Das geschah am 21. April 1945: Als die Rote Armee nach Berlin kam
Am 21. April 1945 überschritten sowjetische Truppen die Stadtgrenze. Wo genau, ist umstritten. Eine Spurensuche.
„Na Berlin – Pobeda“ prangt in kyrillischen Lettern an der östlichen Giebelwand des Hauses Landsberger Allee 563, eines um 1900 entstandenen, denkmalgeschützten Wohngebäudes. Offenbar ungenutzt und etwas verwahrlost wirkt es zwischen den Plattenbaugebirgen Marzahns ziemlich verloren.
Die kleine Grünanlage daneben ist kaum noch als der Ehrenhain erkennbar, als der sie im Mai 1985 von Thälmann- und Lenin-Pionieren angelegt wurde. Auch die zwei schlappen roten Nelken vor der Giebelwand, erst recht ein verdorrter, im Gebüsch entsorgter Blumenstrauß passen nicht zu der heroischen, mit einem Sowjetstern geschmückten und um das Datum „21. April 1945“ ergänzten Inschrift. Ein zweiter Stern aus roten Zementplatten ziert den verlassenen Parkplatz.
„Nach Berlin – Sieg“. Das öde Haus ist ein Ort des Gedenkens, wie auf vier Schrifttafeln erläutert wird: „Auf dem Weg der Befreiung Berlins vom Hitlerfaschismus hissten Sowjetsoldaten in Berlin–Marzahn die Rote Fahne des Sieges.“ Das Haus galt zu DDR-Zeiten als das erste in Berlin, das von der Roten Armee befreit worden war – eine von Lokalhistorikern mittlerweile stark bezweifelte Sicht.
Warum hätten sich die sowjetischen Soldaten auf dem Weg nach Westen gerade dieses Gebäude aussuchen sollen und nicht weiter östlich gelegene, die es vor dem Bau der Marzahner Großsiedlung in den siebziger und achtziger Jahren auch noch gab?
Und war es überhaupt Marzahn, wo sowjetische Soldaten erstmals Berliner Stadtgebiet betraten? Über den Vormarsch einer kämpfenden Armee wird kaum akribisch Buch mit punkt- und zeitgenauen Angaben geführt. Die Fehlergefahr bei der Überlieferung ist hoch, und auch Zeitzeugen können irren, zumal wenn die Geschehnisse Jahrzehnte zurückliegen.
Eine Zeitzeugin erinnert sich
In Chroniken oder entsprechenden Informationen, wie man sie im Internet findet, wird eher der nördlich von Marzahn im Bezirk Lichtenberg gelegene, noch immer dörflich geprägte Ortsteil Malchow genannt. Hier, auf der heutigen Bundesstraße 2, seien am 21. April 1945 die ersten Russen ins Stadtgebiet vorgedrungen, berichtete auch vor fünf Jahren Irene T., eine betagte Dame, die das miterlebt hatte, einem Reporter des Tagesspiegels. In Marzahn seien die Russen erst Stunden später gewesen.
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Es waren Soldaten der aus Nordosten auf Berlin vorrückenden 1. Weißrussischen Front unter Marschall Georgi Schukow, während die 1. Ukrainische Front unter Marschall Iwan Konew in einer Zangenbewegung aus Südosten angriff. Auf der heute viel befahrenen Dorfstraße – sie heißt auch so – waren Panzersperren aufgestellt worden, gegen den Ansturm halfen sie nichts. „Der Taifun stupste die Stahlstangen nur an, und schon stand die Spitze der endlosen Kolonne im Dorf“, erzählt die Zeitzeugin.
Um 12 Uhr seien die ersten Panzer Richtung Berliner Innenstadt vorbeigerollt, „Malchow war damit der erste besetzte und befreite Berliner Ortsteil.“ Mit dem sich die Russen aber nicht lange aufgehalten hätten. Nennenswerten Widerstand habe es nicht gegeben, die Armee habe es eilig gehabt, ins Stadtzentrum vorzustoßen.
Der Bezirk Weißensee, zu dem Malchow damals gehörte, sei praktisch kampflos aufgegeben worden, ein von der Wehrmacht aufgebauter Abwehrring fand sich erst auf Höhe der heutigen S-Bahnstation Greifswalder Straße.
Die russischen Soldaten waren aus Norden vom Berliner Ring her über die alte Reichsstraße 2 gekommen. Das damals erste Haus hinter dem Ortseingang gibt es noch immer, gleich zur Linken, unmittelbar hinter der Einmündung des Blankenburger Pflasterwegs: ein zweigeschossiges Wohngebäude mit großem Hof, an das sich das nächste Haus schmiegt, Brandmauer an Brandmauer.
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Aber ist dort auch noch die Erinnerung an den 21. April 1945 wach, als das Haus das wahrscheinlich erste in Berlin war, das von den Russen eingenommen wurde – besetzt, befreit, je nach Sichtweise? Der Befund ist nicht eindeutig. „Ja, das stimmt“, antwortet über die Haussprechanlage spontan eine Bewohnerin, verweist ansonsten auf ihren Mann, er wisse darüber besser Bescheid.
