Kiezspaziergang mit Thorsten Nagelschmidt: "Woanders ist es noch beschissener als in Berlin"
Bekannt wurde Thorsten Nagelschmidt mit der Punkband Muff Potter. Doch „Nagel“ schreibt auch Romane. Für Berlin empfindet er eine Art Hassliebe.
Berlin kann einem schon mal auf die Nerven gehen. Besonders im Sommer, wenn die Stadt vollgestopft ist mit grölenden Partytouristen, man kaum noch einen Platz auf irgendeiner Wiese findet, geschweige denn in einer netten Bar. Deshalb verbrachte Thorsten Nagelschmidt die vergangenen Monate zum Arbeiten in Brandenburg, in Buckow, da gebe es einen schönen See und Ruhe und kaum Nazis, dafür ein Programmkino.
„Berlin-Koller“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Er hat eine Adresse in der Reichenberger Straße als Treffpunkt gewählt, die Ecke kennt er gut. Nagelschmidt, besser bekannt unter seinem Punknamen „Nagel“, war der Frontmann von Muff Potter. Die Punkband aus Münster fiel durch ihre tiefgründigen deutschsprachigen Texte auf und spielte vor allem später auch ruhigere, poppige Songs. Die Band hat sich bereits vor zehn Jahren aufgelöst, im nächsten Jahr ist aber eine kleine Revival-Tour einschließlich Berlin-Konzert geplant. Heute ist Nagelschmidt hauptberuflich Schriftsteller, hat bisher drei Romane und ein Reisebuch veröffentlicht.
Nagelschmidt ist auffallend gut angezogen: weißes, langärmliges Hemd mit filigranem Blumenmuster, dunkle Stoffhose, spitze Lederschuhe, schicke Sonnenbrille mit dem Logo einer Luxusmarke an den Bügeln. Eine schöne Abwechslung vom sonst in dieser Gegend so beliebten Adiletten-Style, aber nicht ganz das, was man sich unter einem Punkmusiker vorstellt. Allerdings: unter den hochgekrempelten Ärmeln tätowierte Arme, in der Nase ein kleines Loch, in dem sich mal ein Ring befand.
Alte Musik, Träumerei, Nostalgie
Der Schriftsteller führt ins Innere der Kreuzberger Filmkunstbar Fitzcarraldo in der Reichenberger Straße. Sie ist eine Mischung aus Bar und Videothek und einer seiner Lieblingsorte in Berlin. Oben befindet sich die mit Lametta, Lichterketten und Tierprinttextilien vollgestopfte Bar, in der es riecht, wie sich ein Morgen nach zwei Schachteln Kippen anfühlt. Unten die Videothek mit einer großen Auswahl an Filmen, Schwerpunkt Autorenkino, Arthouse und Independent. Begeistert zeigt Nagelschmidt auf die mit DVD-Hüllen prall gefüllten Regale: „Dass sich sowas in Berlin noch hält, ist schon toll.“ Man bekomme hier wirklich die außergewöhnlichsten Filme, erzählt er, und vor allem eine gute Beratung vom Videothekar. Außerdem fänden hier am Wochenende immer tolle Partys statt, bei denen der ganze Laden voll sei und Achtziger-Jahre-Musik laufe.
Alte Musik, Träumerei, Nostalgie: Damit kennt der 42-Jährige sich aus. „Ich war schon nostalgisch, da hatte ich noch gar keine Vergangenheit“, heißt es in Nagelschmidts neuestem Roman „Der Abfall der Herzen“, in dem er zurückreist in den Sommer 1999 nach Rheine, Westfalen, in die verhasste Kleinstadt, in der er aufwuchs. Doch die Versöhnung mit der Heimat bleibt aus. Erst nach persönlicher Einladung vom Bürgermeister sagte Nagelschmidt zu, auf seiner Lesereise im September auch in Rheine aufzutreten.
