Nach Aussetzen der Präsenzpflicht: Berliner Schüler haben keinen Anspruch auf Distanzunterricht
Mit einem Brief wendet sich die Verwaltung an die Schulen: Lehrer sollen versuchen, Kontakt zu den Schülern zu halten. Besondere Regeln gibt's fürs Abitur.
Berlins Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) versucht den Schaden zu begrenzen, den die von ihr und dem Senat bis Ende Februar verkündete Aufhebung der Präsenzpflicht an den Schulen mit sich bringen kann. In einem sechsseitigen Rundschreiben „an alle Schulleitungen im Land Berlin“, das mitten in den Winterferien abgeschickt wurde und dem Tagesspiegel vorliegt, appellieren Busses drei Abteilungsleiter an die Pädagoginnen und Pädagogen, das Ausmaß der Versäumnisse möglichst zu begrenzen.
Entsprechend sollen die Jugendlichen und ihre Eltern beraten werden - und zwar vor allem jene Jugendliche, „die den Lernort Schule dringend benötigen“.
Das gelte insbesondere für die ersten zwei bis drei Klassen und die abschlussrelevanten Jahrgänge sowie die Willkommensklassen. Um spontanes Schwänzen unter dem Deckmantel der ausgesetzten Präsenzpflicht zu erschweren, müssen die Kinder und Jugendlichen spätestens am Beginn des ersten Schultages, ab dem sie nicht mehr am Präsenzunterricht teilnehmen wollen, den entsprechenden Antrag stellen.
Zudem dürfen sie sich nicht nur die unbeliebten Fächer fürs Fernbleiben aussuchen: Eine tage- oder gar stundenweise Inanspruchnahme der Aufhebung der Präsenzplicht ist nicht möglich, sondern nur wochenweise. Zudem wird das Fernbleiben als entschuldigte Fehlzeit auf dem Zeugnis erfasst, fällt also auf, und es müssen Hausaufgaben gemacht werden, damit die Schüler sich nicht ans Nichtstun gewöhnen, sondern weiterlernen. Anspruch auf schulisch angeleitetes Lernen zu Hause haben diese Schülerinnen und Schüler nicht.
Wenn ein Grundschüler oder eine Grundschülerin mehr als fünf Schultagen fernbleiben, steht ein Gespräch „zu den Lernaufgaben“ an. Dies könnte auch für ältere Schüler infrage kommen und „insbesondere bei Schülerinnen und Schülern, die zu Hause keine guten Lernvoraussetzungen haben“.
Das Abitur kann in Gefahr geraten
Wer an den weiterführenden Schulen zwischen Klassen 7 bis 10 während der Zeit der ausgesetzten Präsenzpflicht eine Klassenarbeit versäumt, muss bis zum 11. März einen Nachschreibetermin angeboten bekommen, den er aber nicht wahrnehmen muss. Anders ist es in der gymnasialen Oberstufe: Da müssen Klausuren nachgeschrieben werden, die für die Notenbildung unerlässlich sind.
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Unangenehm wird es auch, wenn Noten in der Qualifikationsphase, also in den beiden Jahren vorm Abitur, nicht gebildet werden können, weil Leistungen nicht erbracht wurden - dies gilt im Besonderen für das letzte Kurshalbjahr, das bereits am 5. April 2022 endet. Dann kann dies die Nichtzulassung zur Abiturprüfung nach sich ziehen. Dabei sei es „unerheblich, ob ein Schüler oder eine Schülerin entschuldigt oder unentschuldigt gefehlt hat“. Über diese möglichen Konsequenzen sind die Schülerinnen und Schüler zu informieren.
Zu den Aufgaben der Schulen gehört es in diesem Zusammenhang auch, gegenüber den Schülern darauf hinzuwirken, dass das Praktikum zur Berufsorientierung nicht ausfällt.
Behördenleiter räumen ein, Verunsicherung ausgelöst zu haben
Zum Schluss des umfangreichen Schreibens wenden sich Busses Abteilungsleiter noch einmal direkt an die Schulleitungen und räumen ein, dass sie die Schulbeschäftigten sowie die Eltern mit der so kurzfristig beschlossenen Aussetzung der Präsenzpflicht „verunsichert“ und zusätzlichen schulorganisatorischen Aufwand erzeugt hätten – in einer Zeit, in der alle Kolleginnen und Kollegen ohnehin schon Außerordentliches leisten müssten: „Wir wissen, dass Sie alle am Rand Ihrer Kräfte und schon darüber hinaus gegangen sind“, schreiben die drei Führungskräfte. Ihre Achtung, Respekt, Dank und Wertschätzung gehöre „Ihnen allen“.
