Fußgängerlobby: Berliner Initiative fordert höheres Bußgeld für Gehwegradler
Radfahren auf dem Gehweg spielt in der Berliner Unfallstatistik keine Rolle. Trotzdem will ein Verein das Bußgeld auf bis zu 60 Euro erhöhen. Ist das sinnvoll?
Es wird immer schlimmer. Das hört man oft – aber selten so einhellig wie beim Thema „Radfahren auf Gehwegen“. Senioren berichten, dass sie sich kaum noch vor die Haustür trauen aus Angst, auf dem Trottoir umgefahren zu werden. Eltern haben Angst um ihre Kinder und selbst fitte Gewohnheitsläufer sind hochgradig genervt davon, wie ihnen ihr ohnehin oft nicht üppiger Platz streitig gemacht wird.
Der Boom des Radverkehrs, der mit zunehmend schnellen und leisen Rädern einhergeht, verschärft die Probleme. Auf dieser Gemengelage basiert die kürzlich bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses erhobene Forderung des Fachverbandes FUSS e. V., das Radfahren auf Gehwegen künftig mit 60 Euro zu bestrafen. Bisher kommt man mit 15 Euro davon, sofern man überhaupt erwischt wird. Zeit für einen Blick auf Fakten und Regeln.
Weniger als 0,07 Prozent Unfallquote
In der Unfallstatistik der Berliner Polizei spielt das gefühlte Großthema nur eine winzige Rolle: Von gut 143.000 registrierten Verkehrsunfällen im vergangenen Jahr wurden ganze 99 von Gehwegradlern verursacht – weniger als 0,07 Prozent. Selbst wenn man nur die rund 2600 Unfälle betrachtet, an denen mindestens ein Fußgänger beteiligt war, kommen Gehwegradler auf weniger als vier Prozent.
Den größten Teil „ihrer“ Unfälle verursachen Fußgänger selbst – durch „Missachtung des Fahrzeugverkehrs“ (859 Fälle), gefolgt vom Gehen bei Rot (253) und „plötzlichem Hervortreten“ hinter Sichtbarrieren, überwiegend jenseits von Querungshilfen wie Ampeln, Zebrastreifen und Mittelinseln. In wie vielen Fällen es sich bei jenen Hindernissen um illegal parkende Autos handelt und wie oft der „missachtete Fahrzeugverkehr“ zu flott unterwegs war, verrät die Statistik nicht.
Und bei einem weiteren subjektiven Hauptproblem, dem rücksichtslosen Radeln durch Haltestellen der BVG, sieht die Unfallbilanz ebenfalls harmlos aus: 35 solcher Fälle wurden 2017 registriert. Gemessen an den Unfallhäufungen, die die Polizei vor allem in den dunklen Herbst- und Wintermonaten insbesondere zwischen 16 und 18 Uhr an Werktagen registriert, ist das marginal.
Siegfried Brockmann, der die Unfallforschung der Versicherer (UdV) leitet, erklärt die Diskrepanz zwischen Gefühl und Statistik mit der mutmaßlich großen Dunkelziffer: Während bei Crashs zwischen obligatorisch versicherten Autos meist die Polizei geholt werde, dürften sich nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer oft an Ort und Stelle einigen, sofern niemand schwer verletzt wurde – und sofern der Radfahrer nicht flüchtet, womit er übrigens eine Straftat beginge.
„Ich teile die Diagnose, dass es so nicht bleiben kann“, sagt Brockmann zum Alltag auf den Berliner Gehwegen. „Höhere Bußgelder fände ich super – aber nur, wenn die Verhältnisse gewahrt bleiben.“ Als Beispiel nennt Brockmann das gigantische Gefahrenpotenzial eines Autos, das in der Stadt mit Tempo 70 (oder noch etwas darüber, da die Polizei stets eine Toleranz abzieht) geblitzt wird.
Solange der Fahrer für diesen Verstoß nur 35 Euro zahlen müsse und noch nicht einmal einen Punkt in Flensburg bekomme, „kann es nicht sein, dass Radfahren auf dem Gehweg 60 Euro kostet“, sagt der Unfallforscher. Folglich müsse ein Gesamtpaket her, „zumal die Bußgelder in Deutschland im internationalen Vergleich lächerlich niedrig sind“. Hinzu komme die mangelnde Polizeipräsenz: Wenn man schon so selten erwischt werde, müsse es wenigstens wehtun.
Die Aggression wird durchgereicht
Ein Sonderfall ist die östliche Innenstadt, in der sich die Zahl der erwischten Gehwegradler nach dem Start der polizeilichen Fahrradstaffel 2014 vervierfachte. Seitdem versuchen die 20 Fahrradpolizisten, den Druck zu halten. Oft stehen sie auch an Fußgängerampeln wie vor dem Alexa-Kaufhaus und in der Bernauer Straße, wo viele Radfahrer bei Rot kaum bremsen und permanent Fußgänger gefährden.