„Ich empfinde Berlin als eine sehr dumme Stadt“
„Das ist keine Koketterie. Ich merke es körperlich, wenn ich diesem Ort nahekomme. Mir geht es dann nicht gut.“ In Berlin empfinde er zwar nicht diese Beklemmungen, die er in Rheine oder anderen Kleinstädten habe, aber vieles hier mache ihn wütend. „Ich empfinde Berlin als eine sehr dumme Stadt“, sagt Nagelschmidt. „Viele, die Berlin als den Place to Be bejubeln, rauschen hier nur so durch. Sie benutzen die Stadt als ihren Abenteuerspielplatz, kriegen aber gar nicht mit, wie es ist hier zu leben, wenn man nicht alle diese Privilegien besitzt, nicht in die Clubs reinkommt, aus Wohnungen verdrängt wird, sich nichts mehr leisten kann.“
Allerdings, räumt er ein, sei er natürlich auch Teil des Gentrifizierungsprozesses. Mitte der Nullerjahre ist er nach Nord-Neukölln gezogen, dorthin, wo sich heute Bars und hippe Restaurants aneinanderreihen. Damals sei da noch gar nichts gewesen, erzählt Nagelschmidt.
Weiter geht es in Richtung Paul-Lincke-Ufer, vorbei am Buchladen Lesestück in der Ohlauer Straße. Dessen Inhaberin macht den Büchertisch bei „Nagel mit Köpfen“, einer Literaturveranstaltung, die Nagelschmidt regelmäßig in der Fahimi Bar am Kottbusser Tor organisiert. Dazu lädt er Schriftsteller ein, aus ihren Büchern zu lesen und mit ihm darüber zu sprechen. Außerdem überlegt er sich ein paar Programmpunkte, von denen der Gast nichts weiß.
Am liebsten, erzählt Nagelschmidt, lese er Amazon-Kundenrezensionen zu dem Buch vor – vor allem die nicht so guten. Nicht, um den Autoren eins reinzuwürgen, sondern weil er es interessant findet, dass sich Menschen so viel Zeit nehmen, eine ausführliche Bewertung für ein Buch zu schreiben, das ihnen nicht gefallen hat. „Es geht mir bei der Veranstaltung aber auch darum, den Literaturbetrieb von seinem Sockel zu holen. Immer dieser Hochkulturquatsch, da muss man mal gegenarbeiten. Entertainment muss ja nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein.“
Kein Grund wegzuziehen
Weiter zum Kanal, an den Bouleplätzen vorbei, wo der Protagonist in Nagelschmidts zweitem Roman „Was kostet die Welt“ oft auf einer der Bänke sitzt und nachdenkt, beobachtet, Bier trinkt, manchmal schläft. Auch hier BerlinKoller, auch hier großes Thema: das Leben in der Kleinstadt. Zwar nicht die, aus der der Autor selbst kommt – aber eben eine, die exemplarisch für all das steht, was so viele dazu bewegt, aus Reutlingen, Pforzheim oder Rheine nach Berlin zu ziehen. Die Enge, die gefühlte Unfreiheit, die Vorurteile gegenüber denen, die anders denken, anders aussehen, andere Musik hören. Die Spießigkeit, die Kleingeistigkeit.
Deshalb könne er sich auch nicht vorstellen, bald ganz aus Berlin wegzuziehen, sagt Nagelschmidt. „Es gibt natürlich Gründe, warum ich hier wohne: die vielen Freiheiten, dass man nicht von jedem auf der Straße dumm angeschaut wird. Dass es hier noch sowas wie die Filmkunstbar gibt. Das Problem ist ja: Woanders ist es noch beschissener als hier.“ Er geht weiter am Wasser entlang, nun auf Neuköllner Seite, hin zur Lohmühlenbrücke. Am sogenannten Dreiländereck, wo sich Treptow, Neukölln und Kreuzberg treffen und wo man den Touristenschiffen dabei zuschauen kann, wie sie in den Sonnenuntergang fahren, sagt er dann doch: „So schlecht ist es hier ja gar nicht.“
Lesung „Abfall der Herzen“: 19. September, Pfefferberg Theater. „Nagel mit Köpfen“: 1. Oktober, Fahimi Bar, Skalitzer Straße 134. Konzert von Muff Potter: 26. Januar, Festsaal Kreuzberg.
Jana Weiss