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Armut verbaut Kindern Zukunftsaussichten, da sie ihren Wert nicht erkennen lernen.
© Kai-Uwe Heinrich

Kinderarmut in Berlin: Das Risiko

Jedes dritte Kind in Berlin hängt von Sozialleistungen ab. Was bedeutet es, in armen Verhältnissen aufzuwachsen? Auf den Spuren eines schwer fassbaren Missstands.

Esra hat den Hortraum schon halb erreicht, als die Erzieherin fragt, ob sie ihren Berlinpass eingesteckt habe. Das Mädchen schüttelt den Kopf. Es ist ein Montagmittag, 13 Uhr 30, in der Leo-Lionni-Grundschule. Einige der vierten Klassen haben Unterrichtsschluss. Halb lächelnd und ein wenig verlegen tritt Esra von einem Fuß auf den anderen. Sie trägt Turnschuhe und Leggings. Die langen schwarzen Haare hat sie im Nacken zum Zopf gebunden. An den Ohren funkeln kleine Glitzersteine.

In der Leo-Lionni-Grundschule gibt es viele wie Esra, die den Berlinpass – einen Sozialausweis – besitzen und nachmittags im Hort betreut werden. 84 Prozent der Kinder im Nachmittagsbereich leben in Familien, die Transferleistungen beziehen: Hartz IV, Sozialhilfe oder Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Es ist nicht die Menge an Sozialausweisen allein, die die Leo-Lionni-Grundschule im Wedding zur sogenannten Brennpunktschule macht – wie eigentlich fast alle Schulen hier im Umkreis des Leopoldplatzes. Durch die soziale Herkunft der Kinder entsteht ein ungleicher Wettlauf, der für arme Kinder bereits verloren ist, bevor er begonnen hat.

Kinderarmut ist ein komplexes Phänomen mit vielen Symptomen, die man erst auf den zweiten Blick sieht. Was bei der Einkommensarmut der Eltern beginnt, führt im Schulalltag zu Leistungsdefiziten und zu verstellten Berufsperspektiven. Aber das sind nur die Folgen, die am einfachsten messbar sind.

Im Berliner Wedding leben mit die meisten armen Kinder der Stadt. Hier verdichtet sich, was sich in Statistiken hinter abstrakten Vergleichszahlen verbirgt. Eine von der Bertelsman-Stiftung vorgelegte Studie im vergangen Jahr stellt fest, dass fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren in Berlin in einer von Sozialleistungen abhängigen Familie lebt (32,2 Prozent). Zu demselben Ergebnis kam im letzten Jahr die Antwort der Berliner Senatsverwaltung für Soziales auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage. Rund 53 Prozent der armen Kinder wachsen demnach in Familien auf, in denen ein oder beide Elternteile nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, etwa 45 Prozent leben bei alleinerziehenden Eltern.

„Nein, das können wir dir nicht kaufen.“

Die Zahlen sind erschreckend hoch, obwohl sie zumindest in Berlin – sowie einigen ostdeutschen Bundesländern – gegenüber 2011 leicht rückläufig sind. Was bedeutet es, dass sich Kinderarmut in dieser Stadt auf einem gleichbleibend hohen Niveau bewegt? Was folgt daraus?

Ein Nachmittag im vergangenen Dezember. Zu Besuch bei Esras Familie im Wedding. Die Eltern und ihre drei Töchter wohnen in der Drei-Zimmer-Wohnung eines Wohnblocks unweit des Leopoldplatzes. Auf dem Tisch steht schwarzer Tee in kleinen Gläsern und eine Dose voll mit Würfelzucker. An der weißen Wand tickt der große Zeiger einer orientalisch verspielten Uhr. Esra ist die älteste Tochter. Ihr Vater, Schnauzbart, zurückgekämmte, kurze schwarze Haare, trägt eine Brille mit kleinen eckigen Gläsern und hat die Hände ineinander gefaltet. Herr Aydin ist ausgebildeter Koch. Seit einem Unfall findet er nur schwer eine Anstellung. „Wer braucht schon einen Koch, der sich nicht bücken und gut bewegen kann“, sagt er.

