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Judith Langowski fühlt sich "kulturell mehr ungarisch als deutsch". Sie lebt in Berlin.
© Mike Wolff

Ungarn: Partnerland der Grünen Woche: Berlin als Sehnsuchtsort für junge Ungarn

Viele junge Ungarn lassen ihr Land hinter sich und kommen an die Spree - einige auch aus politischen Gründen. Sie blicken mit Sorge auf die Entwicklung ihres Landes unter Orbán.

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Die Grüne Woche beginnt, Partnerland ist Ungarn, das gerade wieder Schlagzeilen macht. Dorthin pflegt Berlin ein besonderes Verhältnis. Eines, zu dem Fluchten gehören, Sehnsüchte, Schlenkis und Pál Dárdai. Wir waren der ungarischen Küche auf der Spur oder überlegen, warum DDR-Bürger gerne nach Ungarn gefahren sind. Für diesen Text haben wir mit jungen Ungarn in Berlin gesprochen.

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"Total scheiße", "hoffnungslos", "eine ständige Kakofonie" – es sind harte Worte, die junge Ungarn in Berlin verwenden, wenn sie über die Politik in ihrem Heimatland sprechen. Es sind auch die Gründe, warum viele von ihnen nach Berlin kommen. Hier verdienen sie nicht nur viel mehr als in Ungarn. Sie können auch ein freies Leben führen.

Judith Langowski sitzt in einem Café in Schöneberg. Sie gehört zu der Gruppe, aber irgendwie auch nicht. Ihre Mutter ist Ungarin, sie selber ist in Deutschland aufgewachsen. "Kulturell fühle ich mich trotzdem mehr ungarisch als deutsch", sagt sie. Die 25-jährige Journalistin ist mit ungarischen Volkstänzen groß geworden, hat ihren Master in Gender Studies an der Universität in Budapest gemacht, war dort politisch aktiv. Sie schreibt von Berlin aus für ein unabhängiges ungarisches Online-Magazin. Sie beobachtet, dass viele junge Ungarn ihrem Land den Rücken kehren, weil sie genug haben von den undemokratischen Transformationsprozessen, die unter Premierminister Victor Orbán in den letzten sechs Jahren stattgefunden haben.

In Berlin kann jeder machen, auf was er Lust hat

Diese Beobachtung macht auch Christian-Zsolt Varga: „In den letzten drei Jahren sind sehr viele junge Ungarn nach Berlin gekommen.“ Wenn er vorher an ungarischen Treffpunkten wie dem Szimpla-Kaffeehaus war, hat er dort vielleicht einen oder zwei andere Ungarn getroffen. "Heute sind es 50", sagt der 30-Jährige. Tatsächlich waren laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zum 30. Juni 2016 insgesamt 5397 Menschen mit ungarischer Staatsangehörigkeit offiziell in Berlin gemeldet, das sind 1335 mehr als noch Ende 2013. 925 von ihnen sind zwischen 15 und 45 Jahre alt.

Christian-Zsolt Varga hat beobachtet, dass immer mehr junge Ungarn nach Berlin kommen.
Christian-Zsolt Varga hat beobachtet, dass immer mehr junge Ungarn nach Berlin kommen.
© Privat

Varga hat das Gefühl, dass die Ankommenden ihre aktivistischen Hoffnungen zu Hause lassen und sich von Berlin aus nicht mehr groß mit ungarischer Politik beschäftigen. Es habe ein Normalisierungsprozess stattgefunden, wie ihn der Osteuropa-Experte mit ungarischen Eltern auch für die Zeit nach Trumps Amtseinführung in den USA erwartet. "Als das mit Orbán anfing, hieß es noch: Hey, wir müssen was tun! Mittlerweile ist die Stimmung abgeflaut, auch bei mir." Der Tiefpunkt war für Varga erreicht, als die ungarische Regierung im Frühjahr 2015 eine Hasskampagne gegen Flüchtlinge startete. Mit großen Plakaten wurde damals Stimmung gemacht. Davon hätten ungarische Exilanten genug, glaubt Varga. "In Berlin machen sie jetzt einfach das, worauf sie Lust haben."

