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Verschiedene Bürgerinitiativen demonstrierten am Dienstag auf dem Kudamm für eine Schließung des Flughafens Tegel.
© dpa

Tegel-Volksentscheid: Berlin hat eine seltene Chance

Die Schließung von Tegel würde es Berlin ermöglichen, seine Mitte neu zu finden und zu erfinden. Das ist überfällig - denn die Stadt entwächst sich selbst. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Wer hätte das gedacht? Berlin kann auch durchstarten, wenn es um Flughäfen geht. Voller Emotionen diskutiert die Stadt über den Weiterbetrieb des City-Airports in Tegel, der am Sonntag parallel zur Bundestagswahl zur Volksentscheidung steht.

Mit starken Argumenten und heißen Herzen wird etwa darüber gestritten, wie viel Lärm mitten in der Stadt (oder an ihrem Rand) für Menschen zumutbar ist – eine Debatte, bei der sich die Politik zu lange taub gestellt hat. Es geht endlich auch vor den Kulissen des BER-Dauerdesasters um die Unzuverlässigkeit von politisch gewollten Eröffnungsterminen und voreilig verkündeten Schließungsbeschlüssen. Selbst wenn das dem rot-rot-grünen Senat nicht passt: Wenn am Sonntag über den unter seiner Fluglast ächzenden, aber zählebigen Airport abgestimmt wird, denkt die Bevölkerung die unendliche und unendlich teure Baustelle am Südstadtrand mit.

Denn es ist ja ein trauriges Paradoxon: Trotz seiner weltweiten Attraktivität verspürt Berlin heftige Schmerzen im Drehkreuz und muss erleben, wie mit Air Berlin sein wichtigster himmlischer Botschafter am Boden zerschellt. Berlins politisch versteuerte Flughafenpolitik ist es längst. Das alles macht das Volksvotum, welches die FDP zur eigenen politischen Wiedererweckung betrieben hat, eigentlich ziemlich einfach. Aber es geht am Sonntag um viel mehr als die in gescheiterten Plänen festhängende Gegenwart: Zur Abstimmung steht die Zukunft Berlins und nicht weniger als die Frage, wie die wachsende Hauptstadt sich selbst und ihren immer knapper werdenden Platz sortiert.

Michael Müller hat schon Recht

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat schon recht, wenn er von einer „Abstimmung über die nächsten 30 Jahre Stadtentwicklung“ spricht. Den Berlinerinnen und Berlinern scheint das mehr und mehr bewusst zu werden, wie auch die immer knapper werdenden Umfragen belegen. Bei der Tegel-Debatte des Tagesspiegels in der Urania erntete Müller für seine Einschätzung jedenfalls den meisten Applaus. Denn Tegel ist eine seltene Chance für Berlin: in der Innenstadt auch ohne Flughafen abzuheben.

Und im Gegensatz zum weiten Tempelhofer Feld, das sich das Volk lieber als Fläche zum Durchatmen eroberte, hat der Senat diesmal ein schlüssig wirkendes Konzept für die Zeit danach: Ein Geschäfts-, Wissenschafts- und Wohnviertel kann in Tegel entstehen – mit neuen Arbeitsplätzen und Wohnungen. Nur erschwinglich müssten die sein, und garantiert müsste das werden. Doch im Kern ist der Ansatz, die Stadt aus sich heraus selbstbestimmt weiterzuentwickeln, ganz richtig. Warum draußen auf der grünen Wiese bauen, wenn es drinnen eine große Wiese gibt? Eine Idee, die eigentlich auch von der Start-up-FDP kommen könnte.

Berlin muss großstädtischer denken und planen

Das Tegel-Thema bringt es zutage: Berlin kann bei seiner Stadtentwicklung nicht mehr im kiezigen Kleinklein und im egoistischen Mein-Mein stecken bleiben, sondern muss großstädtischer denken und planen. Auch die Berliner selbst können der offensichtlichen Entwicklung zur Weltmetropole nicht mehr entkommen.

Dafür braucht es natürlich funktionierende Flughäfen (also noch lange Tegel), mehr bezahlbare und gut erreichbare Wohnungen – und neue Ideen, wie Berlin mangels Großkonzernen aus sich selbst heraus wirtschaftlich wachsen kann. Tegel kann dafür ein gutes Labor sein; aber nicht dauerhaft als Flughafen. Auf 461 Hektar Fläche, doppelt so groß wie der Große Tiergarten, hat eine sich selbst entwachsende Stadt die Chance, ihre Mitte neu zu finden und erfinden. Vorausgesetzt natürlich, die Pläne dafür halten der Realität und den Bauvorschriften stand.

Es ist also eine ganz große und deshalb ganz einfache Frage, die am Sonntag beim Tegel-Volksentscheid zur Abstimmung steht: Will Berlin bequem aus der Innenstadt in alle Welt starten, oder will es die Welt für neue Ideen in seinem Zentrum begeistern? Und sich dabei selbst neu entdecken: als Metropole von Welt.

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