Sibel Aydin, die Mutter, kümmert sich zu Hause um die zwei kleinen Kinder, die Jüngste ist anderthalb, die andere ein Jahr älter. Sie ist eine herzliche Frau mit lockigem Haar, die gerade nasse Kinderkleidung auf einem Wäscheständer ausbreitet. Wenn die Kleinen die Eingewöhnungsphase im Hort hinter sich haben, will Frau Aydin einen Deutschkurs besuchen. Sie und Esra sind vor drei Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ihr Mann war drei Jahre zuvor nach Deutschland aufgebrochen, allein.

Abzüglich der Miete leben die Aydins zur Zeit von rund 500 Euro im Monat. Das ist wenig Geld und liegt weit unter dem Mindestsatz, der vom Amt an bedürftige Familien wie die Aydins normalerweise ausbezahlt wird. Doch aus Gründen, die mit der verkorksten Patchwork-Situation der Familie zusammenhängt, hat sie weniger zur Verfügung im Monat. Für einen Berliner Vierpersonenhaushalt liegt die Armutsgefährdungsschwelle bei 1.767 Euro pro Monat für alle Ausgaben, inklusive Miete.

In Monaten, in denen das Geld nicht reicht, verzichtet die Familie auf Obst und Gemüse und fährt nicht wie üblich auf den Maybachufermarkt, um sich dort mit Lebensmitteln einzudecken. Für den Preis, den ein U-Bahnticket bis zum Kottbusser Tor kosten würde, kann die Familie in den nahegelegenen Aldi- und Lidl-Filialen Grundnahrungsmittel einkaufen, wie Kartoffeln und Zwiebeln.

Herr Aydin meint, es sei nicht gut, wenn man seinen Kindern auf Dauer sagen müsse: „Nein, das können wir dir nicht kaufen.“

Esra und ihre Familie tragen in Wirklichkeit andere Namen. Wie überhaupt sämtliche Kinder in dieser Geschichte anonym bleiben sollen. Arm sein will in dieser Gesellschaft, in der man sich über Leistung und Konsum definiert, niemand. Armut ist ein Stigma, obgleich die Betroffenen oft nichts für ihre Lage können, in der sie steckenbleiben und aus der sie meist nicht mal ihren Kindern heraushelfen können. Doch das Verständnis gegenüber Familien, die in armen Verhältnissen leben, ist begrenzt. Oft heißt es: In Deutschland ist doch eigentlich keiner arm. Oder: Wer Hartz IV bezieht, bekommt doch viel Geld.

Luxus ist, dass ein Wunsch sich erfüllt

Tatsächlich ist Armut eine relative Zahl in diesem Land. Als armutsgefährdet gilt, wer mit weniger als 60 Prozent desmittleren Einkommens auskommen muss, strenge Armut herrscht ab 40 Prozent. Oft wird in Deutschland auch der Bezug von Sozialleistungen nach dem SGB II als Maßstab herangezogen. Aber erlaubt die finanzielle Minimalausstattung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten?

Armutsforscher wie Professorin Susanne Gerull von der Alice Salomon Hochschule in Berlin haben festgestellt, dass die Folgen für Kinder, die in Armut leben, massiv sind. In einer Wohlstandsgesellschaft wird die Armutserfahrung durch die Gefühle verstärkt, ständig mithalten zu müssen und sich auch mal etwas gönnen zu wollen. Kinder erleben deshalb eine sehr subtile Ausgrenzung. Diejenigen, diemit demVertrauen aufwachsen, dass es der eigenen Familie gut geht, dass es keine Probleme gibt, erleben die Welt meist ganz anders, als Kinder, die ständig mitbekommen, dass andere Familien es wesentlich einfacher haben, meint Professorin Gerull.

So ist Armut für Kinder keineswegs auf materielle Not beschränkt. Sie müssen es schon als Luxus empfinden, dass überhaupt einmal ein Wunsch in Erfüllung geht.

