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Frühling in Berlin - und so eine schöne Stadt soll nicht mehr hip sein?
© Kai-Uwe Heinrich

Hauptstadt-Hype - schon vorbei?: Berlin ist nicht "over", sondern wird erwachsen

„Berlin is over“, schrieb vor zwei Wochen ein Blogger für "Gawker". Und plötzlich ist die Aufregung groß. Aber stimmt das wirklich? Und wer will das eigentlich wissen? Vielleicht ist die Wahrheit viel einfacher.

Auf die Kreuzung hat jemand Farbe gekippt. Pink, weiße Schlieren. Wird nur nicht ganz klar, wieso. Es könnte sich wieder um eine Kunstaktion handeln, vielleicht sind aber auch bloß Eimer vom Laster gefallen. Das Café an der Ecke wirkt dieses Jahr fremd: Ach ja, die haben jetzt Tische und Stühle aus ramschigen Paletten vor die Tür gestellt. Sieht schön szenig aus.

Das wäre nicht ungewöhnlich, stünde das Café zum Beispiel unten an der Torstraße. Aber hier weiter oben, wo sich Brunnenstraße und Bernauer treffen, direkt an der Grenze zu Wedding? „Man sieht, es geht los“, sagt Tim Krannich.

Meistens weiß er ziemlich genau, in welchen Straßenzügen gerade etwas losgeht. Das ist sein Job. Tim Krannich, 33, kurze Haare, Collegejacke, ist Chef der Live-Marketing- Agentur „Spreefreunde“. Die vermittelt Kunden Orte, an denen sich in Berlin gut feiern, konferieren oder etwas präsentieren lässt. Ihre Auftraggeber sind in der Regel Firmen, deutsche Mittelständler oder internationale Konzerne. Und es gibt viele, die nach Berlin wollen.

Als Betreiber einer solchen Agentur ist man ständig auf der Suche nach neuen, aufregenden Orten. Und auf Empfängen oder bei Abendessen, bei denen über solche Orte geredet wird. Auch über Straßenzüge, die von Berlinern und Berlin-Besuchern noch nicht verinnerlicht wurden. Die noch nicht gelernt wurden, heißt das im Branchenjargon.

Dieser untere Teil der Brunnenstraße jedenfalls, vom Rosenthaler Platz bis hoch zur Bernauer Straße, nur einen Steinwurf vom trubeligen Berlin-Mitte-Leben entfernt, der werde demnächst ganz sicher gelernt, sagt Krannich. Das weiß er, weil er von diversen Restaurants und Bars weiß, die hier bald eröffnen. Deren Verträge teilweise schon unterschrieben sind. Vorzeichen gibt es: In einer Seitenstraße hat das „Ula“ aufgemacht, ein schicker Japaner. Noch wirkt der hier wie ein Fremdkörper.

Und da drüben auf der anderen Straßenseite, der Laden mit den Billig-Matratzen, wird der sich halten können? „In fünf Jahren ist der wohl nicht mehr da“, sagt Krannich.

Tim Krannich von der Agentur „Spreefreunde“ an der Ecke Brunnenstraße/Bernauer Straße.
Tim Krannich von der Agentur „Spreefreunde“ an der Ecke Brunnenstraße/Bernauer Straße.
© Björn Kietzmann

Wie sich diese Stadt verändert und in welchem Tempo, ob das jetzt gut oder schlecht ist und wenn ja: für wen, darüber wird in diesen Tagen viel gestritten. Besonders seit mehrere US-Medien das Ende des Berlin-Hypes prophezeit haben sollen. In Deutschland hat das zu heftigen Reaktionen geführt. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Berlin is over“. Mit der Cool- und Hipness sei jetzt definitiv Schluss, es hat sich ausgetrendet, schrieben andere. Wenn man Tim Krannich fragt, was er von diesen Hiobsbotschaften hält, ob Berlin tatsächlich over ist, dann grinst der nur und sagt:

„Lassen Sie uns doch eine Cola trinken.“

Dass ein Hype irgendwann mal vorbei sein muss, liegt in seiner Definition. Trendforscher stellen sich das gern als Parabel in einem Koordinatensystem vor: steiler Anstieg, bisschen ausruhen auf dem Höhepunkt, dann der rasante Fall. What goes up, must come down.

Die Zahlen sprechen eine gegenteilige Sprache. Berlin wächst stetig. Netto 50 000 Menschen hat die Stadt im vergangenen Jahr dazugewonnen. Gleichzeitig wird ein Besucherrekord nach dem anderen vermeldet, 2013 waren es fast 27 Millionen Übernachtungen, in diesem Jahr wird mit weiteren acht Prozent Wachstum gerechnet. Wie kann da einer wissen, dass der Trend gerade jetzt zu Ende geht?

