tun und betrifft sehr of alleinstehende Frauen“, sagt Jürgen Kroggel. Er arbeitet in der Immanuel Beratung Spandau, einer Sozialberatungsstelle der Diakonie. Viele der Betroffenen hätten Renten um die 700 Euro, eine Miete von 400 Euro – da bestehe theoretisch ein Anspruch auf Sozialhilfe zur Aufstockung des Einkommens auf Hartz-IV-Niveau, und mit der Sozialhilfe bekämen sie den Berlinpass. Aber oft müssten diese Menschen stattdessen Wohngeld beziehen und auf den Berlinpass verzichten.

Dass der Berlinpass so eine Bedeutung für Berliner mit geringen Einkünften hat, liegt nicht vorrangig an günstigen Tickets für Theater und Museen. „Das ist ein Nebeneffekt“, sagt Kroggel. Vor allem die subventionierte BVG-Karte (36 statt 81 Euro) sei wichtig für die Menschen. Wichtig außerdem: Berlinpass-Besitzer bekommen billige Lebensmittel bei den Stellen von „Laib und Seele“ der Kirchengemeinden. Weiterer Vorteil ist der kostenlose Zahnersatz – „das ist gerade bei älteren Menschen ein großes Thema“, sagt Kroggel. Auch bei der Zuzahlung für Medikamente haben Sozialhilfeempfänger Vorteile. Das alles zusammengenommen ist den Betroffenen viel mehr wert als die rund 40 Euro mehr, die sie an Wohngeld bekämen.

Der Pass bedeutet soziale Teilhabe

Diakonie-Berater Kroggel hat auch Vorschläge, wie das Problem zu lösen wäre: „Flexible Übergangslösungen“ einführen. Wer 110 Prozent des Regelsatzes erhält (also 40,90 Euro mehr als den Hartz-IV-„Regelsatz“ von 409 Euro), sollte trotzdem noch den Berlinpass erhalten dürfen. Eine politische Entscheidung reicht dazu aus, weil das Land Berlin ja diese Vergünstigung gewährt. „In guten Zeiten“ habe die Schwelle sogar bei 130 Prozent gelegen.

Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg, Barbara Eschen, bringt eine weitere Lösung ins Spiel: „Berlin sollte den Anspruch auf den Berlinpass auf Wohngeldempfänger ausweiten.“ In Berlin gebe es viele Menschen, die wenig Geld haben, aber keine Leistungen wie Arbeitslosengeld II beziehen und daher vom Berlinpass – und mit dem Pass von der „sozialen Teilhabe“ ausgeschlossen seien. „Das sollte Berlin ändern, wie es im Koalitionsvertrag als Ziel genannt ist.“

Problembewusstsein gibt es bei der Senatsverwaltung für Soziales: „Uns ist bewusst, dass es an der Schnittstelle zwischen geringfügigem Einkommen und Leistungsbezug bei vielen Fällen zu Härtefällen kommen kann“, so eine Sprecherin. Die „Ausweitung des Berechtigtenkreises für das Berlin-Ticket-S und für den Berlinpass auf Empfänger von Wohngeld ist Bestandteil der Koalitionsvereinbarung.“ Ob der Wille Wirklichkeit wird, ist letztlich eine Frage des Geldes. Die Senatsverwaltung für Finanzen wollte sich nicht äußern, nicht vor Beginn der Verhandlungen zum neuen Haushalt.

Meinungen von Betroffenen und eines Experten

Rentnerin Evica Reuter lebt von einer bescheidenen Rente, die um einen kleinen Teil erhöht wurde - das hat nicht nur Vorteile.
Rentnerin Evica Reuter lebt von einer bescheidenen Rente, die um einen kleinen Teil erhöht wurde - das hat nicht nur Vorteile.
© Doris Spiekermann-Klaas

WIE BETROFFENE REAGIEREN

„Ich selber war auch schon in dieser Situation und kam mir wie eine Bittstellerin auf dem Amt vor. Ich habe selber 40 Jahre gearbeitet, als Krankenschwester, zwei Kinder groß gezogen, aber so ein tolles Angebot wie heute, dass man aussetzen kann, noch Geld bekommt, gab es zu meiner Zeit nicht. Man muss heute sehen, wie man mit seiner Rente klarkommt. Ich möchte mich nicht beschweren, aber all denjenigen, die kaum oder nie gearbeitet haben, wird es einfach so über den Tisch gereicht, wozu denn noch sich täglich abmühen?“ Dörte Pladeck, Siemensstadt

„Seit meinem Renteneintritt erhielt ich aufstockend zu meiner Rente Grundsicherung im Alter. Vom Sozialamt bin ich gezwungen worden, aus der Grundsicherung in das Wohngeld zu wechseln. Die Höhe dieses Wohngeldes zur Grundsicherung ist fast gleich. Aber man glaubt es kaum, es kann noch schlechter kommen. Der Berlinpass fällt weg. Bisherige Kosten für das BVG-Ticket: 36 Euro (ab Juli 27 Euro). Neu: 52 Euro. Wegfall der Möglichkeiten kultureller Teilhabe wie Museen usw. Kosten bei der GEZ (keine Ermäßigung) monatlich 18 Euro. Nur Abrechnung der Kaltmiete, das bedeutet, ich zahle 50 Euro Heizung selbst. Jede anstehende Mieterhöhung muss ich selbst tragen. Keine Möglichkeit, an der „Berliner Tafel“ Essen zu bekommen. Ich habe gegen diese Härte Klage beim Berliner Sozialgericht eingereicht. Auch mit der Frage: Wie kann man eine soziale Gruppe – Grundsicherung – gegen eine andere Gruppe – Wohngeld – ausspielen? Ach, da fällt mir noch etwas ein, ich trau es mich kaum zu sagen: Die Flüchtlinge bekommen Wohnungen mit Übernahme der Mietkaution und, da in Sozialhilfe oder Grundsicherung lebend, alle Vergünstigungen, die bei mir und anderen weggefallen sind. Monika Matthies, Mariendorf