An der Leo-Lionni-Grundschule kämpfen fast alle Kinder mit den gleichen Problemen. Es ist ein Montagmorgen in der vierten Klasse. 21 Schüler haben in einem Stuhlkreis Platz genommen und halten sich an den Händen.Neulich im Sportunterricht wurde Esra von einem ihrer Mitschüler absichtlich in den Knöchel getreten. Sie gehört zu den Mädchen, die anderen immer wieder an den Haaren zieht. Die Erzieher versuchen, die Kinder in solchen Situationen auseinanderzuziehen, mit ihnen zu sprechen, zu klären, was passiert ist, zu fragen, warum sie sich bei Problemen nicht an die Lehrerwenden. Sie sagen, dass Gewalt ein Thema an der Leo-Lionni-Schule sei. Im Sekretariat hingegen heißt es, Gewaltmeldungen gebe es kaum, dieses Jahr seien es vier oder fünf gewesen.

Ein Junge mit dunkelbraunen Haaren, der neben Esra im Kreis sitzt, rutscht ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. „Frau Heinrich, ich habe eine Zwei in Englisch geschrieben“, sagt er und schaut stolz in die Runde.

„Ich habe auch eine Zwei bekommen.“ Esra wispert es leise. Ihre Augen strahlen. Aber das geht unter, da nun alle Kinder sagen wollen, welche Noten sie bekommen haben. Die Klassenlehrerin Anke Heinrich fragt denn auch danach. Hände gehen in die Luft. Die meisten hier geben sich Mühe und wollen gute Noten schreiben.

Im Gegensatz zu vielen anderen Klassen an der Leo-Lionni-Grundschule sei diese vierte eine auffällig brave, meint Frau Heinrich. Während des Unterrichts an diesem Morgen wird kaum geschwätzt, keiner boxt seinen Banknachbarn oder kaspert auf seinem Stuhl herum. Anke Heinrich, eine selbstbewusste Frau mit blonden kurzen Haaren – auch ihr Name lautet in Wirklichkeit anders – unterrichtet seit 35 Jahren an der Schule im Wedding. „Alle Schulen im Umkreis hier haben die gleichen Probleme“, sagt sie.

Viele der Kinder kommen aus Elternhäusern, in denen nur wenig Deutsch gesprochen wird. Es gibt keine Bücher im Regal, sie können keine Schere in der Hand halten, und ihre kognitiven Fähigkeiten liegen deutlich hinter denen gleichaltriger Kinder aus besser gestellten Haushalten. Über die letzten zwei Wochen hinweg hat Frau Heinrich jedem der Schüler ein Buch mit nach Hause gegeben.

Esra ist als Erste an der Reihe, die Geschichte von Prinzessin Fibi vorzustellen. Mit beiden Händen hält sie ihr Arbeitsblatt hoch und beginnt leise und stockend, die Worte zu formen. Das Lesen der deutschen Sprache bereitet ihr Mühe. „Frau Heinrich, kann ich es auch erzählen?“, fragt sie nach kurzem Zögern.

Später wird Lehrerin Heinrich sagen, dass Esra sich nicht entmutigen lasse. „Aber sie hat noch immer große Sprachprobleme.“

In der Klasse gehört Esra zu den älteren Kindern, die nicht sitzen bleiben, sondern „verweilen“, wie es heißt. Esra gilt als Viertklässlerin, bekommt aber, wo es nötig ist, leichtere Aufgaben als ihre Mitschüler gestellt. Sie hängt quasi ein Jahr zurück.

Viele Kinder in der Klasse tun sich schwer. In den Klassenarbeiten in Deutsch werden die Substantive noch immer klein geschrieben. Erst neulich hat Frau Heinrich das Addieren und Subtrahieren im Unterricht durchgenommen. In Mathe multiplizieren die Kinder noch im Zahlenraum bis 20, obwohl im Lehrplan steht, es sei der Zahlenraum bis zu einer Million zu üben. Zu viel in einer Welt, in der es an allem mangelt.

Frau Heinrich schätzt, dass von den 21 Kindern später einmal vier oder fünf Schüler eine Gymnasialempfehlung bekommen. Das ist weniger als die Hälfte des Berliner Durchschnitts. Dabei gibt es an der Leo-Lionni-Grundschule Erzieher, Lesepaten, Sozialarbeiter und Heilpädagogen, die den Schulalltag begleiten und versuchen, die Kinder im Unterricht und in der Freizeitgestaltung der Schule individuell zu fördern und bei den Hausaufgaben zu helfen.