Vielleicht hilft es, sich anzuschauen, woher genau die schlimmen Nachrichten kommen. Die Parole „Berlin is over“ hat vor zwei Wochen das populäre US-Blog „Gawker“ in die Welt gesetzt, von dort zog es Kreise. Gawker ist eine ausgewiesene Quatsch-Seite. Aktuell berichtet sie über implantierbare Orgasmus-Maschinen, ein niedliches Pantherbaby aus Florida und eine betrogene Ehefrau, die aus Rachsucht Nacktbilder ihres Gatten im Supermarkt aushängt. Der Autor des „Berlin-is-over“-Beitrags ist kein Stadtentwicklungs- oder Tourismusexperte, sondern ein 28-jähriger Blogger aus Brooklyn. Genau genommen besteht sein Text aus lediglich acht Sätzen. Acht Sätze, die in Deutschland Furcht verbreiten.

Die "New York Times" unkt? Von wegen!

Tim Krannich von der Agentur „Spreefreunde“ an der Ecke Brunnenstraße/Bernauer Straße.
Tim Krannich von der Agentur „Spreefreunde“ an der Ecke Brunnenstraße/Bernauer Straße.
© Björn Kietzmann

Tim Krannich trinkt seine Cola in den Büroräumen der „Spreefreunde“. Eine sanierte Hinterhof-Fabriketage in der Marienburger Straße in Prenzlauer Berg, das ganze Haus ist eine einzige Kreativschmiede, hier arbeiten Werber, Projektmanager, Verleger und Modeschöpfer, und alle sind mit Durchgangstüren miteinander verbunden. Im Konferenzraum steht ein Flipchart, aber keine Angst, Tim Krannich möchte jetzt keine Hype-Parabel aufzeichnen. Er will lieber von der Entwicklung der Stadt erzählen, so wie er sie wahrnimmt durch seine Arbeit, der ständigen Suche nach Locations und deren Vermittlung.

„Dass sich Berlin verändert“, sagt er, „lässt sich nicht leugnen.“ Es werde nämlich langsam erwachsen. Und je mehr sich die inneren Viertel entwickeln, je mehr Investoren hier agieren, desto schwerer haben es naturgemäß die charmestiftenden Künstler, die in Mitte eben keine Galerieräume für vier Euro pro Quadratmeter mehr finden. „Aber das geschieht in einem Rahmen, der mich gelassen bleiben lässt.“ Kein Vergleich etwa zu Barcelona, das sich in den vergangenen zehn Jahren ähnlich stark entwickelt habe, aber viel teurer sei. „Das ist auch ein Grund, warum uns Kunden beauftragen, nach einem passenden Ort für ihre Veranstaltung in Berlin zu suchen. Würden sie die in Barcelona abhalten, hätten sie 25 Prozent mehr Kosten.“

Tim Krannich ist in Kreuzberg geboren, hat vor 15 Jahren als Partyveranstalter angefangen. Bei seiner ersten war er eigentlich noch zu jung, um überhaupt als Gast dabei sein zu dürfen. Durch die Jahre in der Szene kennt er haufenweise Künstler, das kommt ihm jetzt zugute, denn seine Agentur entwirft auch Konzepte, was an den vermittelten Orten alles geschehen kann. Künstlerauftritte zum Beispiel. Krannich ist sich sicher: Die Kreativen werden in der Stadt auch künftig ihren Platz finden, sie werden weiterexistieren – schon deswegen, weil sie laut genug sind, um energisch für ihre Interessen einzustehen. Exakt dieser Spagat müsse der Stadt gelingen: „dass Berlin seine Entwicklungschancen nutzt und gleichzeitig seinen Markenkern bewahrt“. Dass die Stadt ein authentischer Ort bleibe, in dem Trends entstehen, bloß halt in einem entwickelten Rahmen.

Als weiteres Indiz, dass es mit Berlin jetzt bald abwärtsgehe, musste in den vergangenen Tagen ein Artikel der „New York Times“ herhalten. Wer sich auf ihn beruft, kann ihn im Grunde nicht gelesen haben, der Text ist eine einzige Huldigung des trendigen Berlins, seines Charmes und seiner Möglichkeiten. Und er beschreibt anschaulich, dass es in Berlin derart angenehm zugehe, dass sich sogar die Bohemiens aus Brooklyn hier wohlfühlten. Genau das bewog den Kollegen der Internet-Plattform Gawker, der selbst in Brooklyn lebt, zu seiner launigen „Berlin-is-over“-These. Nach dem Motto: Wenn schon Menschen wie ich Berlin lieben, muss es ja bald vorbei sein mit dem Hype.

Aber Moment. Da ist noch die alarmierende Studie, die angeblich herausgefunden hat, dass Berlin ab sofort nicht mehr die coolste Stadt der Welt sei. Diese Studie gibt es tatsächlich, die Organisation „Youthfulcities“ hat sie vergangenes Jahr – übrigens erstmalig – durchgeführt. Ergebnis: Berlin liegt hinter Toronto, aber vor New York, London, Paris und 20 anderen Städten auf dem zweiten Platz. Man könnte diese Nachricht als Sensation verkaufen. Als Beleg für einen Abschwung taugt sie definitiv nicht.

