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Foto: Tim Brakemeier
© DPA/DPAWEB

Essay zum Valentinstag: Berlin, meine Hassliebe

Für unsere Autorin war die Hauptstadt ein Sehnsuchtsort. Und das Versprechen auf die große Liebe. Was ist geblieben? Ein Bestandsaufnahme zum Valentinstag.

Das erste Mal allein durch Berlin lief ich 1993. Ich trug nur Socken und kam nicht besonders weit, weil meine Mutter mich bald einfing – ich war erst drei Jahre alt und heimlich ausgebüxt. Wir verbrachten damals den Sommer bei einem Freund meiner Mutter, der sich nach der Wende ein kleines Häuschen in Schönow gekauft hatte, ein Ortsteil am südlichen Berliner Stadtrand. Wenn meine Mutter diese Geschichte erzählt, kommt sie nicht ohne ihre Imitation des Urberliners aus, der ihr beim Finden des ausgerissenen Kindes half: „Da drüb’n, da isse lang jelof’n!“ Und natürlich nicht ohne den Hinweis, dass ich schon damals ganz wild darauf war, diese große, aufregende Stadt zu erkunden.

Arm aber sexy

Und sie hat recht, Berlin blieb für mich – wie für so viele – immer ein Sehnsuchtsort, das Heilmittel gegen die verhasste Kleinbürgerlichkeit des süddeutschen Heimatkaffs. Berlin: die Stadt, die nie schläft, in der alles möglich ist. Die Stadt, in der schon David Bowie wohnte und in der Techno groß wurde. Die Stadt mit den nie endenden Partys und der liberalen Drogenpolitik. Aber auch: die Stadt mit einer unfassbaren Geschichte. Die Stadt, die durch eine Mauer in West- und Ost-Deutschland geteilt war. Niedergesungen von David Hasselhoff. Berlin war immer der Gegenentwurf zum spießigen Süden, zu Stuttgart, Karlsruhe oder München. Dreckig und cool, arm aber sexy. Da wollte ich hin, so wollte ich sein.

Die Stadt hat sich verändert

Heute, 25 Jahre nach meinem ersten Ausflug durch Berlin und drei Jahre, nachdem ich endlich dorthin gezogen bin, hat die Stadt einiges von ihrem Mythos und dem Versprechen auf die große Freiheit eingebüßt. Das liegt nicht nur daran, dass aus der Ferne eben alles besser aussieht. Die Stadt hat sich verändert. Heute kann sich hier niemand mehr mit einem durchschnittlichen Gehalt ein kleines Häuschen mieten, auch nicht am Stadtrand. Bundesweit ist in Berlin die Miete im Verhältnis zum Einkommen am höchsten.

Wo es vor zehn Jahren noch ganze Wohnungen für 400 Euro im Monat gab, muss man heute froh sein, wenn man dafür ein WG-Zimmer bekommt, in das ein Bett und ein Schrank passen. Die Clubs, die nie schließen, sind zwar noch immer da, aber eben nicht für jeden.

Um reinzukommen muss man sich nach Wartezeiten von bis zu drei Stunden dem kritischen Blick des Türstehers unterziehen, der entscheidet, ob man cool genug ist, oder nicht. Dabei hilft es, wenn man sexy ist, arm aber sollte man mit Blick auf die Eintrittspreise nicht sein. Neben Wohnungen fehlen der Stadt unzählige Kitaplätze, Lehrer und Angestellte im öffentlichen Dienst. Es gab Zeiten, in denen im Internet Termine beim Bürgeramt verkauft wurden, weil die Wartezeit, um den neuen Wohnort dort anzumelden, zwei Monate betrug.

Campieren vor dem Standesamt

Es gab Zeiten, da campierten Leute vor den Standesämtern, um einen Termin für ihre Hochzeit zu bekommen. Zeiten, in denen Geburts- oder Sterbeurkunden erst nach Wochen ausgestellt wurden. Teilweise ist das auch noch immer so. Permanent gibt es Störungen bei der S- und der U-Bahn und jeder, der schon mal einen Winter in Berlin verbracht hat weiß: Je kälter die Außentemperatur, desto länger die Wartezeit. Das gilt sowohl für die Öffis, als auch für die Clubs der Stadt.