Ein Bürakratiemonster ist entstanden

Sie alle arbeiten gegen die Folgen einer Armut an, die der Berliner Senat 2003mit einer Initiative zur flächendeckenden Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern auszugleichen hoffte. Ein Schritt in die richtige Richtung, meinen Bildungsexperten. Auch das 2011 eingeführte Bildungs und Teilhabepaket (BuT) sollte so einwegweisender Schritt werden. Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien soll damit ermöglicht werden, in einem Sportverein mitzumachen oder in die Musikschule zu gehen, obwohl solche Aktivitäten den finanziellen Spielraum der Eltern überfordern. Es werden Ausflüge bezuschusst und das Mittagessen in Schule und Kita.

Eltern, deren Kinder einen Berlinpass besitzen, zahlen für das Schulessen einen Eigenanteil von einem Euro pro Essen. Schulbedarf wie Stifte, Hefte oder Wassermalfarben werden mit bis zu 100 Euro im Schuljahr bezuschusst, die Mitgliedschaft in einem Fußballverein oder das Erlernen eines Musikinstruments mit bis zu zehn Euro im Monat. An der Grundschule im Wedding beträgt der Mindestbeitrag für die gesamte Verpflegung insgesamt 37 Euro im Monat. Dennoch ist mit dem BuT ein Bürokratiemonster entstanden. Jede einzelne Aufwendung muss eigens beantragt werden. Und sei es nur das Fahrgeld. Dem Missbrauch sollte es so schwer wie möglich gemacht werden.Was nicht nur ungewöhnlich hohe Verwaltungskosten verursacht. Viele Eltern nehmen die Zuschüsse des BuT gar nicht erst in Anspruch, obwohl sie berechtigt wären.

Bei Familie Aydin stapeln sich die Behördenbriefe in einer Nische hinter dem Kühlschrank. Herr Aydin erzählt, dass oft innerhalb weniger Tage mehrere Schreiben zu einer Angelegenheit einträfen, über die er schon längst informiert worden sei. Er greift in die Nische, um drei Briefe von unterschiedlichen Stellenhervorzuziehen, die vergangene Woche eingetroffen sind. Darin wurde der Familie jeweils mitgeteilt, dass ihr Eigenbetrag für die Verpflegungskosten von Kita und Schule steige. Herr Aydin nimmt die Anschreiben und legt sie nebeneinander vor sich auf den Tisch. Er schüttelt den Kopf, seufzt, setzt seine Brille ab und reibt sich die Augen.

Mit Behördenbriefen dieser Art, deren Sprache er nicht entschlüsseln kann, wendet sich Herr Aydin für gewöhnlich an ein Beratungszentrum in Kreuzberg. Dort lässt er sich beim Ausfüllen der Anträge für das Jobcenter helfen. Sozialverbände fordern auch für familienpolitische Leistungen seit Langem, Beratungsleistungen speziell für einkommensschwache Familien zu verstärken und auf ihre Bedürfnisse auszurichten. Die unterschiedlichen Zuschüsse sollen gebündelt und gesammelt von einer Stelle an die Betroffenen ausgezahlt werden.

An diesem Nachmittag liegt ein scharfer, kneifender Geruch in der Wohnung. Herr Aydin hat ein Spray versprüht. Es soll gegen den Schimmel wirken, der sich in etwa 20 Zentimeter großen Flächen an Fenstern, Türen und Decken verteilt. Zwei bis drei Tage später ist der Schimmel stets wieder zurück. Die Nachbarn im Haus haben dieselben Probleme.

Esra sitzt im Flur auf einem beigen Teppich, der mit Blumenornamenten verziert ist, den Kopf an die weiße Wand gelehnt. Sie hat Ohrenschmerzen. Deshalb war sie heute nicht in der Schule. Auch ihre Schwestern, die gerade an ihren Milchfläschchen ziehen, sind krank und haben Fieber. Herr Aydin macht den Schimmel verantwortlich. „Seit dem wir Kinder haben, sind wir ständig beim Arzt“, sagt er. „In der Praxis kennen uns schon alle.“