„Manchmal kommen wir zu dritt kaum mit dem Aufschreiben nach“, berichtet eine Beamtin – und rückt zugleich den verbreiteten Irrtum zurecht, dass eine auf dem Bürgersteig umkurvte rote Ampel eben nicht als Gehwegradeln zählt, sondern als weitaus teurerer Rotlichtverstoß.
Ein großer Teil der Misere beruht auf Gedankenlosigkeit, mangelnder Empathie und Bequemlichkeit: Nebenstraßen mit Holperpflaster laden ebenso zum Gehwegradeln ein wie Magistralen, auf denen Autofahrer die Radler bedrängen. Die vergessen oder ignorieren dann, dass sie mit Tempo 20 oder mehr auf dem Gehweg für Fußgänger genauso unangenehm sind, wie sie selbst den Autoverkehr empfinden. Während es auf den Straßen der Stadt immer voller wird und die Polizei immer weniger präsent ist, wird die Aggression gewissermaßen durchgereicht bis zu den Schwächsten.
Viele wünschen sich eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder, damit Rowdys nicht unerkannt verschwinden können. UdV-Chef Brockmann hält wenig von dieser Idee: Ohne ein Foto des Radlers oder sehr aufmerksame Zeugen hätte man im Streitfall später auch mit Kennzeichen am Rad kaum Chancen, den Fahrer gerichtsfest zu belangen.
Der Alltag auf Berliner Gehsteigen
Der Ärger folgt auf dem Fuß, wenn sich die Schwächsten im Straßenverkehr auch noch gegenseitig in die Quere kommen. Tagesspiegel-Redakteure haben ihre persönlichen Alltagserlebnisse notiert, die typisch sind für das konfliktreiche Verhältnis zwischen Fußgänger und Radler.
Gelassenheit
Es herrscht Krieg. Auf den Gehwegen, den Radwegen: Krieg. Die zwei schwächsten Teilnehmer im Straßenverkehr sind sich oft spinnefeind. Wer als Radfahrer schon mal – so wie ich – auf dem Bürgersteig gefahren ist, weiß das. „Das ist ein Gehweg, verdammt“, wird da gekeift. Und wer wiederum als Fußgänger – so wie ich – schon mal auf dem Radweg gelandet ist, weiß das auch. „Fahrradweg, du Pfeife“, wird da gezischt.
Dabei spielen die Gründe für das Fehlverhalten keine Rolle. Liegt’s am Kopfsteinpflaster, das Hintern und Hirn malträtiert? Oder will man auf dem engen Gehweg nur jemanden überholen, der sehr langsam geht? Vielleicht hat man die blasse Radwegmarkierung nicht gesehen oder tatsächlich einfach nicht aufgepasst? Egal.
Die verbale Abreibung ist garantiert und der Durchschnittsberliner hält lautstark dagegen, denn Einsicht ist was für Luschen. Verborgene Scham und Ärger werden einfach am nächsten Fußgänger ausgelassen, der es wagt, in 20 Metern Entfernung noch den Radweg zu überqueren. Regeln sind Regeln. Nur bei uns selbst drücken wir ein Auge zu. Wie spießig ist das denn? Dabei könnte es so viel einfacher sein.
Ein bisschen mehr Gelassenheit, mehr Zugeständnisse an uns alle. Rücksichtnahme hilft auch. Und nicht vergessen: Der größte Platzverbrauch und die ärgste Gefahr im Straßenverkehr gehen auf das Konto einer dritten Gruppe. (Angie Pohlers)
Selbstherrlichkeit
Irgendwo muss man anfangen, etwas zu ändern. Mann darf sich nicht alles gefallen lassen. Wie oft schon bin ich in letzter Sekunde zur Seite gesprungen, weil irgendso ein in den Ohren fest verstöpselter Radfahrer mitten auf dem Gehweg ranrauschte und selbstverständlich davon ausging, dass die Fußgänger auseinanderspritzen und Platz machen.
Was mich zunehmend ärgert, ist die Selbstherrlichkeit mancher Radfahrer, die ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie immer im Recht und die besseren Menschen sind, egal, wie viele Verkehrsregeln sie brechen. Leider werden sie von einer starken Lobby dazu noch ermutigt. Also rufe ich den zweirädrigen Verkehrssündern gern mal ein kräftig mahnendes „Gehweg!“ entgegen.
Einmal hat ein junges Mädchen tatsächlich auch etwas schuldbewusst geguckt. Ansonsten ernte ich ausschließlich Hohn und Spott in Gestalt von Antworten wie „Anstalt!“ oder „Hast wohl Stress mit dem Alten“ oder Schimpfworten, die man an dieser Stelle nicht unbedingt wiederholen muss. Männer greifen auch gern auf aggressive Gebärden zurück. (Elisabeth Binder)
Tour de Trottoir
Als Prenzlauer-Berg-Bewohner trete ich nur mit geschärften Sinnen aus der Haustür. Ob eiernde Hollandradlerin oder eiliger Fixiefahrer – alle nutzen das Kopfsteinpflaster als Ausrede für eine Tour de Trottoir (und brabbeln dabei gern noch ins iPhone). Dabei finde ich es als durchaus zumutbar, sich ein paar hundert Meter durchrütteln zu lassen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass bleibende Schäden an Mensch und Technik nicht zu erwarten sind. Allerdings sind Radler auch manchmal gezwungen, sich ins Revier der Fußgänger zu begeben, weil Planer nicht zu Ende gedacht haben. Der Alexanderplatz ist so ein Fall, wo Radwege auch schon mal im Nichts enden – sofern sie überhaupt vorhanden sind. (Björn Seeling)
Abbremsen, bitte!