Hoffnungslose Politik, gleichgültige Bürger

Frau sein zum Beispiel. Blanka Vay war noch ein Mann, als sie vor drei Jahren nach Berlin kam. Mittlerweile lebt die 37-Jährige als Frau. In Budapest arbeitete sie als Sprecherin für verschiedene Nichtregierungsorganisationen, darunter Greenpeace. Sie organisierte Aktionen mit Obdachlosen und Hausbesetzungen. In Berlin ist sie Fahrradkurier für einen Essenslieferdienst. Bei einer Wohnungsauflösung fand sie Frauenkleidung, zufällig in ihrer Größe. Sie probierte sie an – „es war eine Einbahnstraße“, sagt sie heute.

Anfangs hielt sie es für eine Phase, doch als sie bei einer Beratungsstelle für transsexuelle Menschen gefragt wurde, wie sie morgens aufwachen würde, wenn sie frei von Angst wäre – ob als Frau oder als Mann –, da fing sie an zu weinen. Als Frau, das war ihr in dem Moment klar. „Überraschenderweise werde ich auch in Ungarn als Frau akzeptiert. In Berlin sind die Menschen aber aufgeschlossen, in Ungarn gleichgültig“, sagt Vay.

Die Ungarin Blanka Vay war noch ein Mann, als sie vor drei Jahren nach Berlin kam.
Die Ungarin Blanka Vay war noch ein Mann, als sie vor drei Jahren nach Berlin kam.
© Privat

Zurück will sie trotzdem nicht. Die Politik sei hoffnungslos, den Menschen mittlerweile alles egal. Außerdem verbietet die Regierung Transmenschen, auf dem Personalausweis das Geschlecht und den Namen zu ändern. Vay hat Angst, sollte sie wegen ihrer politischen Aktivitäten in Haft müssen, womöglich in ein Männergefängnis zu kommen. „Das bedeutet für Transfrauen oft Vergewaltigung und Tod.“ Ihre Freunde, die noch in Ungarn leben, wollen bis zur nächsten Wahl warten. Wird Orbán 2018 wieder siegen, werden wohl auch sie das Land verlassen.

Vieles verbindet Budapest und Berlin

Gábor Letenyei sieht das ein bisschen anders. Als im August 2015 tausende Flüchtlinge im Budapester Bahnhof strandeten, saß er in Friedrichshain vor dem Fernseher und guckte die Tagesschau. Er ist enttäuscht. "Dass es zu dieser Zeit auch schon Ungarn gab, die Flüchtlingen geholfen haben, wurde überhaupt nicht gezeigt." Wer noch nie in Ungarn war, könne denken, das Land sei voller Rassisten. Ist das die Schuld von Orbán? "Um die Wirtschaft hat er sich verdient gemacht, aber dass er keine starke Opposition zulässt, ist schlecht für das Land", glaubt der 34-jährige Ökonom, der vor zweieinhalb Jahren für ein Praktikum an die Spree kam, danach einen Job fand und blieb. Links oder liberal sein, wie Letenyei es ist – in Ungarn schwierig. '"Da wird dir von den Alten gleich vorgeworfen, du seist Kommunist und wüsstest gar nicht, wie schlimm es unter denen gewesen sei." In Deutschland sei er offener geworden.

Und warum Berlin? "Das ist eine osteuropäische Stadt, hier fühlen wir uns zu Hause", sagt Vay. Die gemeinsame Geschichte, die Spuren des Sozialismus, auch in der Architektur, die Subkultur, auch die geografische Nähe – vieles verbindet Budapest und Berlin. Doch die Unterschiede sind es, die Letzteres zum Sehnsuchtsort für junge Menschen weltweit machen. "Berlin ist viel internationaler, vielleicht sind dadurch die Menschen aufgeschlossener", sagt Judith Langowski. Dennoch vermisst sie Ungarn: "Budapest ist halt wunderschön", sagt sie und lacht laut.

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