Der kommt zufällig gerade über die Straße, zu jung, um das historische Datum selbst erlebt zu haben. Immerhin haben seine Eltern damals hier gelebt, könnten ihm einiges erzählt haben. Aber wenn, dann ist die Erinnerung daran verblasst. Er wisse zwar von einem Onkel, der mit 16 Jahren verschleppt worden sein soll, erzählt der Mann, ansonsten könne er dazu nichts sagen.
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Zeitzeugen aus den letzten Kriegstagen zu finden, sei schwierig geworden in Malchow, hatte schon der Bäcker in seinem wenige Hundert Meter ortseinwärts gelegenen Laden gewarnt. Es gebe nur noch wenige Alteingesessene. Zwar ist er selbst einer, kann allerdings, 1943 geboren, nicht mit eigenem Erlebten aufwarten, sondern nur Bruchstücke aus Erzählungen der Eltern wiedergeben, über russische Einquartierungen, die zeitweilige Flucht mit der Mutter.
Aber trotz der offenbar immer unbestimmter, grauer werdenden Erinnerungen ist der 21. April 1945 im Gedächtnis des Dorfes doch noch sehr lebendig – weniger aber durch den eiligen Vorbeimarsch der Roten Armee als durch den kurz zuvor erfolgten Abmarsch der Wehrmacht.
Die Soldaten der Wehrmacht sprengten die Kirche
Nach der Erinnerung von Irene T. war es 10.30 Uhr, als deutsche Soldaten die mittelalterliche Dorfkirche sprengten, deren Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Der Turm schien den Tätern offenbar von militärischer Bedeutung, zugleich Orientierungspunkt und Ausguck bis weit hinein nach Berlin, und musste daher weg, ebenso wie die Kirchtürme der Nachbargemeinden in Wartenberg und Falkenberg.
Vielleicht stand dahinter aber, so sieht es Renate Kersten, Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinden Malchow-Wartenberg, die gegen Kriegsende betriebene Strategie der verbrannten Erde, wie sie Hitler einen Monat zuvor in seinem sogenannten „Nerobefehl“ angeordnet hatte.
Hitler hatte am Tag vor dem russischen Einmarsch im Bunker unter der Neuen Reichskanzlei seinen letzten Geburtstag begangen, am 21. April hielt Goebbels seine letzte Rundfunkansprache: Für die Verteidiger Berlins sei die „Stunde der Bewährung“ gekommen, mit allen Mitteln werde er die Verteidigung der Reichshauptstadt aktivieren, zum Sieg über den „Mongolensturm“.
Die beschworene Gefahr überstand Malchows Bausubstanz weitgehend unversehrt. Nur ein Haus sei von sowjetischen und polnischen Soldaten in Brand gesteckt worden, und zuvor bei Bombenangriffen auf eine Munitionsfabrik an der Wartenberger Straße seien vier Gebäude zerstört worden, erinnerte sich Irene T.
Ein Mahnmal erinnert an damals
Das Wahrzeichen des Ortes aber hatten deutsche Soldaten der Wehrmacht, nicht etwa der SS auf dem Gewissen, sagt Pfarrerin Renate Kersten – und zwar, wie schon von der Zeitzeugin erinnert, am 21. April, das beweise der Jahresbericht der damals in der Kirchengemeinde arbeitenden Diakonisse.
Vom Pfarrer sei kein Widerstand gegen die Sprengung seines Gotteshauses gekommen, er habe als strammer NS-Anhänger gegolten. Die an der Dorfstraße gelegene und vom Gemeindefriedhof umgebene Kirche wurde nicht wiederaufgebaut. Immerhin durfte die Gemeinde sich in den frühen fünfziger Jahren ein benachbartes Ersatzgebäude errichten, die einzige zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin errichtete Kirche, wie die Pfarrerin weiß. Nur sollte sie nicht wie eine Kirche aussehen, an einen Turm war nicht zu denken.
Das alte Gotteshaus blieb jahrzehntelang ein Schutthaufen, bis man sich vor fünf Jahren, anlässlich des bevorstehenden 70. Jahrestages des Kriegsendes, in der Gemeinde entschied, der Erinnerung wieder einen festeren Haltepunkt zu geben – zumal teilweise bereits geglaubt wurde, die Russen hätten die Kirche gesprengt.
Mithilfe des Dorfvereins „Wir für Malchow“ wurde ein Mauerrest restauriert und zu einem Mahnmal umgewandelt. „Ehre Gott – Friede auf Erden“ steht nun an der Wand, „2. Weltkrieg“ auf einem davor liegenden Findling.
Die verbliebenen Steine hat man in eiserne Gitterkästen gefüllt und damit den Umriss des Gotteshauses nachgezeichnet – eine Art „Cabriokirche“, wie die Pfarrerin scherzt. Dort findet jährlich am 21. April ein Gedenkgottesdienst statt, der coronabedingt erst wieder in einem Jahr gefeiert werden kann.
Dann dürfte die restaurierte Fensternische des Mauermahnmals auch eine Nachbildung der Bronzefigur eines Geistlichen zieren, die dort ursprünglich stand. Das Original ist seit zwei Jahren weg. Es wurde gestohlen.