Ring, ring, nörgel, maul – Hallo, geht’s noch?! Kaum hält der Bus an der Haltestelle, öffnen sich die Türen, heißt es: Nase langsam rausstrecken und vorsichtig nach rechts gucken. Kann nämlich sein, dass ein Radfahrer mit oder ohne Verstand plötzlich heranbrettert, gern lauthals bimmelnd und blökend: „Ööööi! Dit is’n Radweg, du Blinder!“ Gut, „Blinder“ war ausgedacht, aber nicht jedes Wort gehört in den Tagesspiegel.
Gehört jedenfalls in Spandau zum guten Ton, wo es so viele BVG-Busse gibt wie sonst nirgendwo in dieser Stadt, wo Radwege mies und die Laune oft noch schlechter ist. Dabei ist es doch gar nicht so schwierig, auch nicht für jene, die noch nie in die Straßenverkehrsordnung geguckt haben, aber mit ihrem Rad an den engen Haltestellen entlangbrettern, als wäre so ein kombinierter Fuß- und Radweg ihr alleiniger Raum: Beim Ein- oder Aussteigen an einer Haltestelle ist abzubremsen, mindestens. Radfahrer dürfen sogar mal anhalten. Die Fahrradbremse ist am Handgriff zu finden. Ein dankbares Lächeln gibt’s gern gratis zurück. (André Görke)
Rücksicht, bitte!
Eigentlich Zufall oder Schutzengel, dass ich noch lebe! An der Kreuzung Liebknecht- undSpandauer Straße möchte der Fußgänger noch die Straßenbahn der Linie 5 erreichen und schickt sich an, bei Rot über die Gleise zu laufen. Er blickt nach rechts statt nach links und bemerkt in letzter Sekunde, dass ein Straßenbahnzug um die Ecke kommt. Der Fahrer klingelt, ich zucke zurück. Das Blut gefriert in den Adern. Um Haaresbreite wäre es geschehen. Und wer wäre schuld gewesen? Ich, der Unfallverursacher.
Ältere Leute hören, sehen und gehen nicht mehr so gut. Sie stehen noch mitten auf der Straße, wenn die Ampel schon errötet. Jetzt kommt es aufs Verständnis und auf die Gelassenheit und Rücksicht des Autofahrers an. Ein Rambo könnte dich glatt über den Haufen fahren.
Das gilt auch für Fahrradfahrer ohne Kinderstube: Manche fegen auf dem B ü r g e r steig von vorn, von hinten und von der Seite so dicht an Oma und Opa vorbei, dass man schon ganz gut gelaunt sein muss, um nicht loszuschreien: Rowdy! Pfeife! Spinner! Idiotin! und was ähnliche Vokabeln neudeutscher Leitkultur sind. Schon mal was von Herzensbildung gehört? Von Toleranz, Empathie, gegenseitiger Rücksichtnahme? Na bitte, geht doch. (Lothar Heinke)
Sekundenspiel
Vor meiner Haustür geht es steil bergab. Ein richtiger kleiner Berg für Berliner Verhältnisse. Was für ein Spaß! Füße hoch, hinabsausen, sich frei fühlen – wer daran keine Freude hat, hat das Kind in sich verloren. Nur: Was wenn dabei mal eins verloren geht? Schon für Erwachsene ist es gar nicht so einfach, die rasenden Radler im Blick zu behalten, die oben um die Kurve sausen, plötzlich auftauchen mit gefühlt 50 Sachen.
Kinder, die unbedarft aus der Haustür treten, vom Bagger gegenüber abgelenkt, haben keine Chance. Wer bremst, verliert – aber was denn, Sekunden? Ein Wunder, dass noch kein schlimmerer Unfall passiert ist. Denn die Radler unterschätzen die Steigung häufig und fliegen aus der Kurve, verlassen den Radweg, müssen scharf ausweichen.
Auch ich bin leidenschaftliche Radfahrerin, auch ich nehme häufig den Umweg in Kauf, um den Tag mit einer Talfahrt zu beginnen. Doch die Rücksichtslosigkeit mit der einige, viele!, hier herabsausen, lässt mich häufig fassungslos am Radwegrand zurück. Du bist nicht allein auf der Welt, möchte ich jedem einzelnen hinterherbrüllen. Doch da sind sie schon wieder weg, schnell noch bei kirschgrün über die Ampel der vierspurigen Kreuzung im Tal gesaust. Wird schon alles gutgehen, oder? (Anke Myrrhe)
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