Als ich 2015 nach Friedrichshain zog, war mir all das egal. Die gesprungenen Fenster in meiner Wohnung, die grölenden Partytouristen, der Jugendliche, der montagmorgens allein auf der Parkbank saß und eine Line von seinem Smartphone zog – das alles fand ich charmant. Auf dem 45-Minuten-Weg, den ich täglich zwischen meiner Wohnung und der Uni zurücklegen musste, schaute ich neugierig aus dem Fenster, fest entschlossen, alles aufzusaugen von dieser Metropole, fasziniert von all den Lichtern und Gebäuden und Menschen.

Inzwischen genauso viel Hass

Diese anfängliche Verliebtheit hielt ungefähr ein Jahr. Mittlerweile hege ich zu Berlin eine Hassliebe. Und damit bin ich nicht allein.

Gefühlt geht es allen so, und wenn man bei Google „Berlin Hassliebe“ eingibt, erhält man unzählige Treffer. Wer hier lebt, braucht ein dickes Fell und die Fähigkeit, auch nach 45 Minuten Steckenbleiben in der U8 noch über die BVG-Kampagne mit dem selbstironischen und trotzdem sauunverschämten Slogan „Is’ mir egal“ zu lachen. Wer hier lebt, muss sich mit weiten Wegen, zahllosen Touristen, überfüllten Mülleimern und Behördenchaos abfinden. Der muss sich Witze über einen unfertigen Flughafen und Party-Polizisten beim G20-Gipfel gefallen lassen.

Der Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und der Kolumnist Harald Martenstein schrieben 2017 einen Artikel fürs Zeitmagazin, in dem sie alles aufzählen, was in Berlin schiefläuft. Es ist viel. Berlin sei ins Scheitern verliebt, bilanzieren sie. Und trotzdem: Seit Jahren leben die Autoren in der Stadt, die sie so hassen – weil sie sie eben auch lieben.

Viele Gesichter

Berlin hat viele Gesichter. Wird völlig unterschiedlich wahrgenommen, sowohl von innen, als auch von außen. Der gebürtige Hamburger und später Zugezogene Karl Scheffler veröffentlichte 1910 das Buch „Berlin, ein Stadtschicksal“, in dem er böse über die Stadt herzog. Sie sei „unwirtlich, anmaßend und hässlich“, schreibt er. Zudem sei Berlin eine Kolonistenstadt, die Bewohner nur ein „Haufen materialistisch orientierter Eigenbrötler“, die zu ihrem eigenen Nutzen in die Stadt kämen, aber nichts zu einer positiven Entwicklung dieser beitrügen.

Manch einer wirft das auch heute noch denen vor, die aus England, Spanien oder Amerika hierherkommen, die Stadt als ihren Abenteuerspielplatz benutzen, die liberale Politik und verhältnismäßig niedrigen Preise genießen, die Mieten in die Höhe treiben und dann weiterziehen. Und ja, vermutlich tun sie wirklich weniger für eine stabile Entwicklung der Stadt als diejenigen, die mit dem Willen nach Berlin kommen, zu bleiben. Diese Expats sorgen aber auch mit für eine Öffnung der Stadt, für ein positives Image im Ausland und bei Firmen, die dann Arbeitsplätze schaffen. Ein bisschen spricht bei der Kritik an ihnen auch der Neid darauf, dass diese Menschen es sich leichtmachen, und Berlin es ihnen.

Die Verliebtheit hielt ungefähr ein Jahr.
Die Verliebtheit hielt ungefähr ein Jahr.
© Stephanie Pilick

Freundschaften müssen viel aushalten

Wer sich hier allerdings als Zugezogener langfristig ein Leben aufbauen will, dem macht Berlin es manchmal ganz schön schwer – auch über die bereits erwähnten Schwierigkeiten wie Wohnungssuche und Verwaltungschaos hinaus. Durch die Größe der Stadt, die vielen Einwohner, Partys und verschiedenen Lebensentwürfe wird auch das Privatleben zu einer Herausforderung. Man trifft sich nun mal nicht spontan auf einen Kaffee, wenn man dazu erst 50 Minuten nach Wedding fahren muss. Man kann sich seine Freunde aber nicht danach aussuchen, in welchem Kiez sie wohnen.