DIE MEINUNG EINES EXPERTEN

„Als bis vor Kurzem zuständiger Referatsleiter für die Finanzen des Wohngeldes auf Bundesebene habe ich mich einige Jahre mit den Fragen beschäftigt, wie man Sozialleistungen konzipiert, die Verbesserung an sozialer Gerechtigkeit erbringen, in sich stimmig und mit anderen Leistungen sinnvoll und nachvollziehbar verzahnt sind. Dabei geht es darum, nicht an einer Stelle Gutes zu tun um den Preis, an anderer Stelle neue Ungerechtigkeiten zu schaffen.

In dem vom Tagesspiegel geschilderten Fall geht es darum, dass die Betroffene offenbar die Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherung nicht mehr erfüllt und daher einen Anspruch auf Wohngeld geltend machen soll. Damit hat sie bedauerlicherweise keinen Anspruch mehr auf den Berlinpass, was sie unter dem Strich finanziell schlechterstellt.

In diesem Fall geht es zunächst um das Zusammenspiel von Grundsicherung und Wohngeld. Grundsicherung in ihren verschiedenen Formen (Hartz IV, Sozialhilfe etc.) soll das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten. Wohngeld ist eine gezielte Hilfe für Geringverdiener oberhalb des Existenzminimums, die zwar ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften, sich aber wegen der hohen Mieten keine angemessene Wohnung leisten können. Beide Leistungen sind jeweils gesetzlich geregelt und klar voneinander abgegrenzt. Wohngeld ist als spezifische Sozialleistung vorrangig. Im Allgemeinen erhält jedoch die Berechtigte jeweils die Leistung, die für sie am günstigsten ist, wobei es schwierige Abgrenzungsfragen im Einzelfall geben kann.

Leistungen wie der Berlinpass sind freiwillige kommunale Leistungen, die es in vielen Kommunen gibt. Solche Leistungen werden bei der Abgrenzungsfrage Wohngeld oder Grundsicherung nicht einbezogen, weil sich dies nur mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand machen ließe und in vielen Fällen neue Ungerechtigkeiten schaffen würde.

Solche Leistungen, die als „Paket“ je nach Ausgestaltung und Inanspruchnahme im Einzelfall ohne Weiteres deutlich mehr als hundert Euro im Monat wert sein können, müssen wiederum an bestimmte Voraussetzungen gebunden sein. Im Falle Berlins ist dies der Bezug von Grundsicherung; denkbar wären auch Einkommensgrenzen, die den Kreis der Begünstigten weiter ziehen. Egal wie man es macht: immer kommt man irgendwann an den Punkt, wo der/die Berechtigte wegen weniger Euros „zu viel“ einen Anspruch verliert, der ein Vielfaches mehr wert sein kann – so auch in dem vom Tagesspiegel geschilderten Fall. Verschiebt man die Grenze der Berechtigung nach oben, ist vielleicht der Rentnerin gedient, dafür trifft es jedoch u. U. die Friseuse, die Krankenschwester oder den Busfahrer.

Große Gruppen unserer Gesellschaft, die nicht von Grundsicherung leben, dürften im Übrigen heute ebenfalls von Oper, Theater oder Restaurantbesuchen faktisch ausgeschlossen sein, weil sie es sich nicht leisten können. Wenn denn solche Dinge ein Kriterium für gesellschaftliche Teilhabe sein sollten, wird sie dank Berlinpass Empfängern von Grundsicherung besser ermöglicht als denen, die knapp über den Berechtigungsgrenzen liegen.

Hier geht es nicht um eine „Neiddebatte“, sondern um einen ebenfalls wichtigen Aspekt sozialer Gerechtigkeit. Jeder, der aus einfachen Einzelfällen weitreichende Forderungen ableitet, sollte sich die Konsequenzen gut überlegen, die dies für andere Gruppen haben kann.

Insgesamt ist das System der Sozialleistungen kompliziert, kaum noch überschaubar und daher in seinen Wirkungen für den Einzelnen nicht immer nachvollziehbar und gerecht. So kann es zu wechselseitigen „Kannibalisierungen“ von Sozialleistungen kommen.

Anläufe für eine Durchforstung des Sozialleistungssystems mit dem Ziel, dieses nachvollziehbarer und letztlich treffsicherer zu machen, hat es immer wieder gegeben – im Ganzen erfolglos. Systemfragen sind unpopulär, weil abstrakt, und werden daher bestenfalls auch nur halbherzig angegangen. Einzelfälle sind dagegen immer wieder ein dankbarer Stoff. Trotz permanenter teilweise milliardenschwerer Verbesserungen von Sozialleistungen wird in der Öffentlichkeit täglich der Eindruck himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeit geschürt. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man in Einzelfällen zugunsten der Betroffenen entscheiden würde. Die Probleme würden nur auf eine andere Ebene verlagert."

Friedrich Völker war bis Ende Januar 2017 Referatsleiter für Wohnungs- und Immobilienwirtschaft im Bundesbauministerium

Zur Startseite