Wie berichtet, hatte ein Teil der Elternschaft die Aufhebung der Präsenzpflicht vehement gefordert, um die Ansteckungsrisiken zu verringern. Dieser Teil hatte sich in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzen können, nachdem die Amtsärztinnen und Amtsärzte die Quarantäne für nahe Kontaktpersonen aufgehoben hatten.
Der Verband der Schulpsychologen verurteilte die Abschaffung der Präsenzpflicht wegen der wachsenden Gefahr psychischer Probleme bis hin zu Depressionen bei den isolierten Schülerinnen und Schülern.
„Guter Versuch, die falsche Entscheidung im Nachhinein zu glätten“
Der Brief der Bildungsverwaltung an die Schulen löste am Mittwoch positive, aber auch kritische gemischte Reaktionen aus. Es sei ein „guter Versuch, die falsche Entscheidung zur Aufhebung der Präsenzpflicht im Nachhinein zu glätten“, sagte Ronald Rahmig für die Schulleitervereinigung der beruflichen Schulen. Er begrüßte auch das Vorhaben der Bildungsverwaltung, die neuen Regularien in verständlicher Form in verschiedenen Sprachen für die Eltern auf die Homepage zu stellen.
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Was Rahmig aber beunruhigt, ist, dass bei den beruflichen Schulen etliche Klassen fast komplett dem Unterricht fernbleiben, seit die Präsenzpflicht nicht mehr gilt. Das werde noch dadurch verschärft, dass einige Betriebe und Arztpraxen ihre Auszubildenden infolge der ausgesetzten Präsenzpflicht einbestellt hätten, um erkrankte Beschäftigte zu ersetzen. Das sei ein „Kollateralschaden“.
Auch Sven Zimmerschied vom Sekundarschulleitungsverband bedauerte ausdrücklich die Aufhebung der Präsenzpflicht. „Es werden wieder die falschen Schüler zu Hause bleiben“, sagte er dem Tagesspiegel am Mittwoch. Der Verzicht auf Präsenz sei auch nicht damit begründbar, dass die Amtsärzteschaft am 21. Januar die Quarantäne für Kontaktpersonen aufgehoben habe: Es habe vorher schon keine festen Quarantänevorschriften gegeben. Daher habe es sich nur um eine Präzisierung der Amtsärzte gehandelt. Seines Erachtens war es ein Fehler, dass Busse dem Druck nachgegeben und gegen ihre vorab geäußerte Überzeugung die Präsenzpflicht aufgehoben habe.
"Den Sorgen der Eltern wird Rechnung getragen"
Er "begrüße" die im Brief an die Schulen beschriebenen Einschränkungen der aufgehobenen Präsenzpflicht, betonte am Mittwoch Arnd Niedermöller für die Vereinigung der Oberstudiendirektoren Berlin (VOB). Den Sorgen mancher Eltern vor einer Ansteckung werde Rechnung getragen und ein entschuldigtes Fehlen ermöglicht, gleichzeitig werde ein „Trittbrettfahren“ größtenteils ausgeschlossen.
Positiv sei auch, dass sich die Regelungen "an der Schulpraxis" orientierten und deutlich machten, dass ein Unterricht in Präsenz zu bevorzugen ist, so Niedermöller weiter, der das Lichtenberger Kant-Gymnasium leitet. Was er vermisst, ist einzig eine Präsenzpflicht bei schriftlichen Leistungskontrollen in den Klasse 7 bis 10.
Schulen müssen kein Material auf Plattform hochladen - Kritik von Elternsprecher
Ähnlich äußerte sich für die Grünen deren bildungspolitische Sprecherin Marianne Burkert-Eulitz. Jetzt müsse es darum gehen, dass die Regelungen aus dem Brief der Verwaltung für die Eltern und Schülerinnen sowie Schüler „nachvollziehbar“ kommuniziert würden. Das bisherige „Chaos“ in der Kommunikation zwischen den Senatsverwaltungen für Bildung und Gesundheit sowie den Amtsärzten führe „hoffentlich zu einem Lernprozess“.
Norman Heise vom Landeselternausschuss bedauert, dass Busse die Schulen in dem Brief nicht verpflichtet, Unterrichtsmaterial auf die Lernplattformen hochzuladen. Zudem werde durch das Vermerken der Fehltage auf dem Zeugnis „Druck aufgebaut“, die Kinder zur Schule zu schicken. Heise findet das falsch.
Der Landeselternsprecher betonte aber, dass das Gremium nicht für die Aufhebung der Präsenzpflicht plädiert habe. Vielmehr habe der Landeselternausschuss gefordert, dass Eltern lediglich Anträge auf das Fernbleiben vom Unterricht stellen könnten. Die Schulen hätten dann je nach Situation des jeweiligen Schülers eine Entscheidung für oder gegen eine Präsenzverpflichtung fällen können.