Überhaupt: Leute kennenlernen, Freunde finden, ist schwierig in Berlin. Zumindest schwieriger als es für die meisten meiner Generation in Karlsruhe, Nürnberg oder Hamburg war. Bekanntschaften bleiben meist oberflächlich, Verabredungen werden abgesagt oder von vornherein nur unverbindlich getroffen: „Ja, cool, lass bald mal was machen! Ich meld’ mich nächstes Wochenende.“ Diesen Satz habe ich, seit ich hier lebe, unzählige Male gehört und auch selbst gesagt. Er ist nur eine Floskel.

„Hauptstadt der Singles“

Berlin ist auch die „Hauptstadt der Singles“, bundesweit leben hier die wenigsten Menschen mit einem Partner zusammen. Das hat verschiedene Gründe. Die Anonymität der Großstadt, die Fluktuation der Einwohner, der Unwille, sich festzulegen sind nur einige. Das Gute daran: Nirgendwo sonst muss man sich so wenig dafür rechtfertigen, keine klassische Beziehung zu haben oder zu suchen. Berlin ist voll von Sexpartys, frei gelebten Fetischen, von Menschen, die in offenen oder polyamourösen Beziehungen leben, von Kinderlosen. Und wer sich einsam fühlt und sich nach nicht sexuellem Körperkontakt sehnt, der geht auf eine Kuschelparty. Oder ins Katzencafé.

„Groß in der Kleinstadt, klein in der Großstadt“

Was mich persönlich in Berlin am härtesten trifft, ist die Konfrontation mit der eigenen Identität. Mit dem Selbstbild, das ich mir in der spießigen Kleinstadt aufgebaut habe und das in erster Linie daraus bestand, anders zu sein. In meiner Heimatstadt war ich die verrückte Exotin, die Kreative, ich hörte die coolste Musik, trug die coolsten Klamotten, kannte die coolsten Leute. Ich passte da nicht hin, ich passte nach Berlin. Hier musste ich feststellen, dass ich nicht die Einzige mit diesem Selbstbild bin, nicht die Einzige, die in ihrer Heimatstadt besonders cool war. Wir sind jetzt jeder nur einer unter vielen. Die – zugezogene – Berliner Band Kafvka fasst dieses Gefühl präzise zusammen, wenn sie singt: „Groß in der Kleinstadt, klein in der Großstadt.“

Es ist auch erdrückend

Auch das große kulturelle Angebot führt oft zu mehr Frust als Freude. Zwar ist es manchmal ganz schön, zu wissen, dass man etwas tun könnte, wenn man wollte. Gleichzeitig sind die schier unendlichen Möglichkeiten auch erdrückend. Ständig hat man das Gefühl, etwas zu verpassen, wieder eine Ausstellung nicht gesehen, wieder keine Karten fürs Konzert bekommen. Oft überfordert mich das Angebot an Vergnügungen so sehr, dass ich, statt mich zu entscheiden, einfach aufgebe und gar nichts tue.

Das Gefühl, in Berlin das ganze Wochenende nichts Aufregendes gemacht zu haben, ist jedoch ungleich schlimmer als in einer Stadt, in der es sowieso nichts zu tun gibt. Während ich einen Mangel an Rausgehen früher auf Karlsruhe schob, kann ich heute nur mir selbst die Schuld geben.

Soja-Latte aus dem Fernsehen

Natürlich gibt es in Berlin noch unzählige andere Lebensrealitäten. Wie die derjenigen, die in Marzahn-Hellersdorf wohnen. Die dort aufgewachsen sind, noch nie in Charlottenburg waren und Soja-Latte und Berghain höchstens aus dem Fernsehen kennen. Oder die der arabischen Großfamilien in Neukölln. Oder die ganz normaler Familien in Kreuzberg, Reinickendorf oder Mitte. Die beschriebene Sicht auf die Stadt ist nur eine von vielen. Eine, die sich durchaus noch verändern kann – wie die Stadt.

Ob Berlin für immer meine Heimat bleiben wird, weiß ich nicht. Die Rückkehr in die Provinz war jedenfalls nie eine Option. Und ich will ja, dass diese Beziehung funktioniert. Also erkunde ich weiterhin diese große, aufregende und manchmal unheimliche Stadt. Jetzt allerdings mit Schuhen – meistens.

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