Studien zur Kinderarmut weisen darauf hin, dass materielle Einschränkungen bei Kindern grundsätzlich als Belastung empfunden werden und sich in Bauch- und Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Einnäss- oder psychischen Problemen äußern können. Der Kinderarzt Jakob Maske ist überzeugt, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien oft gesundheitlich beeinträchtigt sind. Sie weisen Störungen der Fein- und Grobmotorik auf. In extremen Fällen könnten Kinder im Kita-Alter noch immer keinen Ball fangen. Andere seien aufgrund ungesunder Ernährung und mangelnder Bewegung übergewichtig. Viele der Probleme ließen sich aber eigentlich frühzeitig verhindern, wenn die Kinder verstärkt gefördert und betreut würden, meint Maske.

Die Lösung dieser vielfältigen Probleme könnte eine Kindergrundsicherung sein. Denn trotz der vielen familienpolitischen Förderprogramme bestehen Ungerechtigkeiten systematisch fort. So werden Kinder gutverdienender Eltern durch den Kinderfreibetrag steuerlich begünstigt, wohingegen das Kindergeld bei Hartz-IV-Beziehern in vollem Umfang als Einkommen angerechnet wird. Die Sozialverbände wie die Awo oder der Kinderschutzbund fordern deshalb einen Umbau der bisherigen sozialen Transferleistungen in eine Kindergrundsicherung. Alle Kinder sollen am Start die gleichen Chancen bekommen.

Das größte Armutsrisiko sind viele Geschwister

Es ist ein Vorhaben, das nicht auf landespolitischer Ebene umzusetzen ist, sondern nur durch den Bund. Der Berliner Senat legte in der vergangenen Legislaturperiode eine Strategie zur „Bekämpfung von Kinderarmut und Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabechancen“ vor. Doch statt konkrete Maßnahmen auszuarbeiten, wurde erst mal nur die Einrichtung einer neuen Stabsstelle beschlossen, die sich weiter mit dem Thema beschäftigen soll.

Es heißt, dass viele gute Ideen, die an dieses Kompetenzzentrum herangetragen werden, versanden. Eine Armutsinitiative, sagen Experten, die keine Maßnahmen ergreife und kein Geld investiere, könne an der Situation der armen Kinder nichts ändern.

Als an einem Mittwochabend im Hort von Esras Schule ein Elternabend stattfindet, bringen die meisten Eltern ihre Kinder mit zu dem Informationstreffen. Es soll um eine Reise auf einen Bauernhof in der Uckermark gehen. Esras Mutter trägt ein modisches Kopftuch in Cremefarben und verteilt Bonbons an ihre Kinder. Abwechselnd halten sie und Esra sich einen Finger an die Lippen, um die beiden Kleinen mit einem „Psssst“ zur Stille zu ermahnen. Ein junger Erzieher, der die Reiseplanung vorstellt, hat trotzdem Mühe, sich über dem Geräuschpegel der vielen Kinder Gehör zu verschaffen.

Im Bericht des Berliner Beirats für Familienfragen, der den Senat in Sachen Familienpolitik berät, sind die kostenfreien Ferienreisendes Berliner Kinderschutzbundes als vorbildliche Praxis aufgeführt, Kinder aus armen Familien zu unterstützen. Nach einer Erhebung der Bertelsmannstiftung liegt für drei Viertel von ihnen eine einwöchige Urlaubsreise außerhalb aller Möglichkeiten. Da sind die sieben Tage, in denen Esra mit anderen Kindern in einem umgebauten Stall des Bauernhofs in Vierbett- und Zweibettzimmern schlafen soll, etwas Besonderes.

An zwei Vormittagen soll es Reitstunden geben. Eine Nachtwanderung ist geplant, Stockbrot am Lagerfeuer und Sport am Morgen. Die Erzieher verteilen Informationsblätter und eine Notfallnummer. Fünf Pädagogen fahren als Betreuer mit. Es soll für die Tage einige Regeln geben. Die Mobiltelefone der Kinder müssen zu Hause bleiben. Chips oder Süßigkeiten würden, sollten die Kinder welche dabei haben, unter Verschluss gehalten, kündigen die Erzieher an. Einer von ihnen bittet, nach Möglichkeit warme Kleidung und feste Schuhe einzupacken: „Kaufen Sie aber bitte keine Kleidungsstücke, die ihr Kind nicht sowieso schon hat.“ Gummistiefel, warme Pullover und Jacken in unterschiedlichen Größen bringen die Erzieher sicherheitshalber mit.

