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Immer ein Auskommen. Akkordarbeit bei Siemens, Bedienung unterm Funkturm, eigener Zeitungsladen. Evica Reuter arbeitete viel, zog Kinder groß.
© Doris Spiekermann-Klaas

Kein Berlinpass wegen Wohnungsgeld: Soziale Ausgrenzung für 37 Euro mehr im Monat

Wegen einer Härte im Gesetz verlieren Bedürftige wie Evica Reuter den Berlinpass – ihre Eintrittskarte zur sozialen Teilhabe.

Sie hat 30 Jahre gearbeitet. Hat bei Siemens Elektroteile montiert, im Akkord. Sie kellnerte im Palais am Funkturm, später in einem Restaurant mit Kegelbahn. Anfang der 1990er Jahre machte sie sich selbstständig: mit einem Zeitungsladen in der Steglitzer Bergstraße. Nach fünf Jahren wechselte sie den Kiosk, arbeitete in der Kurfürstenstraße in Schöneberg. Sieben Tage die Woche. Immer da. „Ich habe keine Reichtümer angesammelt, hatte aber immer ein Auskommen“, sagt Evica Reuter. Sie machte das Beste draus. Aber jetzt hat der Bezirk ihr auch noch den Berlinpass entzogen, die Eintrittskarte zum kulturellen Leben der Stadt.

Evica Reuters Schicksal ist kein Einzelfall. Aber es ist ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie das System von Hilfe und Unterstützung nicht immer soziale Gerechtigkeit bewirkt – sondern schon mal genau das Gegenteil. Nicht nur, weil Evica Reuter ihr Leben lang gearbeitet hat, dazu noch zwei Kinder groß zog und trotzdem weniger Rente bekommt als Menschen, die nie einen Finger krumm gemacht haben. Damit hat sie sich abgefunden. Als Unrecht empfindet sie vor allem die Nötigung eines Mitarbeiters des Sozialamtes, staatliches „Wohngeld“ zu beantragen. Denn deshalb musste sie den „Berlinpass“ abgeben und bekommt deshalb keine Ermäßigung bei landeseigenen Betrieben mehr, bei der BVG, den Schwimmbädern, Opern- oder Konzerthäusern beispielsweise.

„Ich fürchte die soziale Isolierung“

Auf das Wohngeld hätte sie lieber verzichtet, wenn sie nur den Berlinpass behalten darf. Doch die Sachwalter des Amtes verwehrten ihr das. „Die Politik“ habe das so entschieden, habe einer ihr gesagt. Wenn sie daran etwas ändern wolle, dann müsse sie „der Politik auf den Sack gehen“, sagt Evica Reuter und man spürt ihre Befremdung über diese Wortwahl.

Ohne Berlinpass ist für sie nichts mehr, wie es einmal war. „Ich muss mir jetzt gut überlegen, welche Fahrt ich mache und ob ich mir den Fahrschein überhaupt leisten kann“, sagt sie. Einladung ihrer unternehmungslustigen Nachbarin schlage sie nun oft aus: „5,60 Euro für Fahrscheine, eine Eintrittskarte fürs Museum und vielleicht 2,80 Euro für ein Getränk im Café – dafür reicht mein Budget nicht“. Besuche bei ihren Kindern und Freunden, das kann sie sich seltener leisten – „ich fürchte die soziale Isolierung“.

37 Euro mehr im Monat, aber kein Berlinpass mehr

Das alles beschreibt Evica Reuter. Sie klagt nicht. „Ich habe gelernt, mit dem Wenigen auszukommen“, sagt sie. Das anmaßende Amtshandeln, das schreiend ungerecht erscheint, das analysiert sie wie einen irritierenden Vorgang, dem vielleicht doch noch mit Argumenten beizukommen wäre.

Dabei ist die Lage so einfach wie brutal: Ihre Rente beträgt 698 Euro dazu kamen bisher 39,89 Euro Sozialhilfe, die ihre Einkünfte auf das Hartz-IV-Niveauvon 738 Euro anhob. Seitdem das Amt sie zum Bezug des Wohngeldes nötigte, hat sie 775 Euro. 37 Euro im Monat mehr, die sie teuer zu stehen kommen: Sie zahlt nun mehr für den Bus, kann sich kein Museum und kein Theater mehr leisten, selten mal ein Schwimmbad-Besuch – ausgeschlossen, ausgegrenzt.

Das Land spart bei Fällen wie dem von Reuter

Rente plus Wohngeld oder Rente plus Sozialhilfe und Berlinticket – das eine bezahlt der Bund zur Hälfte, das andere das Land Berlin komplett. Haben die Sozialämter der Bezirke die Anweisung, ihren „Kunden“ Hilfen des Bundes aufzunötigen, um die Landeskassen zu schonen?

„Nein, es gibt hier keine haushalterische, sondern rein rechtliche Gründe“, sagt eine Sprecherin von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Es bestehe eine „gesetzliche Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen“ nach dem Sozialgesetzbuch XII. Das Wohngeld sei eine solche vorrangige Leistung. Sozialhilfe ist gleichsam das letzte Auffangnetz für Bedürftige, wenn alle anderen Einkommen wie Renten, Wohngeld und privates „Vermögen“ nicht zum Lebensunterhalt reichen.

Befördert linke Politik die Ausgrenzung?

Deshalb konnte der Mitarbeiter des Sozialamtes in Tempelhof-Schöneberg, der Evica Reuter das Wohngeld aufzwang, auch gar nicht anders als genau das zu tun. Schlimmstenfalls ist dieser sogar dazu verpflichtet, selbst den Antrag auf Wohngeld im Namen seines Kunden zu stellen – gegen dessen Willen: „Die gesetzlichen Vorgaben gehen sogar so weit, dass die Sozialämter zur Realisierung des vorrangigen Wohngeldanspruchs das Verfahren selbst betreiben können.“

Befördert also ausgerechnet eine von der Linken geführte Sozialverwaltung die Benachteiligung von Menschen nach einem langen Arbeitsleben? „Uns ist bewusst, dass es an der Schnittstelle zwischen geringfügigem Einkommen und dem Leistungsbezug bei vielen Fällen zu Härtefällen kommen kann“, so die Antwort. Deshalb „prüfe“ der Senat, ob und wie „der Berechtigtenkreis für das Berlin-Ticket-S und damit auch für den Berlinpass“ erfolgen könne.

Jeder Tag, den diese Prüfung dauert, verlieren Evica Reuter und Tausende andere in ähnlicher Lage ein bisschen mehr den Anschluss – an ihre Familie, ihre Freunde und an dem gesellschaftlichen Leben unserer Stadt.

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