Vor vier Jahren gab es schon einmal ein Ranking, das Berlins Standortanalysten flattrig machte: Damals aktualisierte die britische Fachzeitschrift „DJ Mag“ ihre jährliche Liste der „100 besten Clubs der Welt“. Das Berliner „Berghain“ stehe nun nicht mehr auf Platz eins, sondern nur noch auf Platz acht, teilte das Blatt mit. Und bereitete Menschen Kopfzerbrechen, die vorher noch nie in ihrem Leben von irgendeinem „DJ Mag“ gehört hatten.

Wenn ein derart irrelevantes Ranking Berlin in Panik versetzen kann, muss man dann nicht eher fragen, was das über Berlin und seine Bewohner aussagt?

Die Sache mit Londons Bürgermeister

 krrr-klock, krrr-klock, krrr-klock, krrr-klock, krrr-klock.. Der Sound der Großstadt! Oder nur der Sound der Rollkoffer?
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© Kai-Uwe Heinrich

„Wahrscheinlich, dass wir vor Ort in Berlin näher dran sind und genauer hinsehen“, sagt Tim Krannich. Und sehr wohl Dinge erkennen, die Besorgnis erregen, auch wenn sie von außen gar nicht wahrnehmbar sind. Nutzungskonflikte, Detailstreitigkeiten, kollidierende Interessen. Und die negativen Begleiterscheinungen von Aufwertungsprozessen so ernst nehmen, wie es angebracht ist. Auch wenn man in London oder New York darüber nur lachen würde.

Olaf Kretschmar, Chef der „Berlin Music Commission“, des Zusammenschlusses verschiedener Unternehmen der Musikwirtschaft, hat konkrete Pläne, wie man gegensteuern könnte. Wenn Gentrifizierung schon unvermeidlich sei, könne man den Prozess wenigstens durch Einführung einer Kulturabgabe abfedern: Investoren sollten bei Wertsteigerungen ihrer Immobilien einige Prozent davon abgeben. Das Geld könne dann dem kreativen Umfeld zugutekommen, das für die Wertsteigerung schließlich mitverantwortlich sei. „Identität kann man eben nicht kaufen“, sagt Olaf Kretschmar.

Dass aufgeregte Wasserstandsmeldungen über den Berlin-Hype oft wenig fundiert sind, gilt aber umgekehrt auch für viele der Jubelorgien, die sich regelmäßig über die Stadt ergießen. Zum Beispiel die Sache mit Boris Johnson. Vergangenen Juli hat Londons Bürgermeister Berlin besucht und anschließend einen lobenden Artikel in der britischen Zeitung „The Telegraph“ veröffentlicht, der allgemein als euphorische Liebeserklärung an die Stadt gedeutet wurde und wochenlange Diskussionen darüber nach sich zog, was die präzise Analyse jetzt für den Verlauf der Berlin-Hype-Kurve bedeute.

Man hätte sich vermutlich weniger aufgeregt, wäre bekannt gewesen, wie dieser Text zustande kam: Johnson war samstagnachmittags auf der Tucholskystraße in Mitte von einer fremden Frau angesprochen worden, als er gerade aus der Kneipe kam. Ob er nicht Londons Bürgermeister sei, fragte die. Ja schon, antwortete der, und im Übrigen suche er eine Möglichkeit zum Bargeldabheben. Arg planlos habe er gewirkt, sein Hemd hing halb aus der Hose, erinnert sich die Frau heute. Also zogen sie gemeinsam los und suchten einen Automaten. Johnson schwärmte davon, wie herrlich Berlin sei, allein wegen der ganzen Fahrradfahrer hier, und dass er sicher herziehen würde, wenn er noch mal 25 sein könnte. Die Frau entgegnete, dass es aber schwer sei, einen Job zu finden. Dass viele Akademiker als Kellner arbeiten müssten. Hoch interessant fand Boris Johnson das, er wollte noch mehr wissen, zum Beispiel, warum es denn so wenig Industrie in Berlin gebe, wie hoch das Bevölkerungswachstum sei. Die Straßenbekanntschaft gab nach bestem Wissen Auskunft, schickte noch ein paar SMS hinterher. Und fand ihre Ausführungen ein paar Tage später detailliert im „Telegraph“ wieder.

Der Autor des „Berlin is over“-Artikels amüsiert sich inzwischen über die hysterischen Reaktionen auf seinen Text aus Deutschland. In einem Statement, das doppelt so lang ist wie der ursprüngliche Artikel, rechtfertigt er sich: Er habe doch akribisch recherchiert und die hohen Qualitäts-Standards seiner Ulk-Seite Gawker eingehalten! Die hat sich inzwischen einem neuen Trend gewidmet: Katzen, die ihren Kopf durch Brotscheiben stecken und dann fotografiert werden. „Breading“ heißt das.

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