Armutsforscherin Susanne Gerull ist der Meinung: Kinder, die gefördert werden und spüren, dass man sich um sie kümmert, nehmen sich selbst nicht unbedingt als arm wahr. Erst im Erwachsenenalter stellen sie fest, dass die eigenen Eltern nur über ein geringes Einkommen verfügen. Und dass das einen Unterschied ausmacht. Etliche Helfer, die schon lange in dem Feld aktiv sind, seien zermürbt, heißt es in familienpolitischen Kreisen. Das Thema Kinderarmut habe zwar in der öffentlichen Diskussion an Sichtbarkeit gewonnen, bewegen tue sich aber noch immer wenig.

Während Statistiken und Langzeitstudien offenlegen, wer von Armut betroffen ist und welche Nachteile für Kinder daraus entstehen, bleiben konkrete Maßnahmen und finanzielle Mittel aus, die die Lage der Kinder grundlegend ändern würden. Einzelne Projekte gelingen. Erfolgreiche Aktionen werden gefeiert. Aber das größte Armutsrisiko für ein Berliner Kind besteht nach wie vor darin, viele Geschwister oder eine alleinerziehende Mutter zu haben.

An diesem Abend im Weddinger Klassenraum gibt es kaum Rückfragen. Viele Eltern sind auf der Suche nach Arbeit und kämpfen mit eigenen Problemen. Und nicht immer reichen die Deutschkenntnisse aus, um sich einzubringen. Eine Frau in der ersten Reihe meldet sich, und sagt, ihr Kleiner habe bestimmt noch viel Betreuungs- und Anweisungsbedarf. Sie ist eine der wenigen Frauen im Raum, die kein Kopftuch tragen. Sonst sagt niemand etwas.

Esra sitzt zwischen all den schweigsamen Erwachsenen und schaut verträumt ins Leere. Ihre Winterjacke mit dem Kunstfellaufsatz an der Kapuze hat sie nicht ausgezogen. Seit Langem freut sich Esra auf die anstehende Reise. Schon letztes Schuljahr wollte sie mitfahren. Es wäre Esras erster Besuch im Umland von Berlin. Esra kennt den Wedding und die Gegend am Kottbusser Tor. Im Sommer spazieren die Aydins manchmal zu dem Spielplatz auf der kleinen Grünfläche, der hinter ihrer Wohnung liegt. Mutter und Vater aber sagen, dass sie den Spielplatz nicht mögen, dort seien oft Betrunkene.

Alles, was die Aydins sich ausmalen und erreichen wollen, liegt in der Zukunft. Auch die Vorstellung davon, wie die Familie im Alltag leben will, stimmt nicht mit der Gegenwart überein. „Wir haben noch viel vor“, sagt Herr Aydin. So möchte Esras Mutter gerne Kindergärtnerin und Herr Aydin Sozialarbeiter werden. Wenn man selbst Schwierigkeiten erfahren habe, wolle man gerne anderen helfen.

Eine Menge Menschen brauchen Hilfe in dieser Stadt, meint Herr Aydin. Er sagt auch, dass seine Tochter einmal eine selbstbewusste Frau werden solle, die auf eigenen Beinen stehe und wisse, dass sich in der Familie für jedes Problem gemeinsam eine Lösung finden lasse.

Wie eine kleine Damewirkt Esra an diesemTag in ihrer blau-weiß-gestreiften Strickjacke und den rot lackierten Fingernägeln. Wenn man sie fragt, was sie von der Zukunft erwartet, was sie später einmal werden wolle, sagt sie mit schüchterner Stimme: „Frauenärztin, damit ich die Babys im Bauch anschauen kann.“ Es klingt wie die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Die Würde von Eltern darf nicht verletzt werden, Kindesentzug nur im äußersten Notfall, wenn wirklich Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht. Armut ist keine Krankheit und orientiert sich immer am Wohlstand der Gesellschaft.

schreibt NutzerIn BerlinPilot

Nikola Endlich

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